Читать книгу Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten) - Katja Piel - Страница 32

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26. Kapitel

Herbst 2012, Frankfurt am Main

«Hallo, Aysha. Salam aleikum.»

Diesmal kam nicht der Bestatter, sondern der Lieferwagen eines Frankfurter Küchenstudios. Früh am nächsten Morgen wurde ich verladen und im rückwärtigen, fensterlosen Teil des Ford Transit durch die Gegend geschaukelt. Der Abschied von Katja war kurz, aber herzlich ausgefallen, und sie hatte mir ein baldiges Wiedersehen versprochen.

Ich kannte die Frankfurter Gegend nicht, in der meine Fahrt zu Ende war. Hohe, schmutzige Häuser, kein Fleckchen Grün. Mein Begleiter, stilvoll in der roten Latzhose des Küchenstudios, führte mich an einer Reihe überquellender Mülltonnen vorbei zum Eingangsbereich eines Plattenbaus. Er klingelte bei Scherer und wartete.

"Küchenstudio Roland", trompetete er fröhlich auf die gekrächzte Frage aus der Gegensprechanlage. Der Türöffner summte, und wir traten ein. Mit dem Lift, in dem alte Kochdünste hingen, rumpelten wir bis in den zwölften Stock. Dort empfing mich eine vertraute Gestalt an einer Wohnungstür: Andreas Koch.

"Kommen Sie rein", sagte er und schob mich ins Innere. Während er einige Worte mit dem Latzhosenmann wechselte, sah ich mich um. Die Wohnung war winzig und nur mit dem Nötigsten möbliert. Eine weitere Frau war anwesend, die gerade an einem Tisch eine Menge Schönheitsutensilien auspackte: Schminke, Schere, Tuben und Flaschen.

"Hi", sagte sie und lächelte ansteckend. "Ich bin Lisa. Ich hoffe, du hängst nicht an deinen Haaren?"

"Wie soll ich das verstehen?"

"Wir werden dich komplett umstylen. Wenn du rausgehst, darf niemand dich erkennen."

"Gehe ich denn raus?"

"Andreas erklärt dir gleich alles Nötige. Die Idee ist, dass du dich nicht mehr an einem Ort versteckst, sondern ständig wechselst. Das wird es schwieriger machen, dich aufzuspüren." Ein wenig erschlagen ließ ich mich auf einen Stuhl plumpsen. Mehr als alles wünschte ich mir, wieder selbst über mein Leben bestimmen zu können.

Es dauerte ein paar Stunden, dann war von der alten, blonden Anna nichts mehr übrig. Meine Wallemähne fiel der Schere zum Opfer und wurde durch einen frechen, wuscheligen Kurzhaarschnitt ersetzt. Während Selbstbräuner in meine Haut einzog, färbte Lisa meine Haare dunkelbraun und vergaß dabei auch Wimpern und Augenbrauen nicht. In einem Döschen bewahrte sie dunkle Kontaktlinsen auf und zeigte mir, wie man damit umging. Was mich jedoch am meisten veränderte, bewahrte sie in einer kleinen Schachtel auf: Es war ein Stück künstliche Nase, aus hauchdünnem Silikon, das mit Hautkleber auf meiner eigenen angebracht wurde. Sie klebte es an und kaschierte die Ränder mit Make-Up. Auch künstliche Piercings wurden mir an Nasenflügel und Augenbrauen geklebt. Danach durfte ich in den Spiegel sehen.

Eine herbe, etwas androgyne Frau sah mich an, sehr hübsch, auf eine südländische oder türkische Art, und mir selbst nicht im Geringsten ähnlich. Meine weiche Stupsnase war einem schmalen, scharfen Profil gewichen, und meine Augen waren braun wie Schokolade.

"Hallo, Aysha", sagte ich überrascht. "Salam aleikum."

"Sprichst du Türkisch?", erkundigte sich Lisa. "Ein paar Brocken. Jedenfalls genug, um bei Deutschen als Türkin durchzugehen."

"Soll ich dir noch ein Kopftuch besorgen?"

"Nein. Wäre doch schade um den schönen Haarschnitt." Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und Andreas Koch kam zurück, der die Wohnung zwischenzeitlich verlassen hatte.

"Verblüffend", sagte er und musterte mich. "Ich würde auf der Straße einfach an Ihnen vorbei gehen. Ganze Arbeit, Lisa. Und, Anna, wie fühlen Sie sich?"

"Wie Aysha", sagte ich und grinste schief. "Die alte Anna gibt es ja nicht mehr."

"Wir haben Nachricht von Adam", sagte Andreas Koch.

"Adam...?""

Der Werwolf, der sich so überraschend auf unsere Seite geschlagen hat. Sie erinnern sich?"

"Dunkel. Ich war sehr mit dem Pfefferspray in meinen Augen beschäftigt."

"Er hatte uns angeboten, sich unter den Werwölfen umzuhören, wohin man Alexa gebracht haben könnte, und uns dann Bescheid zu geben."

"Und? Wohin?"

"Er weiß es noch nicht. Er hat eine SMS geschickt, er sei nun wieder im Rudel."

"Aber Marcus..."

"Natürlich nicht in Marcus' Rudel. Adam hat ein eigenes."

"Ach so. Wann wird er sich wieder melden?"

"Wir hoffen, sehr bald. Innerhalb der nächsten Stunden. Sie werden eine Forderung überbringen wollen." Die Angst um Alexa drückte mich wie ein harter, stacheliger Klumpen.

"Wir werden alles für sie tun", versprach Andreas Koch. "Keine Frage. Einstweilen zu Ihnen..." Er zog ein Handy aus der Tasche und gab es mir, dazu einen Zettel mit einem Zahlencode. "Wir werden Ihnen SMS auf dieses Handy schicken", erklärte er. "Wir verschlüsseln sie, und zwar jeden Tag nach einem anderen Prinzip. Heute gilt die Drei. Das heißt, für jedes A lesen Sie ein D, für jedes Q ein T, und so weiter. Morgen gilt dann die Acht, übermorgen die Fünf. Prinzip verstanden?"

"Ja."

"Prägen Sie sich den Code ein und vernichten Sie den Zettel. Wir werden Ihnen Adressen schicken, bei denen Sie sich einfinden werden. Benutzen Sie die öffentlichen Verkehrsmittel. Kein Taxi. Fahren Sie am besten zur Rush Hour. Alle nötigen Informationen, zum Beispiel, wo Sie am Zielort klingeln sollen, erfahren Sie in der SMS. Sie bestätigen bitte jede SMS, indem Sie ein Okay zurückschicken. Nicht mehr. Alles verstanden?"

"Natürlich. Und wie lange...?"

"Wir fertigen Ihnen falsche Papiere an, so schnell es geht. Dann bringen wir Sie außer Landes. Irgendwelche Vorlieben?"

"Thailand wäre cool."

"Also, dann Thailand." Mir ging immer noch alles viel zu schnell. Vielleicht lag ich in ein paar Tagen schon unter Palmen an einem Strand? Wer wusste das schon. Vielleicht lag ich auch in ein paar Tagen unter altem Blattwerk verscharrt im Taunus.

Andreas Koch und Lisa verabschiedeten sich und ließen mich allein. Ich freundete mich vor dem Spiegel mit meinem neuen Aussehen an, übte Deutsch mit türkischem Akzent, sah aus dem Fenster und zappte durch das Programm auf dem winzigen Fernseher.

Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich war es draußen dunkel. Im Fernsehen lief eine Kochshow, und das Handy in meiner Tasche brummte und vibrierte. Eine SMS. Ich drückte mit zittrigen Händen den Knopf.

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Fünf Minuten später hatte ich die Adresse. Ich warf mir meine Jacke über, schaltete Licht und Fernseher aus und zog die Tür hinter mir zu. Ich beschloss, erst einmal zu einem U-Bahn-Knotenpunkt zu fahren. Irgendwohin, wo viele Menschen waren - und ein Stadtplan, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich in die Schleierstraße kommen sollte.

Frankfurt-Messe war mir am nächsten. Ich löste ein Ticket und ging die Stufen zum Bahnsteig hinunter. Es war kurz nach sechs, und eine Handvoll Menschen wartete auf die U-Bahn. Für einen Augenblick fühlte ich mich unsichtbar: Niemand sah verstohlen in meine Richtung. Männer pfiffen nicht, Frauen taxierten mich nicht. Die Blondine war Geschichte, und burschikose Brünette erregten kein Aufsehen. Eigentlich erleichternd, und es sprach für Lisas Geschick bei meiner Verwandlung, aber ich wusste jetzt schon, dass ich mein Leben als umwerfende Blondine vermissen würde.

Die U-Bahn kam und hielt mit kreischenden Bremsen. Ich stieg ein und musterte meine Mitreisenden verstohlen. Saß nicht doch irgendwo ein Werwolf? War man mir schon auf der Spur? Ich konzentrierte mich auf meinen Geruchssinn, doch außer dem typischen U-Bahn-Staub, altem Schweiß und süßem Deo lag nichts in der Luft.

An der Haltestelle Messe war deutlich mehr los. Ströme von Pendlern drängten sich die Treppen hinauf und hinunter und verstopften die Rolltreppe. Ich arbeitete mich nach oben in die Halle durch und fand erst einmal heraus, wie ich fahren musste, um mein Ziel zu erreichen. Hier, umgeben von Menschen, fühlte ich mich etwas sicherer. Meine Geruchsspur wurde besser zerstreut, und ich konnte in der Menge untertauchen, wenn jemand mir verdächtig erschien. Was zunächst nicht passierte. Ich fuhr bis zum Hauptbahnhof und von dort aus weiter Richtung Hanau. An einer riesigen Kreuzung kam ich wieder aus dem unterirdischen Labyrinth, orientierte mich kurz und schwenkte dann in eine lange Straße ein, die von Autohändlern, Videotheken und Schnellrestaurants gesäumt war. Dann ging es rechts in die Schleierstraße. Die Hausnummer Neun war ein Flachbau, der einen Teppichdiscounter beherbergte. Nach kurzem Suchen fand ich den Weg ums Haus herum, und dort waren tatsächlich Klingeln.

Bei Bergers empfing mich - Sam. Ich fiel ihm in die Arme, und wir hielten uns eine Weile einfach nur fest.

"Schick siehst du aus", flüsterte er mir ins Ohr. "Hast du auch einen Namen?"

"Aysha."

"Also sollen wir dir eine türkische Staatsbürgerschaft in deinen neuen Pass reinschreiben?"

"Lieber nicht. Dafür ist mein Türkisch nicht fließend genug." Er hielt mich auf Armeslänge von sich entfernt und sah mich an. "Verblüffend. Du siehst dir selbst überhaupt nicht mehr ähnlich. Was ist mit deiner Nase?"

"Silikonkissen. Für eine Schönheits-OP war keine Zeit." Er lächelte flüchtig und schob mich in den kleinen Raum.

"Das ist Hermann", stellte er mir den etwas bierbäuchigen Mittfünfziger vor, der mit Licht und Kamera werkelte.

"Er wird die Fotos für deine neuen Papiere machen. Danach kannst du erst mal hierbleiben, bis wir einen anderen Ort für dich gefunden haben."

"Tach", sagte Hermann. "Bitte auf den Stuhl unter die Lampe. Blick gerade, Mund geschlossen. Soll nicht hübsch sein, soll isometrisch sein." Ich tat wie mir geheißen, und er knipste drauflos. Er hatte ein Profigerät, so viel erkannte ich durch meine Ausflüge ins Modelbusiness.

Ich fragte mich, ob er hier wohnte, und ob ich wirklich hier in seiner Gesellschaft bleiben musste. Aber Ansprüche hatte ich wohl nicht zu stellen, in meiner Lage. Hermann war gerade fertig mit mir, als Sams Handy einen Piepton von sich gab. Er riss es aus der Hosentasche und starrte darauf.

"Ich muss los", sagte er, plötzlich in höchster Aufregung.

"Was ist? Wohin?"

"Eine Nachricht abholen. Ich habe einen Hinweis bekommen, dass sie hinterlegt wurde."

"Mach's einfach noch geheimnisvoller!"

Er seufzte. "Es geht um Alexa."

"Und dein Vater..."

"Es hat mit meinem Vater nichts zu tun. Ich weiß, wo die Nachrichten hinterlegt werden. Ich habe selbst immer mal wieder eine abgeholt, im Auftrag des Ordens. Jetzt habe ich jemanden beauftragt, die Kontaktstelle unauffällig zu beobachten... weil ich sofort diese Nachricht haben will!"

"Und von wem ist sie?"

"Wenn alles gut geht, von Adam. Und wenn alles noch besser geht, steht drin, wohin sie Alexa gebracht haben. Also, Anna - Aysha - ich muss los."

"Ich komme mit."

"Was? Nein!"

Ich baute mich vor ihm auf." Versuch, mich daran zu hindern. Wenn es um Alexa geht, ist es auch meine Sache." Er seufzte und nickte. "Morgen früh könnt ihr den Reisepass abholen", sagte Hermann. "Ist mir egal wer. Bringt nur einfach das Geld mit."

"Super", sagte Sam. "Danke. Machen wir."

Er hatte seinen klapprigen Golf um die Ecke geparkt. Nach einer halsbrecherischen Fahrt über diverse Stadtautobahnen hielten wir zu meinem Erstaunen auf dem Uni-Parkplatz. Sam stieg aus und zog mich hinter sich her zum Informatik-Gebäude. Der Campus war hell erleuchtet. In einigen Seminarräumen fanden noch späte Veranstaltungen statt. Auch durch die großen Fenster der Bibliothek sah ich Studenten über ihren Laptops brüten. Sam stieß die Tür auf und hetzte in das Gebäude. Die paar Stufen zu den Vorlesungsräumen nahm er mit wenigen Schritten. Vor dem kaputten Getränkeautomaten blieb er stehen und ging in die Knie. Gleich darauf hatte er seinen Arm bis zur Schulter im Ausgabeschacht versenkt.

"Das ist nicht dein Ernst", sagte ich verblüfft. "Kaputt ist er trotzdem", sagte Sam. "Und man kommt kostenlos an Getränke. Aber das ist nur ein Nebeneffekt..." Er zog den Arm zurück und richtete sich auf. In der Hand hielt er eine kleine Kapsel, ähnlich den Adressanhängern, die man bei Hunden am Halsband befestigen konnte. Er schraubte die zwei Hälften auseinander und fischte einen kleinen Zettel heraus.

Auf ihm stand ein einziges Wort.

LONDON

Ich sah, wie Sams Hände zitterten. "Also dann", sagte er. "Auf nach London. Ich nehme den nächsten Flug."

"Falsch", widersprach ich. "Wir nehmen den nächsten Flug."

"Aber..."

"Nicht schon wieder diese Diskussion!"

"Mein Vater wird ausflippen."

"Das wird er sowieso, wenn er erfährt, dass du die Nachricht abgefangen hast."

Sam nickte. "Wir rufen ihn vom Flughafen an", schlug ich vor. "Er soll mit uns kommen. Wir können jemanden mit guten Kontakten wirklich brauchen."

"Gut."

Wir sahen uns an, dann fielen wir uns in die Arme. Wir hielten uns so fest, dass es schmerzte.

Wenn Alexa noch lebte, mussten wir sie retten. Und wenn sie nicht mehr lebte, mussten wir dafür sorgen, dass Marcus bitter bezahlte.

Und bezahlen würde ich ihn lassen.

Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten)

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