Читать книгу Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten) - Katja Piel - Страница 29
Оглавление23. Kapitel
In den Wäldern bei Bedburg, Sommer 1606
«Regarus di vita! Auf das Leben!»
So viel Trubel hatte Anna noch nie erlebt. Das Haus quoll über vor Besuchern. In dem kleinen Anbau hatte man behelfsmäßige Betten errichtet und eine größere Tischplatte organisiert, damit bei den Mahlzeiten alle zusammensitzen konnten.
Viele der Besucher kannte sie nur flüchtig von ihren kurzen Besuchen während der vergangenen Jahre. Da waren Tamus und Eleonora, zwei Wächter, die seit undenklichen Zeiten mit Imagina befreundet waren. Ein weiterer Wächter, Ruperto, war eigens aus Italien angereist, um Annas Zwielicht beizuwohnen. Er war in Begleitung von Astra, einer alterslosen, anmutigen Frau, die noch die späten Zeiten des Römischen Kaiserreiches erlebt hatte.
Anna, kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag, konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, so alt zu sein.
Über den Besuch von Rosa und Mattis freute sie sich am meisten. Die beiden lebten längst ihr eigenes Leben, Rosa als Hebamme, Mattis als Schneider, doch sie hatten den Kontakt zu Imagina und ihrem Haus nie ganz aufgegeben. Rosa, die Anna durch ihre ersten Lebensjahre begleitet hatte, war ihr lieb wie eine große Schwester, und mit Mattis verband sie frühe Kindheitserinnerungen: Er hatte sie auf den Schultern mit zu seinen Ziegen genommen, und sie hatte von oben auf die großen, gehörnten Tiere mit den eigentümlichen hellen Augen hinuntergesehen und vor Aufregung gejauchzt.
Und nun war der Tag gekommen. Wenn er in die Nacht überging, würde Anna ihre erste Verwandlung erleben. Imagina hatte sie sorgfältig vorbereitet und ihr beschrieben, was passieren würde: die Wölfin würde von innen hervortreten und den menschlichen Körper abstreifen, sich herausschälen wie ein Schmetterling aus seinem Kokon. Danach würde sie zum ersten Mal das erfahren, was sie unterdrückt bereits spürte: die Kraft des Tieres, seine geschärften Sinne. Sie würde die Nacht hören, riechen, erleben wie noch nie zuvor.
Jetzt, da das Ereignis direkt bevorstand, wusste sie nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte.
Sie war mehr als bereit, die Wölfin zu empfangen, und genoss den Trubel, der um ihre Person veranstaltet wurde. Aber der Abschied von Imagina, der am Ende der Nacht bevorstand, machte ihr zu schaffen. Ab diesem Zeitpunkt würde sie nur noch zu Besuch kommen, wie Rosa und Mattis. Ihren Platz in der Gemeinschaft würde ein anderer Wandler einnehmen, der Imaginas Unterstützung benötigte.
Anna hatte keine Pläne für ihr neues Leben. Ihre Vorstellungen von dem, was sie erwartete, waren mehr als ungenau. Sie konnte im Wald überleben, kannte jedes Kraut und jeden Stein. Von Dörfern und Städten hatte Imagina sie ferngehalten. Bei einigen Bauernhöfen in der Nähe hatte die Gemeinschaft sich nicht nur mit den Lebensmitteln versorgt, die sie nicht selbst anbauten, sondern auch mit Geschichten aus den umliegenden Dörfern und Städten. Aus dieser Quelle wusste Anna, dass die Menschen Berufen nachgingen, für Frauen aber die meisten nicht zur Wahl standen. Viele Frauen heirateten und sicherten so ihr Auskommen. Rosa hatte ihr geraten, das zu tun. Es funktionierte zumindest so lange, bis auffällig wurde, dass Kinder ausblieben. Für diese Zeiten hatte Rosa ihren Beruf, mit dem sie sich ernähren konnte.
Heiraten? Das, was zwischen Mann und Frau passierte, war Anna nicht ganz klar. Imagina hatte ihr in ausführlichen Gesprächen die Prinzipien der menschlichen Liebe und Lust erklärt, aber Anna hatte noch nie einen Mann getroffen, auf den sie das Gehörte hätte anwenden wollen. Vielleicht passierte das in der Welt da draußen. Der Gedanke faszinierte sie und tröstete sie ein wenig über den bevorstehenden Verlust ihrer Heimat hinweg.
Imagina hatte ihr ein Festkleid genäht. Es war weiß und mit Runen über und über bestickt – Schutz- und Stärkerunen, so hatte Imagina ihr erklärt. Als Anna Imagina suchte, um sie zu fragen, ob sie sich schon umziehen sollte, fand sie sie weinend unter dem Kirschbaum.
„Was ist los?“, fragte sie erschrocken. Imagina knüllte ihren Schürzenzipfel zusammen und lächelte unter Tränen.
„Es ist nichts, Kind. Mach dir keine Sorgen. Nur... noch nie ist ein junger Wandler so lange bei mir geblieben wie du. Die anderen kamen als Halbwüchsige oder Erwachsene, die Gewalt und Schrecken erfahren hatte. Einzig du warst so unschuldig. So rein. Du wirst mir so fehlen. Mit mir hast du laufen gelernt, und sprechen... und widersprechen...“
Anna lächelte. „Ich bin ein echter Sturkopf, oder?“
„Ja, aber das ist gut so. Du wirst dich in deinem Leben immer wieder durchsetzen müssen. Es ist gut, dass du das kannst. Und ich... man sieht es mir nicht an, aber ich werde alt. Alt und sentimental...“
„Ich hab dich lieb, Ima.“ Anna schlang ihre Arme um ihre Ziehmutter, und diese drückte sie fest an sich.
„Versprich mir, dass du mich besuchen kommst.“
„Natürlich komme ich. Oft. Ich würde dich sonst auch viel zu sehr vermissen.“ Eine Weile standen sie eng umschlungen beieinander, dann machte Imagina sich los und lächelte. Anna sah, wie schwer ihr das fiel.
„Nun komm, Kleine. Die Sonne geht bald unter. Machen wir dich schön, und dann brechen wir auf.“
Früher am Tag hatte Anna bereits ein ausgiebiges Bad genommen. Nun kämmte Rosa ihr das Haar, das ihr blond und üppig über den Rücken fiel, und flocht bunte Bänder und Blüten hinein. Sie tupfte ein wenig rote Farbe auf ihre Fingerspitze und färbte damit Annas Lippen. Anna ließ sich die Behandlung gerne gefallen. Schließlich legte sie ihre Alltagskleidung ab und schlüpfte in ihr Festgewand. Imagina hatte sie angewiesen, darunter nackt zu bleiben, damit ihr die Verwandlung später leichter fiele. Der Wind schlüpfte unter das leichte Gewand und streichelte Annas Körper. Eine Mischung aus Befangenheit und Erregung erfüllte sie. Der leichte Stoff gab ihr nicht das Gefühl, bekleidet zu sein.
Schließlich betrat sie den Gemeinschaftsraum im Haupthaus, wo alle sich versammelt hatten, um auf sie zu warten. Als sie durch die Tür trat, verstummten die Gespräche. In den Augen der Männer erkannte Anna, dass sie sie nicht mehr als Kind ansahen. Sie bewunderten eine junge und begehrenswerte Frau.
Tamus sprach als erster. „Du bist wunderschön, Anna. Bist du denn auch bereit?“
„Ich glaube schon.“
„Man kann nie wirklich bereit sein“, sagte Rosa. „Aber wir helfen dir. Wir passen auf dich auf und beschützen dich, wenn du zum ersten Mal deine Wölfin rufst.“
„Viel Schutz wird nicht nötig sein“, winkte Anna ab. „Die Gegend ist ruhig. Seit Raffaelus sich mit seinem Rudel ein anderes Revier gesucht hat, hatten wir keine Zusammenstöße mit Werwölfen mehr.“
„Trotzdem werden wir nicht leichtsinnig sein“, sagte Tamus. „Wir wissen nicht, ob Marcus noch beim Rudel ist. Und die Ankunft eines neuen Wolfes lässt sich weithin spüren.“
„Doch nun wollen wir uns die Laune nicht mit düsteren Gedanken trüben“, warf Rosa ein. „Lasst uns einen großartigen Abend haben! Die kleine Anna wird erwachsen. Sie hat ein rauschendes Fest verdient.“
„Es ist Zeit“, sagte Imagina. „Wir haben noch einen Weg zurückzulegen.“
Gemeinsam brachen sie auf. Wie eine stumme, feierliche Prozession bewegten sie sich durch den Wald, leise auf nackten Füßen, in wallende Roben gewandet, Imagina mit ihren flammend roten Haaren voraus. Während sie gingen, sang Imagina in der alten Sprache eine getragene Melodie. Die Schatten flossen unter den Bäumen zusammen, und wie von selbst öffneten sich die Zweige vor ihnen.
Anna hätte nicht gedacht, dass es einen Winkel in diesem Wald gab, den sie noch nicht kannte, doch nach kurzer Zeit hatte sie völlig die Orientierung verloren. Der Wald schien hier viel älter zu sein. Dick bemooste Steine ruhten zwischen gewaltigen Bäumen, deren Stämme drei Männer gemeinsam nicht hätten umspannen können. Flechten hingen von den Zweigen wie lange, wunderliche Bärte. Das Licht der untergehenden Sonne blinzelte in dünnen, grüngoldenen Strahlen zu ihnen hinunter. Annas Füße sanken tief in einen weichen Moosteppich. Selbst die Vögel schienen besonders andächtige Lieder zu pfeifen.
Nach einem längeren Weg teilten sich die Bäume und gaben den Blick auf eine glitzernde Wasserfläche frei.
„Der Mondlichtsee“, flüsterte Rosa. Still wie ein Spiegel lag der See zwischen den Bäumen. In seiner Mitte erhob sich eine kleine, bewachsene Insel. Anna konnte hohe Steine erkennen, die in den Himmel ragten wie ein zahnlückiges Gebiss.
Zielstrebig schritt Imagina in das Wasser. Es plätscherte kaum. Träge breiteten sich Wellenringe auf der silbrigen Oberfläche aus, als sie begann, mit kräftigen Zügen zur Insel hinüberzuschwimmen. Die anderen folgten. Annas Gewand bauschte sich, als sie ins Wasser watete. Es war kalt, und sie unterdrückte einen Schreckenslaut. Sie hielt den Atem an und tauchte unter.
Die Sonne war untergegangen, als sie alle auf der Insel ankamen und den Steinkreis betraten. Das Gewand klebte an Annas Körper, und sie sah, wie Tamus und Mattis sie musterten. Erstaunt stellte sie fest, welche Wirkung sie auf die Männer hatte.
Die Gemeinschaft bildete einen Kreis inmitten der Steine. Anna nahmen sie in die Mitte. Dann fassten alle sich an den Händen und stimmten in Imaginas ruhige Weise ein.
„Vitalis de geliamo
Del tusra il luna de glarios
Dein Blut schwimmt im Mondlicht
Gefangen und vereint
Leben soll es bringen
Die Gestalt in dir soll sein.“
Wärme schlug Anna entgegen. Zuerst dachte sie an einen warmen Nachtwind, aber tatsächlich ging die Wärme von den Personen im Kreis aus. Das kalte Frösteln verschwand von Annas Haut. Sie löste die Arme, die sie um sich geschlungen hatte. Es fühlte sich an, als stünde sie in der Nähe eines Ofens.
Dann schied Rosa aus dem Ring aus. Tamus und Mattis schlossen die Lücke. Während alle weitersangen, ging Rosa am Ufer in die Knie, nahm einen Kelch aus einer Nische zwischen zwei Steinen und füllte ihn mit Wasser. Vorsichtig richtete sie sich auf und brachte das kostbare Gefäß zurück in den Kreis.
"Leg dein Gewand ab, und mit ihm dein altes Leben", sagte sie in einem weichen Singsang, der ihre Stimme ganz fremd wirken ließ. Anna gehorchte und streifte das nasse Kleid ab. Eine prickelnde, körperliche Aufregung durchflutete sie. Rosa hielt ihr den Kelch entgegen, und zu ihrer Verwunderung stellte Anna fest, dass von dem Wasser darin ein Leuchten ausging, erst schwach, dann immer stärker, bis es blendend hell war und alle im Kreis mit blauem Licht übergoss.
"Du hast Mondlicht eingefangen", staunte Anna, doch Rosa lächelte nur. Anna nahm den Kelch und wollte trinken, doch Rosa hielt sie zurück. Aus den Falten ihres Gewandes holte sie ein kleines Messer. Damit ritzte sie sich in den Daumen und ließ einen Blutstropfen in den Kelch fallen. Dann gab sie das Messer an Imagina weiter. Anna schritt die Reihe ihrer Gemeinschaft ab, und jeder gab einen Blutstropfen in den Kelch. Dessen Leuchten veränderte sich allmählich zu einem kräftigen goldenen Strahlen. Gleichzeitig wurde er in Annas Händen immer wärmer. Als sie den Kreis einmal abgeschritten war, kehrte sie zu Rosa in die Mitte des Kreises zurück.
"Regarus di vita!", rief Imagina. "Auf das Leben!" Sie streckte ihre Arme zum Himmel, und die anderen taten es ihr gleich. Anna sah zu Rosa. Die nickte ihr zu. Anna trank einen Schluck aus dem Kelch.
Plötzlich war das Leuchten überall. Es war, als würde sie direkt in die Sonne sehen. Der Kelch war nicht mehr in ihren Händen - und dann waren ihre Hände verschwunden. Es fühlte sich an, als würde sie sich durch einen sehr engen Tunnel nach vorne schieben. Sie verspürte den unerbittlichen Zwang, sich zum Boden zu beugen, und gab ihm bereitwillig nach. Eine Flut von Sinneseindrücken rauschte durch sie. Die Nacht war plötzlich laut und angefüllt von Gerüchen.
Vertraute Gestalten schälten sich aus dem Leuchten. Sie leuchteten selber in den verschiedensten Farben. Imagina in pulsierendem Rot, Tamus in fließendem Blau, Rosa tatsächlich in quirligem Rosa. Anna hatte noch nie Farben in solcher Leuchtkraft gesehen. Sie sah an sich hinunter. Ihre Menschengestalt war verschwunden. Sie erblickte zwei kräftige Vorderbeine, die in Pfoten endeten.
Pfoten, die rennen wollten. Sie hielt die Nase in den Wind. Rehe, Kaninchen, und der geliebte Geruch des Rudels. Sie jaulte ungeduldig.
Und jemand antwortete, doch niemand aus ihrem Rudel. Die Antwort kam vom Ufer des Sees. In das farbige Leuchten, das sie umgab, mischten sich schwarze Schlieren, die ihre langen, dünnen Finger nach ihr ausstreckten.
Anna wusste plötzlich, wer da im Ufergebüsch lauerte.