Читать книгу Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten) - Katja Piel - Страница 31
Оглавление25. Kapitel
In den Wäldern bei Bedburg, rund um den Mondlichtsee
«Als ich dich zuletzt sah, warst du noch ein Baby.»
Im Wasser bewegten sich dunkle Schatten. Sie glitten unter der Oberfläche entlang und verursachten kaum ein Kräuseln des Wassers.
"Verdammt", sagte Tamus. "Da sind sie. Habe ich es euch nicht gesagt!"
"Du hast es gesagt, aber Zwielicht ist Zwielicht", entgegnete Imagina ruhig. "Es lässt sich nicht verschieben. Anna, du bleibst in unsere Mitte. Egal, was passiert. Hast du mich verstanden?" Anna, immer noch in ihrer Wolfsform, hob den Kopf und sah Imagina in die Augen. Einstweilen stellte Rosa den Kelch ab und fügte sich wieder in den Kreis ein. Alle nahmen sich wieder bei den Händen. Imagina begann zu summen, und die anderen stimmten ein.
Langsam drehte Anna sich um sich selbst, um einen Überblick nach allen Seiten zu bekommen. Eine erste Gestalt verließ das Wasser und zog sich auf den grasigen Uferstreifen. Es war eine grausige Kreatur, halb Wolf, halb Mensch, mit langen Armen und muskulösen Hinterläufen, die einen pelzigen, verkrümmten Leib trugen. Spitze Ohren standen von dem massigen Schädel ab, und von den langen Reißzähnen tropfte der Geifer. Die Augen des Monsters leuchteten grün.
Anna wich zurück. Die Bestie war nur wenige Schritte von ihr entfernt. Beinahe hatte sie schon den Steinkreis erreicht. Das Summen der Wächter schwoll an. Plötzlich erwachte ein schwaches Leuchten in den Steinen. Es schwoll an wie Wasser nach einem Frühlingsgewitter, dann brach es aus den Steinen hervor und verband sich zu einem leuchtenden Kreis. Funken sprühten und schlugen auf die Wächter, die sich innerhalb des Steinkreises an den Händen hielten. Ein Leuchten geisterte über ihre Haare und Schultern, kroch ihnen die Arme herab und sprang vom einen zum anderen, bis alle Wächter in eine blendend helle goldene Aura gehüllt waren.
Anna bemerkte, wie sie hechelte. Ihre Läufe zuckten. Sie wollte rennen, aber außerhalb des Lichtkreises lauerte das Böse. Sie duckte sich und knurrte. Ihr war nicht ganz klar, wie sie wieder in ihre menschliche Gestalt zurückfinden sollte.
An den Außenrändern des Lichtkreises sammelten sich immer mehr Werwölfe in verschiedenen Stadien der Verwandlung. Sie rannten hin und her und knurrten furchterregend.
Plötzlich durchdrang eine Gestalt das Leuchten und betrat den Kreis. Es war ein großer, schlanker Mann mit blonden Locken. Sein nackter Körper zeigte keine Anzeichen einer Verwandlung. Obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte, spürte Anna eine Verbindung zu diesem Mann.
"Kleine Anna", sagte er. "So groß bist du schon geworden. Als ich dich zuletzt sah, warst du noch ein Baby." Anna knurrte den Fremden an. Er führte nichts Gutes im Schilde, dessen war sie sicher.
"Ich kannte deine Mutter gut", sagte der Fremde sanft. "Wir waren ein Liebespaar bis zu deiner Geburt. Bis sie starb. Komm mit mir. Ich kann dir viel über deine Mutter erzählen."
"Lass sie in Ruhe, Marcus", sagte Imagina scharf. "Sie kann nichts dafür."
"Aber ich tue doch gar nichts." Marcus hob mit einer unschuldigen Geste die Hände. "Ich möchte nur mit ihr reden."
"Und deshalb hast du dein ganzes Rudel mitgebracht?", fragte Tamus scharf.
Marcus lächelte. "Ich wusste, dass ihr mich nicht willkommen heißen würdet. Einmal verstoßen, immer verstoßen."
"Wir haben dich nicht verstoßen. Du hast deinen Weg gewählt", sagte Imagina. "Und nun verschwinde. Du weißt, du kannst ihr in diesem Kreis nichts Böses tun."
Marcus' Lächeln verwandelte sich in ein Zähnefletschen. "Nicht, so lange ihr lebt." Er reckte einen Arm in die Luft, und um Anna herum brach die Hölle los. Brüllend und kreischend wie eine Horde Teufel stürzten sich die Kreaturen auf die Wächter. Viele prallten an dem goldenen Leuchten regelrecht ab, aber zwischen Mattis und Eleonora schaffte einer den Durchbruch in den Kreis. Er stürzte sich auf Mattis. Blitzartig verlor Mattis seine menschliche Form und verwandelte sich in einen großen, schweren Wolf. Er tauchte unter seinem Angreifer durch, wirbelte herum und sprang ihn an. Schwer krachten die Körper aufeinander und gingen miteinander zu Boden. Ehe Eleonora und Astra den Kreis wieder schließen konnten, drangen weitere Bestien ins Innere. Anna spürte, wie ihr Nackenfell sich sträubte. Aus ihrer Kehle drang ein drohendes Knurren. Bilder flackerte durch ihren Geist - Zähne, die sich in Fell senkten und es aufrissen, Blut, das über ein weißes Raubtiergebiss sprudelte. Sie begriff, dass sie der Wölfin die Leitung überlassen musste. Anna schnellte einem der Angreifer entgegen und warf ihn zu Boden. Eine große Wölfin mit rötlichem Fell kam ihr zu Hilfe, biss den Angreifer in den Nacken und schüttelte ihn, bis er jaulte. Rund um Anna tobte ein erbitterter Kampf. Nur Imagina und Mattis hatten ihre menschliche Form aufgegeben. Die anderen versuchten, das goldene Leuchten aufrecht zu halten, das immerhin die meisten Angreifer auf Abstand hielt.
Du musst gehen, hörte Anna eine Stimme in ihrem Kopf. Geh. Wir können sie nicht ewig draußen halten. Viel Glück, Kleines.
Nein!, wehrte sich Anna. Ich gehöre zu euch! Ich habe mich noch gar nicht richtig verabschiedet...
Imagina wandte den Blick ab und fixierte Rosa. Diese löste sich aus dem Lichtkreis und kam in die Mitte. Gleichzeitig verwandelte sie sich in eine zierliche, helle Wölfin. Hinter ihr drängte eine Bestie durch die Lücke, doch Ruperto setzte einen gezielten Kinnhaken, der den Angreifer zurück in die Dunkelheit schleuderte.
Rosa baute sich vor Anna auf und schob sie in Richtung Ufer. Anna sträubte sich. Schwach empfing sie Rosas Gedanken:
Bitte. Wenn du uns liebst, dann geh. Renne, bis du nicht mehr kannst, Sieh dich nicht um.
Aber...Wir treffen uns in einem anderen Leben wieder. Geh!
Rosa rammte ihren Kopf in Annas Seite und schob sie vorwärts. Anna tauchte in das goldene Glühen ein, das ihr wie ein prickelnder Schauer über das Fell strich. Dann war sie plötzlich auf der anderen Seite des Glühens. Im Kreis tobte immer noch ein Kampf. Anna machte einen Schritt rückwärts. Ihre Hinterpfoten traten ins Wasser. Im gleichen Augenblick durchschritt eine andere Gestalt auf zwei Beinen das Leuchten. Es war Marcus.
"Aber wo willst du denn hin, Anna?" Sie knurrte ihn an. Dann sprang Rosa aus den Schatten auf Marcus und warf ihn um. Mit einem Aufschrei ging er zu Boden. Rosa sprang auf ihn und grub ihre Zähne in seine Schulter. Rotes Blut strömte über seine weiße Haut, und er schrie.
Lauf!, hörte Anna Rosas Stimme. Lauf!
Anna sprang ins Wasser und begann zu paddeln. Der See wurde schnell tief. Sie hatte noch keine weite Strecke zurückgelegt, als sie ein erbärmliches Jaulen hörte. Sie drehte sich um. Marcus hatte Rosa abgeschüttelt und kniete nun über ihr. Rosa schrie. Lauf, Anna, lauf!
Die Stimme in Annas Kopf wurde schwächer. Die Wölfin konnte nicht weinen. Sie drehte sich um und paddelte auf den stillen Wald zu, der den See umrahmte. Rosas Stimme in Annas Kopf war verstummt. Sie kam ans Ufer und schüttelte sich Wasser aus dem Pelz. Von der Insel drang Kampflärm und der Gestank von verbranntem Fell. Sie lauschte und konnte alle Stimmen zuordnen - nur die von Rosa fehlte. Ein leises Plätschern erregte ihre Aufmerksamkeit. Gleichzeitig erreichte ein dünner Geruchsfaden ihre empfindliche Nase. Eine der Bestien verfolgte sie! Anna stürzte sich in den schwarzen Wald und rannte. Sie hielt erst inne, als sie nicht mehr konnte. Völlig erschöpft brach sie auf einem Moospolster zusammen. Wie von selbst glitt die Wolfsgestalt von ihr ab und ließ sie nackt, schutzlos und zitternd zurück. Dann kamen die Tränen, und sie weinte, bis sie meinte, vor Erschöpfung sterben zu müssen.
Erstes Tageslicht sickerte durch die Bäume, als sie sich aufsetzte und sich umsah. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Ihr war klar, dass sie für eine lange Zeit nicht zurückkonnte. Wenn sie sich in Imaginas Nähe wagte, würde sie Marcus und sein Rudel anlocken.
Anna wischte sich mit dem Arm übers Gesicht.
Heute begann ihr neues Leben. Es hätte mit einem liebevollen Abschied beginnen sollen, mit guten Ratschlägen für die Welt da draußen und dem Versprechen, heute in einem Jahr zurückzukommen. Sie hätte ein widerstandsfähiges Gewand bekommen, ein paar Taler und das Nötigste zum Leben. So hatte sie nichts. Sie war nackt und gewaltsam von ihrer Familie getrennt worden.
Mühsam kam Anna auf die Füße. Ihre Fußsohlen waren wund gelaufen und sie hinkte, als sie weiterging. Die Wölfin hatte vorhin einen schwachen Geruch nach Herdfeuer wahrgenommen, der aus Richtung Westen kam.
Es stimmte nicht, dass sie nichts hatte. Sie hatte Imaginas Wissen und ihre Erfahrung, ihre Ratschläge und ihre Liebe. Und sie hatte Rosas aufopferungsvolle Tat. Sie musste ein gutes Leben führen, um sich würdig zu erweisen. Es begann nur etwas holperig, dieses neue Leben.
Am Vormittag erreichte sie den Waldrand und sah vor sich in einer Senke ein kleines Dorf liegen. Sie humpelte auf das nächste Haus zu. Dem Mann, der gerade seinen Garten umgrub, blieb der Mund offen stehen, als sie auf ihn zu trat.
"Ich wurde im Wald von Räubern überfallen", schluchzte sie. "Sie haben mir alles genommen und mir nur mein Leben gelassen! Seid ein guter Christenmensch und helft mir in meiner Not..."