Читать книгу Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten) - Katja Piel - Страница 34
Оглавление28. Kapitel
Frankfurt am Main Flughafen - London, Herbst 2012
«Wenn du reden willst... ich kann hier nicht weglaufen»
Nachdenklich drehte ich meinen neuen Pass in den Fingern, ohne wirklich darauf zu schauen. Noch immer hatte ich mich nicht an mein verändertes Aussehen gewöhnt, ich wollte nicht auch noch das Foto sehen. Wie durch Watte hörte ich die üblichen Durchsagen auf einem Flughafen und den einleitenden Gong, der mich immer an eine Schule erinnerte.
Achtung bitte! Dies ist der letzte Aufruf für den Lufthansaflug LH710 nach Tokyo. Alle Passagiere werden gebeten, sich umgehend zum Flugsteig A13 zu begeben.
Attention please! This is the last call for Lufthansa-Flight LH710 to Tokyo. All passengers are requested to proceed to gate A13 immediately.
Ich war es gewohnt, dass mich die Leute anstarrten. Bewundernd die Männer, neidisch die Frauen. Und plötzlich starrte niemand mehr. Der Mantel aus Blicken, der mich seit Jahrhunderten umgab, war verschwunden, und ich fühlte mich nackt. Und plötzlich fiel mir ein, dass Alexa mich nie neidisch angesehen hatte. Sie war von Anfang an gewesen wie … wie Alexa eben. Fröhlich, unkompliziert, vor Energie sprühend. Ein dicker Kloß saß mir im Hals. Einer von denen, die man nicht runterschlucken konnte. Und was hatte ich gemacht? Ihr den Freund ausgespannt. Toll, Anna. Und als wäre das nicht schon genug, schwebte sie jetzt in Lebensgefahr. Weil ich zu leichtsinnig gewesen war. Meine Interessen vor alles andere gestellt hatte. Wütend auf mich selbst, bog ich den Pass zwischen meinen Fingern, als ihn mir jemand aus der Hand zog.
„Der Pass kann da auch nix für. Und den brauchst du noch.“ Samuel. Er stand hinter dem Stuhl, auf dem ich saß, und beugte sich zu mir runter. Ich seufzte den Schmerz in meiner Brust fort und drehte mich zu ihm. Schwarze Haarsträhnen fielen ihm in die Augen, und als er die Hand hob, um sie wegzustreichen, kam ich ihm zuvor. Sam umrundete die unbequeme Sitzreihe, stellte seinen Rucksack zwischen seine Beine auf den Boden und setzte sich neben mich. Er beugte sich zu mir, als wolle er mich küssen, doch ich drehte den Kopf weg. Dieser Kloß ließ sich nicht schlucken, und er ließ sich auch nicht wegküssen. Sam war feinfühlig genug, um auf Abstand zu gehen, ohne sich einen Kommentar zu erlauben.
„Kaugummi?“
„Ich hasse Kaugummis.“ Neben mir hörte ich, wie er ihn auspackte, und einige Sekunden später, wie er darauf kaute.
„Hab Probleme mit dem Druckausgleich“, erklärte er. „Hmm“, machte ich. Wann war endlich Boarding? Ich sah ihn von der Seite an. Er war sexy wie immer, und in einem anderen Leben hätte ich ihn in die nächste Putzkammer gezerrt und wäre über ihn hergefallen. In einem Leben, in dem es Alexa gut ging und sie sich nicht in den Händen eines Wahnsinnigen befand. Marcus war alles zuzutrauen.
„Wir werden sie finden. Alles wird gut.“ Seine Finger strichen durch meine ungewohnt kurzen Haare. Ich trocknete ein paar heimliche Tränen an seiner Schulter, als über die Lautsprecher die Aufforderung zum Boarding ertönte. „Ja. Sicher.“ Ich sprang auf und hetzte nach vorne zum Schalter. Mit der einen Hand zog ich den Boarding Pass aus der Hosentasche und hielt ihn der Stewardess hin, mit der anderen wischte ich mir schnell über die Augen. Ich wunderte mich über Sams Ruhe. Entweder wollte er für mich stark sein, oder es war einfach seine Art, damit umzugehen. Ich hatte den Eindruck, als würden wir uns voneinander entfernen. Funktionierte unsere Beziehung nur, solange wir regelmäßig übereinander herfielen? Mit zusammengebissenen Zähnen eilte ich den langen Gang zum Flugzeug, ohne mich umzudrehen oder auf ihn zu warten, obwohl ich wusste, dass er mir dicht folgte.
Der Flug war der Horror. Es gab zwar keine Komplikationen, aber ich spürte, wie die Wölfin nach draußen drängte. Zwar war ein Flugzeug größer als ein Sarg, aber dennoch mochte sie es nicht, wenn ihr die Kontrolle aus der Hand genommen wurde. Beinahe konnte ich ihren Pelz auf der Innenseite meiner Haut spüren. Sie wollte raus. Sie wollte jagen. Und sie wollte Blut. Glücklicherweise hielt Sam nicht viel von höflicher Konversation, sondern blätterte in einer Men's Health, trank seinen Tomatensaft und futterte Erdnüsse, so als wären wir auf dem Weg in den Süden. Wut glomm in mir auf und verstärkte den Drang, mich zu wandeln. Wie gebannt glotzte ich auf den Bildschirm, der im Sitz vor mir eingebaut war und die Flugroute zeigte. Das Bild wechselte vom kleinen weißen, flackernden Flieger zur Anzeige der Flughöhe, Geschwindigkeit, der gesamten Reisedauer und voraussichtlichen Ankunftszeit. Ich versuchte es mit Meditation, spannte meine Beinmuskeln an und ließ sie wieder locker, spannte sie an, ließ wieder locker. Wir hatten bereits seit einer halben Stunde unsere Flughöhe erreicht und glitten über den Wolken dahin.
„Anna? Ist alles okay?“ Oh verflucht, dieser samtige Bariton. In meiner Fantasie schlossen wir uns in das enge Klo ein und zogen uns die Klamotten vom Leib. Ich schlang meine Beine um seine Hüften, er schob sich in mich und keuchte meinen Namen. Und selbst in meinen Fantasien kam mir Alexa in die Quere, wie sie gefesselt und geknebelt in irgendeinem dunklen Loch saß oder im Kofferraum zu einem neuen Geheimversteck transportiert wurde. Ich sah zu ihm hinüber. Besorgt kniff Sam die Augen zusammen und griff nach meiner Hand. „Nix ist okay. Ich hasse es, zu fliegen. Das ist alles.“ Er runzelte die Stirn, kam näher. Ich wich ihm aus. „Hör mal. Wenn du reden willst... Ich kann hier nicht weglaufen.“
„Warum sollte ich reden wollen?“, zischte ich zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor. Jetzt wurde mir schlecht. Die Wölfin kämpfte, sie kratzte von innen gegen meine Haut.
Endlich kam die erlösende Durchsage, dass wir uns im Landeanflug befanden. Neben mir hörte ich Sam leise seufzen. Er wandte sich von mir ab, klappte das Tischchen vor sich hoch, zerknüllte den Plastikbecher und schob ihn in das Netz mit den Zeitschriften. Das Geräusch des zerknickenden Plastiks reizte mich und die Wölfin. Fast hätte ich ihn angesprungen, aber ich konnte mich gerade so zurück halten, blickte aus dem Fenster und sah zu, wie der Flieger die Wolken in Richtung Erde durchbrach.
Schweigend verließen wir den Flieger. Da wir kein Gepäck dabei hatten, durften wir direkt zum Ausgang.
Sam hatte mal wieder recht gehabt. Der Flug wäre eine gute Gelegenheit gewesen, zu reden, sich in die neue Situation einzufühlen. "Hast du keine Angst um Alexa?", hätte ich ihn fragen sollen, und "Wo stehen wir beide?" Aber ich war zu sehr mit meiner Angst und meiner Wölfin beschäftigt gewesen, und nun trug er eine Maske, die ich nicht durchdringen konnte. Die Gelegenheit war vorüber, und ich musste meine unausgesprochenen Fragen mit mir herumtragen wie ein unsichtbares Gewicht.
Andreas' Erscheinung stach aus der Menge der wartenden Menschen hervor. Wir umrundeten die Absperrung und schlenderten hinüber zu ihm. Als Andreas auf uns zuging, lächelte ich ihn freundlich an. Zunächst begrüßte er mich, stellte die allgemeinen Fragen nach dem Flug und wie es mir ging. Schließlich nahm er Sam in den Arm. Während ich darauf wartete, dass sie mit ihrer familiären Begrüßung fertig wurden, blieb mein Blick an einer anderen Person in einiger Entfernung hängen. Adam lehnte an einer Säule direkt neben einem "Rauchen-verboten"-Schild und fummelte sich eine Zigarette aus der Packung. Seine Locken hingen ihm kreuz und quer ins schmale Gesicht, er sah aus, als hätte er kaum geschlafen. Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen. Sein billiges Feuerzeug verweigerte den Dienst, und ich wollte schon hinübergehen und ihm aushelfen, als endlich eine kleine Flamme aufsprang und die Spitze der Zigarette erfasste. Adam sah zu mir hinüber. Die Glut der Zigarette legte einen feinen goldenen Schein in seine Augen. Obwohl er so schmächtig und harmlos aussah, traute ich ihm nicht über den Weg. Und doch lag eine Trauer auf ihm. Es war ein Geruch wie von angebranntem Karamell, süß und bitter zugleich, vermischt mit einer Note von Moschus. Und immer noch sah er zu mir hinüber und verzog keine Miene.