Читать книгу Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten) - Katja Piel - Страница 25
Оглавление19. Kapitel
In den Wäldern bei Bedburg, Sommer 1590
«Du wirst ein prächtiger Werwolf werden. Einer der besten.»
Die Verzweiflung verging und wich einer Leere, die beinahe noch schwerer zu ertragen war. Marcus kam seinen Pflichten nach, er aß, schlief und sprach mit den anderen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ein neuer junger Wandler kam dazu und nahm Sibils Platz am Tisch ein, ein schmaler, halbwüchsiger Junge, der Raffaelus' Rudel nur knapp und mit schweren Verletzungen entkommen war. Sein Name war Hinz, und Marcus hasste ihn allein dafür, dass er dort saß, wo Sibil gesessen hatte. Hass war überhaupt das einzige, was er noch spürte. Sie hatten Sibil am Teich begraben, unter den Zweigen einer Trauerweide, die herabhingen wie ein zarter Schleier. Dort erinnerte lediglich ein moosiger Stein daran, dass unter ihm die Gebeine der Frau vermoderten, die Marcus' Tage und Nächte mit ihrem Lachen und ihren Küssen gefüllt hatte.
Die kleine Anna schrie und schrie. Einzig, wenn eine der Frauen sie sich mit einem Tuch vor die Brust band und sie herumtrug, wurde sie ruhig. Sie trank Ziegenmilch und wurde größer. Die Falten verschwanden aus ihrem Gesicht. Sie hatte strahlend blaue Augen und zarte blonde Haare, und Marcus konnte die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter in ihren Zügen sehen.
Imagina erklärte ihm, dass die Kleine die Fähigkeit zu wandeln in sich trug, dass sie aber erst vom Kind zur Frau werden musste, bevor die erste Wandlung einsetzte. Ein Ritual würde sie durch diesen Prozess begleiten und sie auf die Lebensweise der Wandler einschwören. Marcus hörte nicht zu. Anna war das einzige, was ihm von Sibil geblieben war, aber wenn er sie ansah, spürte er die Leere umso mehr. Er vermied es, in der Gegenwart des Säuglings zu sein, und nachdem die Frauen sich um kaum etwas anderes kümmerten als Anna, vermied er die Gesellschaft der Frauen.
Er verbrachte viel Zeit im Wald und legte in Wolfsgestalt weite Strecken zurück. Das Rennen tat ihm gut. Der Wolf dachte nicht nach, er handelte nach Instinkt und ließ sich von den Gerüchen und Geräuschen des Waldes überfluten. Dass er sich veränderte, spürte er selbst, als er eines Abends aus der Wolfsgestalt kam und neben sich ein totes Reh fand. Der Kadaver war zerfleischt, aber der Wolf hatte nichts davon gefressen. Marcus wischte sich Blut aus dem Gesicht. Das Reh zu töten war ihm eine Lust gewesen, daran erinnerte er sich schemenhaft. Es hatte ihn beruhigt. Marcus fühlte sich beinahe entspannt, als er sich auf den Rückweg zu Imaginas Haus machte.
Das Reh blieb nicht das einzige, das starb, ohne den Hunger eines Raubtieres zu stillen. Marcus brachte einen kapitalen Hirsch zur Strecke, der ihm mit seinem Geweih im Kampf die Seite aufriss, ein Wildschwein, das Junge führte, Hasen ohne Zahl und schließlich Schafe. Schafe waren zu einfach, sie wehrten sich kaum, aber die Gegenwart des Schäfers und der Hunde sorgten für den nötigen Kitzel. Natürlich verriet er Imagina nichts davon. Als er mit der Verwundung zurückkam, die der Hirsch ihm zugefügt hatte, warf sie ihm einen langen Blick zu, doch sie sagte nichts. Dennoch hatte er immer mehr das Gefühl, dass sie seine Veränderung spürte.
Er begann, über Nacht wegzubleiben. Er ertrug den Geruch des Babys nicht, das Geschrei, die Art und Weise, wie sich alles um den Wurm drehte. Den moosigen Stein unter der Trauerweide ertrug er am wenigsten.
Als er eines frühen Morgens in seine Menschengestalt zurückkehrte, wusste er nicht, wo er war. Der Wald um ihn war fremd. Sein Körper war bedeckt von Kratzern, Erde und Tierblut. Die aufgehende Sonne blendete ihn, und die Vögel machten einen schier unerträglichen Krach. Er richtete sich auf und sah sich um. Rings um ihn lag dichter Tannenwald. Das Gelände war steinig und abschüssig. Er stützte sich an einem Baum ab. Die Luft legte sich kühl auf seine nackte Haut. Wohin sollte er gehen? Er zog Luft durch die Nase, um vielleicht Reste seiner eigenen Spur aufzufangen. Um in die Wolfsform zu wechseln, war er zu erschöpft. Die menschliche Nase eignete sich nicht allzu gut zum Wittern, brachte ihn aber immerhin in eine ungefähre Richtung bergauf.
Während er sich durchs Gebüsch quälte, beschlich ihn der Eindruck, nicht allein zu sein. Ein fremder Geruch stieg ihm in die Nase, dominant und würzig, menschlich und gleichzeitig tierisch. Er hielt inne und lauschte, doch außer dem Getschilpe der Vögel war nichts zu hören. Vorsichtig setzte er seinen Weg fort. Der Geruch wirkte bedrohlich, reizte aber gleichzeitig seine Wut.
Er zog sich an einigen Felsen in die Höhe und gelangte in flacheres Gelände. Die plötzliche Bewegung im Gebüsch entging ihm nicht, doch ehe er entscheiden konnte, ob er fliehen oder kämpfen sollte, vertrat ein Fremder ihm den Weg. Marcus war sofort klar, dass er einen Werwolf vor sich hatte. Der Fremde war nackt wie Marcus selbst. Sein Körper war kräftig und muskulös, sein Haar dunkel gelockt. Er war auf eine wilde Art gutaussehend. Marcus hätte ihm am liebsten mit den Fingernägeln die Haut vom Gesicht geschält.
"Geh mir aus dem Weg", knurrte er. Der Fremde trat näher. "Den Teufel werde ich tun. Das hier ist mein Revier. Ich beobachte dich schon seit einer Weile. Du hast hier nichts zu suchen!"
"Das kümmert mich nicht! Ich gehe, wohin es mir gefällt, und jeder, der mich daran hindern will, muss die Rechnung zahlen!"
"Du bist wütend." Der Fremde musterte Marcus von oben bis unten. "Warum? Wandler dürfen doch nicht wütend sein. Sie dürfen auch nicht töten. Sie müssen immer lieb und sanft zu ihrer Umwelt sein, sonst sind sie des Teufels. So wie wir."
"Ich lasse mir nichts verbieten! Von niemandem!"
"Ich glaube, du bist ein schlechter Wandler." Der Fremde musterte Marcus mit einem herausfordernden Lächeln. Zu Marcus' Erstaunen griff er sich dabei an sein Geschlecht und begann, es zu reiben, bis es pulsierend von seinem Körper abstand.
"Wenn du an mir vorbei willst, musst du mich niederschlagen", sagte der Fremde. "Versuch es ruhig." Marcus ertrug den Hohn und die offensichtliche Lust des anderen nicht länger. Er stürmte voran und stieß den Fremden mit aller Kraft von sich. Der machte einen großen Schritt rückwärts, dann kam er zurück und traf Marcus mit der Faust an der Schulter. Augenblicke später rollten sie ineinander verkrallt über den steinigen Waldboden. Der Körper des Fremden war schwer und massiv und bot viel mehr Widerstand als der eines Rehs oder Schafes. Marcus trat und schlug mit aller Kraft, riss gewaltsam an den Haaren des Fremden und versuchte, ihn in der Magengrube oder am Geschlecht zu erwischen. Der Fremde rang ihn mit spielerischer Leichtigkeit nieder. Er wog mehr als Marcus und war auch deutlich stärker. So sehr Marcus sich auch wehrte, er fand sich alsbald zwischen dem Körper des Fremden und dem Waldboden eingeklemmt. Seine Beine strampelten und traten hilflos. Die Arme hielt der Fremde ihm fest. "Mehr hast du nicht zu bieten?", fragte der Fremde spöttisch. Marcus keuchte Verwünschungen, hieb mit dem Kopf und spuckte dem Fremden schließlich ins Gesicht. Der wischte sich in Marcus' Haaren trocken, dann verdrehte er ihm mit einigen geschickten Griffen die Arme und wälzte ihn auf den Bauch. Marcus' Gesicht wurde in den Waldboden gedrückt. Erde und Tannennadeln drangen ihm in den Mund, und er bekam kaum Luft, als der Fremde sich auf ihn legte. Die schwere Hitze des Mannes drang förmlich in Marcus ein. Er wehrte sich, aber er konnte sich unter dem anderen kaum bewegen. Hitze ballte sich in seinen Lenden. Halb erschrocken, halb erstaunt spürte er, wie sein eingeklemmtes Geschlecht hart wurde. Die Wärme des anderen, seine harten Muskeln und das Gefühl, ihm völlig ausgeliefert zu sein, brachten etwas in ihm nach oben, das er bisher nicht gekannt hatte.
Dann spürte er, wie das Geschlecht des anderen sich wie ein glühender Pfahl in sein Inneres bohrte. Marcus schrie und wurde von der großen Hand des anderen gnadenlos unten gehalten. Der Fremde bewegte sich schnell auf ihm und stöhnte in sein Ohr. Marcus zwinkerte sich Tränen aus den Augen. Er versuchte, ein wenig locker zu lassen, um den Schmerz zu verringern, und plötzlich schoss eine Feuerlohe aus Erregung durch sein Inneres. Er schrie laut auf und verausgabte sich in das Moos unter ihm. Beinahe gleichzeitig ergoss der Fremde sich in ihm und blieb keuchend auf ihm liegen. Marcus' Herz schlug bis zum Hals. Was war geschehen? Die Gefühle waren ihm völlig fremd, kaum vergleichbar mit dem, was er mit Sibil erlebt hatte. Der Fremde musste des Teufels sein. Und er, Marcus, hatte ihm beigewohnt. Seine Seele war verdammt. Der Fremde stieg von Marcus herunter und schüttelte Tannennadeln ab. "Du bist ein feuriger Junge", sagte er. "In der Liebe und im Kampf. Wie heißt du?"
"Marcus."
"Ich bin Raffaelus. Komm mit. Ich will dir noch etwas anderes zeigen." Marcus stand auf und folgte dem anderen durch den Wald. Die Wut in seinem Inneren war erloschen, er fühlte sich zum ersten Mal seit langem stark und ruhig, beinahe zufrieden. Als wäre von der Selbstsicherheit des andern auch etwas in ihn geströmt. Raffaelus brachte ihn an den Waldrand. In einiger Entfernung standen Hütten, davor angebunden einige Ziegen. "Irgendwann wird es sich entscheiden", sagte Raffaelus.
"Sie oder wir. Das ist unser Wald, den sie abholzen, in den sie ihre stinkenden Ziegen und Kühe treiben. Sie sind laut, schwach und unwürdig. Sie stecken in ihrer blassen zweibeinigen Gestalt fest, wandelnde Beutel voller Exkremente. Wir sind ihnen in allem überlegen, und manchmal müssen wir sie das spüren lassen."
"Warum leben wir versteckt“, frage Marcus. "Wenn wir so überlegen sind, warum übernehmen wir nicht die Herrschaft?"
"Das werden wir", versprach Raffaelus. "Doch noch nicht jetzt. Im Augenblick sind sie zu viele. Aber jeder, der stirbt, bringt uns einem freien Leben näher." Erstaunt sah Marcus zu, wie Raffaelus sich nach vorne krümmte. Struppiges Fell durchbrach seine Haut, und sein Gesicht verformte sich zu einem Wolfsschädel mit langer Schnauze und messerscharfen Fangzähnen. Doch er schien die Wandlung nicht abzuschließen. Als gewaltiges Halbwesen sprang er hinüber zu den Hütten. Marcus stürzte sich in seine Tiergestalt und rannte hinterher. Noch ehe er bei den Hütten war, hörte er die Schreie und roch das Blut. Raffaelus war viel schneller als gewöhnliche Wandler. Mit einem gewaltigen Prankenhieb hatte er die Tür der Hütte zerfetzt und war ins Innere eingedrungen. Marcus ließ die panisch meckernden Ziegen beiseite und schloss zu ihm auf.
In der Hütte hing der Gestank von Angst. In einer Ecke sah Marcus eine Bewegung. Ein dünner, kleiner Mann versuchte, sich in die Schatten zu drücken. Seine dünnen Schreie bohrten sich in Marcus' Ohren wie glühender Draht. Dieser elende, weichliche Wurm sollte still sein! Marcus stürzte sich auf ihn und biss ihm das Gesicht ab. Dann warf er sich über die röchelnde Gestalt, schlug seine Zähne in das weiche Fleisch und riss daran, bis Blut ihm über die Lefzen sprudelte. Ein machtvolles Gefühl rauschte durch seinen Körper. Er fühlte sich stark und unbesiegbar. Keine schlechten Gefühle mehr, keine Trauer. Endlich bekam er, was ihm zustand.
Als der Mann aufgehört hatte zu zucken, sah Marcus sich nach einem weiteren Opfer um. Raffaelus hatte seine Tiergestalt verlassen und gebot ihm Einhalt. "Es reicht. Du hast deine Wolfstaufe erfahren. Ich nehme dich mit zum Rudel. Dort kannst du dich ausruhen."
Marcus gab seine Wolfsgestalt auf. Seine Sinne schienen immer noch seltsam geschärft. Eine unbändige Kraft pulsierte durch seinen Körper. Er hätte durch den ganzen Wald rennen oder ganz allein ein Rudel Hirsche zur Strecke bringen können.
Oder ein Dorf. "Du lernst schnell", lächelte Raffaelus. "Und du wirst ein prächtiger Werwolf werden. Einer der besten."