Читать книгу Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten) - Katja Piel - Страница 23
Оглавление17. Kapitel
In den Wäldern bei Bedburg, Mai 1590
«Es wird ein Junge. Mütter spüren so etwas.»
Längst hatte Imagina den Zauberfrühling rund um ihr Heim in den echten übergehen lassen. Die Luft war frisch und angefüllt mit Blütenduft, und das Kind in Sibils Bauch strampelte fröhlich.
Sibil war schon lange nicht mehr beweglich. Ihre Pflichten in Haus und Garten hatte sie abgegeben. Rosa und Marcus sprangen für sie ein, und einen Teil der Arbeit erledigte auch der neue Schüler Mattis, der seit wenigen Wochen bei ihnen war. Er war ein nicht mehr ganz junger ehemaliger Ziegenhirte, der einem Werwolfangriff zum Opfer gefallen war, als er versucht hatte, seine Herde zu beschützen. Seinen Angreifer beschrieb er als einen untersetzten, schwarzhaarigen nackten Mann, der sich vor seinen Augen in eine Bestie verwandelt hatte. Sibil dachte an Utz und schauderte.
"Warum unternehmen wir nichts gegen sie?", fragte sie Imagina. "Warum dürfen sie ungestört im Wald hausen und ihren Fluch verbreiten?" Imagina seufzte. "Wir können wenig gegen sie ausrichten. Du weißt, dass wir sie nicht töten können, ohne selbst dem Fluch zu erliegen. Indem wir sie töten, stärken wir ihre Reihen und lichten die unseren... Deshalb haben wir uns darauf geeinigt, uns gegen sie zu schützen und zu versuchen, ihnen möglichst viele Neuankömmlinge abzujagen."
"Und die Menschen? Wenn man ihnen klar machen würde, wer sie mordet und ihr Vieh stiehlt - würden sie nicht mit Mistgabeln und Pflugscharen anrücken und die Wölfe niedermachen?"
"Wir haben alle einen Eid geschworen. Die Uneingeweihten sollen unwissend bleiben. Auch du hast diesen Eid geschworen, Sibil." Sibil nickte und verschränkte die Finger auf ihrem Bauch. Das Kleine trat heftig, als würde es den Unwillen der Mutter spüren.
Sibil erinnerte sich an ihren ersten Vollmond: Im Steinkreis auf der kleinen Insel hatte sie ihn erwartet, begleitet von Imagina, Rosa und Marcus, die ihr eine richtige Familie geworden waren. Als der Mond aufgegangen war, hatte Imagina alte, machtvolle Worte gesprochen, und Sibil war buchstäblich aus ihrer alten Haut geschlüpft. Sie hatte ihr neues Fell gespürt, ihre geschärften Sinne, das Gefühl, fest mit vier Pfoten auf der Erde zu stehen. Die enorme Sprungkraft, die in ihren Beinen lag. Es war die wunderbarste Nacht ihres Lebens gewesen. Auch Marcus hatte sich in einen Wolf verwandelt, und sie waren zusammen durch den Wald gerannt, hatten Kaninchen gejagt und waren schließlich am Fuß eines alten Baumes im Moos eingeschlafen. Seitdem fieberte Sibil den Vollmondnächten entgegen. Sie wusste, sie konnte sich auch zu anderen Zeiten verwandeln, aber Imagina hatte ihr eingeschärft, es nicht zu oft zu tun, damit das Kind in ihrem Bauch nicht überanstrengt wurde.
Marcus kümmerte sich liebevoll um sie. Er brachte ihr warme Milch und stopfte ihr eine Decke in den Rücken, wenn sie wieder nicht wusste, wie sie sich setzen sollte. Nachts schlief sie in seinen Armen, und sie hatten sich seit ihrem ersten Mal am Teich ungezählte Male geliebt. Marcus schien ihr dicker Bauch nicht zu stören, im Gegenteil, er berauschte sich an ihren praller werdenden Brüsten und üppigen Hüften. Manchmal war es fast, als wäre es sein Kind, was da in ihr heranwuchs.
Für eine Weile war ihr Verlangen unersättlich gewesen. Sie hatte ihn gar nicht oft genug in sich spüren können, und als es ihr unangenehm wurde, wenn er sich auf sie legte, fanden sie andere Möglichkeiten, sich zu vereinigen. Mittlerweile war sie ein wenig ruhiger geworden und lauschte öfter in sich hinein. Am liebsten hätte sie den ganzen Tag in Marcus' Armen liegend verbracht.
"Hast du schon einen Namen?", fragte er einmal, als sie zusammen im Gras lagen und der Sonne beim Untergehen zusahen. "Er soll Lentz heißen", sagte Sibil. "Wie der ewige Frühling." Marcus lächelte. "Und wenn es ein Mädchen wird?"
"Es wird ein Junge. Da bin ich mir ganz sicher. Mütter spüren so etwas."
"Also, Lentz", sagte Marcus und küsste Sibils prallen Bauch. "Ich freue mich schon auf dich."
In den folgenden Wochen beobachtete Marcus seine Sibil oft. Sie war nicht mehr ganz so anschmiegsam und suchte zunehmend den kühlen Schatten unter den Bäumen. Sie schien viel in sich hineinzulauschen. Ihr Bauch war so groß, dass sie sich nur noch schwerfällig bewegen konnte. Sie ließ ihn nicht mehr zwischen ihre Schenkel. Er konnte das verstehen und übte sich in Geduld, obwohl er oft in unbeobachteten Augenblicken sein Geschlecht rieb, bis das Gefühl ihn überkam, und dabei an seine schlanke, wilde, nackte Sibil dachte. Diese Zeiten würden wiederkommen. Er musste nur warten.
"Wann kommt das Kind?", fragte er Imagina, doch die lächelte nur. "Das weiß niemand, Junge. Hab Geduld." Und so sehr sie alle darauf gewartet hatten, so überraschend war es dann doch, als Sibil beim Abendessen plötzlich den Löffel fallen ließ, ihren Blick nach innen kehrte und die Hände in den Rücken presste. "Aua!"
"Was hast du?", fragte Imagina sofort. "Rückenschmerzen. Es zieht... ganz merkwürdig... aah..." Sibil beugte sich vornüber. Rosa zog ihr die Schüssel weg und stützte sie, während Sibil sich stöhnend an Rosas Arm klammerte.
"Wehen", sagte Imagina ruhig. "Es geht los." Wie betäubt lehnte sich Marcus auf seinem Stuhl nach hinten und beobachtete, wie die Frauen zu arbeiten begannen. Rosa ging frisches Wasser holen, während Imagina die Bettstatt in der kleinen Schlafkammer mit frischen Tüchern bezog. Wasser wurde erhitzt und ein Sud aus Kräutern hergestellt, während Sibil in der Stube auf und ab ging, immer wieder stehenblieb und sich stöhnend krümmte.
"Willst du dich hinlegen?", bot Marcus an, doch sie wehrte ab. "Ich muss mich bewegen." Marcus verstand nicht, warum, aber er ließ sie gewähren. Sie schien angespannt, aber nicht sonderlich verängstigt, und auch ihn selbst beruhigte die gelassene Art, mit der Imagina ihre Vorbereitungen traf.
Die Stunden zogen sich. Draußen war es längst dunkel. Sibil legte sich hin, stand wieder auf, lief in der Stube herum, ging auf alle Viere und ließ sich von Rosa stützen, während Imagina ihren Bauch abtastete. Immer wieder stöhnte und schrie sie, dass es Marcus das Herz zerriss.
Irgendwann wies Imagina ihm die Tür. "Männer haben jetzt nichts mehr hier zu suchen. Geh hinaus, sieh nach Mattis. Bleib weg, bis ich dich rufe." Marcus gehorchte. Hinter ihm schrie Sibil. Er zog die Tür hinter sich zu und rannte in die Nacht.
Mattis hatte einige seiner Ziegen mit in sein neues Leben gebracht. Er schlief gerne draußen bei ihnen. Marcus ging dem Schein seines kleinen Feuers nach und fand ihn auf einer kleinen Lichtung in der Nähe des Hauses. Er setzte sich zu Mattis und versuchte, sich mit belanglosen Gesprächen abzulenken, doch seine Gedanken waren ständig bei Sibil.
"Mach dir keine Sorgen", sagte Mattis irgendwann. "Sie ist jung und gesund. Bei den Frauen dauert es länger als bei den Ziegen, aber sie wird es schon schaffen." Nach einer Zeit, die ihm ewig vorkam, ging Marcus zurück zum Haus, doch die Tür war verschlossen und die Fensterläden zugezogen. Niemand machte ihm auf, und von innen waren nur gedämpfte Stimmen und leises Wimmern zu hören. Marcus ging zurück zu Mattis und wartete weiter. Er musste schließlich doch eingeschlafen sein, jedenfalls schrak er hoch, als Mattis ihn an der Schulter rüttelte. "Komm mit", sagte Mattis. Marcus sprang auf die Beine und rannte zum Haus. Vor der Tür stand Rosa mit verweinten Augen.
"Was ist los?", rief Marcus. "Was ist mit dem Kind?"
"Dem Kind geht es gut", schluchzte Rosa. "Aber Sibil... sie ist..." Marcus stürmte an Rosa vorbei ins Haus. Mit wenigen Schritten hatte er die Stube durchmessen und stand im Schlafraum. Imagina kam ihm entgegen, doch er stieß sie zur Seite. Auf dem Bett lag Sibil. Weiß, regungslos. Überall war Blut. Auf dem Boden, auf den weißen Laken, auf ihrer weißen Haut. Ihr Gesicht war regungslos. Sie atmete nicht.
"Sie ist gestorben", sagte Imagina leise. "Wir konnten nichts tun. Sie ist verblutet."
"Aber warum...?", fragte Marcus völlig betäubt. "Ich weiß es nicht", flüsterte Imagina. "Die Geburt war lang und schwer, aber sie hatte alles schon gut überstanden. Dann ging die Nachgeburt ab, und sie hat nicht aufgehört zu bluten."
Marcus heulte auf und schlug sich mit den Fäusten gegen die Stirn. Imagina ging still hinaus, in den Armen ein kleines, in Tücher gewickeltes Bündel.
"Wir brauchen Ziegenmilch", hörte er sie sagen. "Lauf zu Mattis. Er soll welche melken." Marcus stand und sah auf Sibil hinunter. Sein kleines, wildes, lustiges Ding. Seine Geliebte, seine Frau, deren Balg er so geliebt hatte, als wäre es sein eigenes. Eine Familie hatten sie sein wollen. Jetzt war sie gegangen und hatte ihn allein zurückgelassen. Das Balg hatte sie gefressen. Es lebte, und Sibil war tot.
Er drehte sich um und ging hinüber zu Imagina. Sie schlug die Tücher beiseite und zeigte ihm ein kleines, rotes, blutverschmiertes, zerknittertes Gesichtchen.
"Sibils Tochter", sagte sie leise. "Willst du ihr einen Namen geben?"
"Sie wollte keine Tochter. Sie wollte einen Sohn. Er sollte Lentz heißen."
"Nun ist sie hier, die Kleine, und verdient einen schönen Namen."
"Und was ist mit Sibil? Warum ist sie nicht hier? Warum ist sie tot? Warum hat das Balg überlebt? Sie wollte es nicht! Es ist aus Unzucht entstanden!"
"Sie hat es geliebt", sagte Imagina. "Und auf deine vielen Fragen habe ich keine Antwort. Der Herr gibt, und der Herr nimmt wieder. Uns hat er Sibil genommen, aber das kleine Würmchen hiergelassen. Wir müssen sie behüten und aufziehen."
"Das Balg ist schuld!"
"Das Kind ist an gar nichts schuld, Marcus. Es ist kaum eine Stunde alt. Es ist das unschuldigste Wesen weit und breit. Und sie soll in Liebe aufwachsen. Auch du wirst lernen, sie zu lieben." Marcus starrte auf das Kind hinunter, das winzige Wesen, das ihm seine Liebste genommen hatte. Er wusste, das Kind konnte nichts dafür, aber trotzdem spürte er nur Hass in sich.
"Lasst mich in Ruhe", schrie er. "Lasst mich alle allein!" Er rannte an Rosa vorbei, die mit einer Schale Milch ins Haus kam, und schlug sich ins Unterholz. "Wir werden ihn verlieren", sagte Imagina ruhig. "Hast du die Milch? Gut." Sie tauchte den Finger in die Schale, die Rosa ihr hinhielt, und strich über das winzige Mündchen des Kindes. Sofort öffneten sich die Lippen, und die Kleine begann, begierig zu saugen. "Hat sie schon einen Namen?", fragte Rosa mit tränenerstickter Stimme. "Nein. Weißt du einen schönen?"
"Meine Mutter hieß Anna. Sie hat mich sehr geliebt. So, wie Sibil die Kleine geliebt hätte, wenn sie... wenn sie..."
"Dann ist es beschlossen", sagte Imagina. "Kleine Erdenbürgerin, du sollst Anna heißen."