Читать книгу Kuss der Wölfin - Trilogie (Fantasy | Gestaltwandler | Paranormal Romance | Gesamtausgabe 1-3) - Katja Piel - Страница 24
Оглавление18. Kapitel
Herbst 2012, Frankfurt am Main
«Ich höre, Sie haben ein pelziges Problem?»
Sams Vater war silbrig ergraut, schlank, braun gebrannt und sah aus wie George Clooney. Ich fand es schon beinahe ungerecht, dass in einer Familie schöne Männer so gehäuft auftraten, während andere Clans mit blassen Bierbäuchen und Hängeschultern auskommen mussten.
Meine Beine vertrugen noch keine Jeans, und so lieh ich mir eines von Sams T-Shirts und wickelte mir die Bettdecke um die Hüfte. Sam ließ seinen Vater rein und begrüßte ihn herzlich. Dann kam Sams Vater auf mich zu und schüttelte mir die Hand. „Andreas Koch. Freut mich, Sie kennenzulernen – unter den gegebenen Umständen...“
„Anna Stubbe. Ich freue mich auch.“ Er musterte mich von oben bis unten mit seinen hellen Augen. „Ich höre, Sie haben ein pelziges Problem?“
„Ja... allerdings.“
„Erzählen Sie mal von Anfang an. Samuel, kochst du uns einen Kaffee?“ Während Sam in der Küche werkelte, erzählte ich meine Geschichte, so weit ich sie mir zusammenreimen konnte. „Aber gesehen haben Sie Marcus am Set nicht?“, fragte Andreas Koch nach, als ich geendet hatte. „Nein, er war nicht dort, definitiv. Allerdings...“ Langsam schob sich eine Erinnerung in mein Bewusstsein. Ein Traum, oder war es etwas, das die Wölfin erlebt hatte? „Ich bin nicht ganz sicher. Es kann sein, dass ich ihn im Taunus getroffen habe. Als ich dort war, um zu rennen. Ich glaube... ich hatte einen Zusammenstoß mit einem anderen Wolf. Gibt es natürliche Wölfe im Taunus?“
„Nein. Nicht dass ich wüsste.“
„Wir hatten ein kurzes Gerangel. Na ja, vielleicht mehr als das. Ich habe ihn verletzt, glaube ich. Einem natürlichen Wolf gegenüber wäre ich nicht so aggressiv gewesen...“ Andreas Koch sah mich nachdenklich an. „Wir hatten hier nie Probleme mit Werwölfen. Wenn jetzt zwei in so kurzem zeitlichem Abstand auftauchen, müssen wir davon ausgehen, dass sie mit Ihnen zu tun haben. Ob Ihr Marcus dahinter steckt, oder ob er es vielleicht selbst gewesen ist, lässt sich nicht feststellen. Aber es ist wahrscheinlich, wenn Sie keine anderen Feinde haben.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Sam.
„Sie muss untertauchen“, entschied Andreas Koch. „In ihre Wohnung kann sie nicht zurück, ebenso wenig an die Uni. Als nächstes müssen wir herausfinden, wie mächtig der Marcus-Clan ist. Wie viele Informanten haben sie? Wo sitzen die? Am liebsten würde ich Anna außer Landes bringen, aber dazu muss ich erst die Lage klären. Wir sind hier nicht so viele, als dass wir einen lückenlosen Personenschutz leisten könnten. Vielleicht fordere ich noch Verstärkung an.“
„Ich dachte, du bist ausgestiegen?“, fragte Sam erstaunt. Andreas Koch nahm eine Kaffeetasse von seinem Sohn entgegen und grinste schief. Es durchzuckte mich: Dieses Grinsen kannte ich von seinem Sohn. „Ja, das dachte ich auch. Ich wusste ja nicht, dass mein Sohn sich mit Wölfinnen einlässt. Was ist eigentlich mit Alexa?“
„Ich lasse mich nicht ein.“ Sam wurde rot. „Anna ist eine gute Freundin. Mit Alexa und mir ist alles prima.“
„Ich hoffe nur, es ist immer noch alles prima, wenn Alexa erfährt, dass eine teilbekleidete Blondine in deinem Bett sitzt – nichts für ungut, Anna.“
„Ich hatte keine Kleider dabei“, erklärte ich und merkte selbst, dass ich damit nichts besser machte. „Also... ich kam gewandelt hier an. Deshalb würde ich eigentlich gerne in meine Wohnung zurück und ein paar Sachen packen.“
„Kommt nicht in Frage“, entschied Sams Vater. „Wir besorgen Ihnen alles, was Sie brauchen. In ein paar Stunden sind Sie hier weg. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte – ich muss mal telefonieren...“ Andreas Koch erhob sich und ging hinaus in den winzigen Flur. Sam setzte sich zu mir aufs Bett und ergriff meine Hände. „Was machen wir mit Alexa?“, fragte ich. „Sie wird mitbekommen, dass ich weg bin. Irgendetwas müssen wir ihr sagen.“
„So viel wie nötig und so wenig wie möglich. Das ist das Beste für alle. Sie ist keine Eingeweihte, und das muss auch so bleiben. Zu ihrem und zu deinem Schutz.“
„Also müssen wir sie anlügen?“
„Ja. Ich schlage vor, du rufst sie später an und erzählst ihr die Geschichte von der kranken Mutter oder der gestorbenen Oma. Irgendetwas, das dich zwingt, aus Frankfurt abzureisen. Dann sehen wir weiter.“
„Ich will aber nicht aus Frankfurt abreisen!“ Sam seufzte abgrundtief. „Ich will auch nicht, dass du abreist. Aber noch viel weniger will ich, dass du diesem Monster in die Hände fällst. Lass meinen Vater mal machen. Er findet bestimmt eine gute Lösung.“ Ich küsste zart seinen traurigen Mund, aber er zuckte zurück und wies mit dem Kinn auf den Flur, wo sein Vater telefonierte. Die kleine Geste verletzte mich mehr, als es Animals Klauen getan hatten. Ich zog meine Hände zurück, und er sah mich hilflos an. „Ich verstehe dich“, sagte ich, „aber es muss mich ja nicht glücklich machen, oder?“
„Vermutlich nicht.“ Wir tranken Kaffee und sahen uns schweigend über den Rand unserer Tassen hinweg an, bis Andreas Koch zurückkam und sein Smartphone in die Jackentasche steckte.
„Wir bringen Sie zunächst in einen Unterschlupf hier in der Nähe“, sagte er zu mir. „Dann stellen wir Nachforschungen über die Gruppierung an und entscheiden, welches der sicherste Weg ist, Sie ganz aus der Schusslinie zu bringen. Wenn die Gruppierung Verbindungsleute am Flughafen hat, wird es schwierig, Sie außer Landes zu bringen, in dem Fall nehmen wir vielleicht lieber ein Auto. Mal sehen, welche Informationen wir so bekommen.“
„Aber wäre es nicht sicherer, wenn wir sie möglichst schnell ins Ausland bringen?“, fragte Sam.
„Möglichst schnell ist schon vorbei. Sie ist seit gestern hier, sagst du? Wenn der Marcus-Clan den Flughafen abdichten will, hat er es längst getan. Du hättest mich früher anrufen sollen. Jetzt haben wir nur die Chance, durch ein Loch zu schlüpfen, das ihre dünne Personaldecke uns lässt. Sie können unmöglich alle Wege überwachen.“ Sam blickte zu Boden. Andreas Koch schlug ihm aufmunternd auf den Rücken. „Zumindest hat es gestern kräftig geregnet – Annas Geruchsspur sollte einigermaßen verwischt sein. Trotzdem muss sie so schnell wie möglich von hier verschwinden.“ Ich fühlte mich schrecklich. Nicht nur, dass ich die Menschen in Gefahr brachte, die mir wirklich viel bedeuteten – ich musste nun auch zulassen, dass man über mich entschied wie über einen Gefahrguttransport. Die ultimative Fremdbestimmung.
„Wenn dafür noch Zeit ist, würde ich gerne duschen gehen“, sagte ich. „Ein paar Geruchsspuren abwaschen.“ Andreas Koch nickte. „Man wird Sie in etwa einer Stunde abholen. Ich bleibe so lange hier, damit auch alles glatt verläuft.“
Ich ließ mir Zeit unter der Dusche. Das getrocknete Blut überzog meine Haut wie ein Film, und ich rieb es vorsichtig ab. Nun konnte ich endlich im Einzelnen sehen, was Animal mir angetan hatte. Tiefe Furchen zogen sich von meiner Hüfte bis hinunter zum Knie. Meine Waden waren von den Stiefeln geschützt gewesen, und die Fußsohlen musste ich mir aufgeschnitten haben, als die Wölfin über die Glasscherben geflohen war. An den Armen hatte ich Abschürfungen, die nicht tief, aber flächig waren. Zumindest an den Beinen würde ich wohl Narben behalten, die mich immer an meine kurze und unglückliche Karriere als Model erinnern würden. Ich seifte meine Haare ein und spülte den letzten Geruch nach Rauch und Abbruchhaus in den Abfluss. Sollte Animal mir je wieder vor die Krallen laufen, würde ich mich erkenntlich zeigen.
Von Sam lieh ich mir ein frisches T-Shirt und eine lockere Boxershorts. Mein Kaffee war in der Zwischenzeit kalt geworden, aber ich trank ihn trotzdem.
Als es endlich an der Tür klingelte, zuckten wir alle zusammen. Sams Vater ging an die Sprechanlage und wechselte ein paar Worte, dann betätigte er den Summer.
„Abmarsch“, sagte er. „Wohin bringen Sie mich?“, fragte ich nervös. „Wir haben einige Rückzugsorte in der Gegend. Sie wurden lange nicht mehr benötigt, aber wie man sieht, kann man nie vorsichtig genug sein.“
„Das beantwortet nicht meine Frage!“ Andreas Koch seufzte. „Ich will nicht zu viel verraten. Die Menschen dort begeben sich in Gefahr, um Sie zu unterstützen. Es ist eine kleine Wohnung in Sachsenhausen, und unsere Kontaktfrau wird sich um Sie kümmern. Selbstverständlich bleiben wir in Kontakt.“
„Und du?“, fragte ich Sam, während Panik in mir aufstieg. „Du wirst mich dort besuchen kommen, oder?“
„Mal sehen“, sagte Sam und sah abwartend zu seinem Vater. „Dies ist kein Abschied für immer!“, schrie ich.
„Nein, nein. Wir müssen nur vorsichtig sein. Du darfst mich nicht anrufen, für den Fall, dass die anderen eingehende Gespräche zurückverfolgen. Ich besorge mir ein Prepaid-Handy und melde mich bei Dir.“
„Du tust ja gerade so, als wären die eine kriminelle Vereinigung...“
„Genau so ist es“, schaltete Andreas Koch sich ein. „Wir haben es mit mafiösen Strukturen zu tun. Sie sind technisch auf dem neuesten Stand, und wir wissen nicht, wie viele Leute sie haben. Was ist?“, fügte er hinzu, als er meinen ungläubigen Blick sah. „Was hatten Sie erwartet? Ein Rudel halbverwandelter Idioten, die im Wald hocken und Rehknochen abnagen?“ Ich wollte es nicht zugeben, aber ungefähr in diese Richtung war meine Vorstellung gegangen. Zum Glück klingelte es gerade an der Wohnungstür. Sam öffnete, und herein kamen zwei schwarz gekleidete Männer mit einem Blechsarg. „Wir haben hier eine Leiche abzuholen“, sagte der eine und tippte sich an die Mütze. „Das ist nicht euer Ernst“, sagte ich fassungslos. „Sie können nicht einfach aus der Haustür spazieren“, erklärte Andreas Koch. „Kommen Sie. Es ist zu Ihrem Besten. Wir legen den Deckel auch nur lose auf. Sie können sich jederzeit befreien – obwohl ich Ihnen das nicht raten würde.“
„Nein! Ich lege mich da nicht rein!“ Die Männer setzten den Blechsarg ab. „Er ist desinfiziert, seit die letzte Leiche drin lag“, sagte der eine. „Und Sie meinen, das macht es besser?“
„Jedenfalls“, grinste er. „Sie haben ja die letzte Leiche nicht gesehen.“ Mir war schlecht, und ich stand kurz vor einem hysterischen Anfall. Da spürte ich Sams Arme, die sich um mich schlossen. „Du schaffst das“, flüsterte er an meinem Ohr. „Du hast schon ganz andere Sachen geschafft. Das hier ist nichts als ein Liegendtransport – wie im Krankenwagen. Nur ohne Blaulicht.“
„Und mit Deckel“, flüsterte ich schaudernd.
Einer der Träger nahm den Deckel ab und lehnte ihn an den Sarg. Dieser war innen genauso aus blankem Blech wie außen. „Steigen Sie mal ein, junge Frau“, sagte er. „Wir stehen vor dem Haus im Halteverbot.“ Sam schob mich, und ich machte einen widerstrebenden Schritt in den Sarg hinein. Das Blech war unangenehm kalt an meinen Füßen. „Ich melde mich bei dir“, versprach Sam. „Ganz bald. Keine Sorge. Ich bringe dir ein paar Sachen vorbei.“
„Oder jemand anders“, ergänzte Andreas Koch mit einem Seitenblick auf seinen Sohn. „Jemand, den man nicht sofort mit Ihnen in Verbindung bringen würde. Und jetzt legen Sie sich bitte hin.“ Ich hatte keine Wahl, also streckte ich mich auf dem kalten Blech aus. Die Kälte kroch mir direkt ins Herz. „Brauchst du eine Decke?“, fragte Sam. „Ja, bitte“, flüsterte ich.
Er gab mir eine Fleecedecke von seinem Sofa, in die ich mich wickelte. Dann legten die Bestatter den Deckel auf, und es wurde dunkel. Die Wölfin geriet sofort in Panik. Ich war kurz davor, mich zu verwandeln und mit Gewalt aus diesem engen Gefängnis auszubrechen. Ich konnte meine Arme kaum bewegen. Direkt über meinem Gesicht war die Innenseite des Deckels. Meine überempfindliche Nase roch stechendes Desinfektionsmittel und darunter den feinen Geruch der Verwesung. Ich bemühte mich trotzdem, gleichmäßig zu atmen. Langsam nahm ich auch das bisschen Licht wahr, das durch einen schmalen Spalt zwischen Deckel und Korpus zu mir ins Innere drang. Ich klammerte mich daran wie an eine Rettungsboje. „Fertig?“, drang eine dumpfe Stimme zu mir. Dann begann mein winziges Gefängnis plötzlich zu schwanken. Ich stieß einen Schrei aus, und ein vielstimmiges „Psssst!“ antwortete mir.
Die Wohnungstür quietschte, und ich wurde hinausgetragen. Ich machte mich steif und stemmte die Füße gegen das Blech. Jetzt mussten sie mich gleich durch das schmale Treppenhaus bugsieren. Offenbar waren die beiden Träger Profis. Sie manövrierten mich nach unten, ohne dass ich in Schieflage geriet. Dann hörte ich die Haustür und spürte, wie ich ins Freie gebracht wurde. Die Wölfin in mir hätte am liebsten den Deckel weggeschlagen, wäre aus dem Sarg gesprungen und davon gerannt. Ich bemühte mich, gleichmäßig zu atmen. Würde ich Sam jemals wiedersehen? Was, wenn sein Vater ihm nicht sagte, wohin man mich brachte? Ich blinzelte. Tränen liefen mir aus den Augen und versickerten kitzelnd in meinen Haaren. Das typische Geräusch eines Kofferraums, der sich öffnete. Dann glitt mein Gefängnis wie auf Schienen ins Innere, und die Klappe fiel hinter mir zu.
Kaum hatte der Fahrer den Motor angelassen, als ich auch schon begann, mit der Faust gegen den Deckel zu klopfen.
„Kann ich raus?“ Zweistimmiges „Nein!“ Ich ließ die geballte Faust zurücksinken. Ich hasste Marcus mit all meiner Kraft. Was hatte er mir nur angetan! Ich wollte ihn jagen und zur Strecke bringen. Ich wollte ihm sein Herz aus der Brust reißen, ihm den Bauch aufschlitzen und ihn auf seine eigenen Eingeweide kotzen lassen. Die Wölfin zu reizen, war keine gute Idee, und das würde er noch zu spüren bekommen. Endlich hielt der Wagen, und der Motor ging aus. Ich spürte, wie ich ins Freie verladen wurde. Dann ging es schaukelnd ein paar Stufen hinab. Worte wurden gewechselt, eine Frau sprach, aber sie war zu weit entfernt und ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Eine Tür wurde geöffnet, mein Gefängnis schaukelte ein letztes Mal, und dann wurde ich abgestellt. Ich schlug den Deckel beiseite, blinzelte ins Licht und atmete tief durch. „Willkommen“, sagte eine Frau und hielt mir die Hand hin. „Ich bin Katja Eyrich, Ihre... nun ja... Gastgeberin.“ Ich ergriff die Hand der Frau und zog mich hoch.
„Anna Stubbe. Ich würde gerne sagen, ich freue mich, aber...“
„Schon gut.“ Katja lächelte mich an. Sie war eine zierliche Frau mit hellen Augen und langen haselnussbraunen Haaren, die ihr in anmutigen Wellen über die Schultern fielen. „Ich hoffe, Sie werden sich hier wohlfühlen“, sagte sie. „Im Rahmen Ihrer Möglichkeiten.“ Ich sah mich um. Ich befand mich in einer Art kleinem Pavillon. Ein paar Stufen führten von der Haustür hinunter in einen fünfeckigen Raum, der überraschend viele Fenster hatte. Es gab eine Küchenzeile, ein breites Bett, ein Sofa mit Fernseher, Schränke und Teppiche. Vor den Fenstern sah ich Bäume und Hecken. „Sie befinden sich in einem Anbau hinter unserem Haus“, erklärte Katja. „Das Grundstück ist komplett zugewachsen; niemand kann Sie sehen. Sie können also durchaus in den Garten gehen, wenn Ihnen danach ist. Nur auf keinen Fall nach vorne zur Straße, wegen der Nachbarn. Und auch nicht nach vorne ins Haupthaus, dort ist es nicht sicher.“ Sie gab mir ein älteres Klapphandy. „Es sind einige Nummern eingespeichert. Sie können es benutzen, aber seien Sie vorsichtig, wen Sie anrufen. Sie müssen so wenig Spuren wie möglich hinterlassen.“ Ich bedankte mich, und sie lächelte. „Ich bringe Ihnen etwas zum Anziehen, und wenn Sie mir einen Einkaufszettel schreiben, besorge ich Ihnen etwas zu essen. Wir waren hier leider nicht auf einen Gast eingerichtet...“ Mir wurde unangenehm bewusst, wie abhängig ich plötzlich von dieser Frau war, die ich gar nicht kannte.
„Sie sind aber keine Wandlerin?“, fragte ich. „Nein, nur eine Eingeweihte. Eine alte Bekannte von Andreas – von seiner verstorbenen Frau genau genommen.“ Die Bestatter verabschiedeten sich. Sie legten den Deckel wieder auf den Blechsarg und taten so, als sei er schwer, als sie ihn wieder in den Wagen luden. Ich sah von der Tür aus zu. Den Kiesweg, der hinauf zur Straße führte, durfte ich nicht mehr betreten. „Wie soll ich hier jemals wieder wegkommen?“, fragte ich. „Es wäre doch viel zu auffällig, den Bestatter zweimal zu nutzen.“
„Das sehen wir, wenn es soweit ist.“ Katja tätschelte mir beruhigend die Schulter. „Andreas hat eine Krisensitzung einberufen. Wenn ein Rudel Werwölfe in der Gegend randaliert, betrifft das mehr als nur Ihre Sicherheit.“
„Ich möchte dabei sein.“
„Das geht nicht. Wir können nicht zehn Mann hier einschleusen, ohne dass es auffällig ist, und Sie werden dieses Haus zunächst nicht verlassen. Außerdem ist es sicherer, wenn die anderen Wächter gar nicht wissen, wo Sie sich aufhalten.“ Ich seufzte tief. „Richten Sie sich ein“, schlug Katja vor. „Machen Sie es sich bequem. Ein paar Tage werden Sie jedenfalls hierbleiben.“
Es wurden die längsten „paar Tage“ meines Lebens. Die kleine Wohnung hatte alles, was man brauchte: Internetanschluss, eine DVD-Sammlung, Badewanne, ein Regal voller Bücher, sogar einen kleinen Heimtrainer, nur eines nicht: Freiheit. Einmal am Tag kam Katja, um nach dem Rechten zu sehen und mich mit Informationen zu versorgen. Außerdem brachte sie mir Lebensmittel und zwei Tüten voller Klamotten, eine Komplettausstattung vom Sweatshirt bis zu den Socken. Natürlich war ich ihr dankbar, aber gleichzeitig unglücklich. Ich vermisste meine eigenen Klamotten, meine hübsche Studentenwohnung, die Uni.
Ich vermisste Sam. Zwei Tage lang ging er nicht ans Telefon. Endlich, am dritten, hob er ab.
„Sam! Wo warst du! Warum bist du nicht rangegangen!“
„Mein Vater hat mein Handy einbehalten. Er hatte Angst, dass etwas nachverfolgt wird, wenn wir telefonieren. Wie geht’s dir?“
„Ich drehe durch. Katja erzählt mir dies und das, aber sie weiß auch nicht viel...“
„Ja. Die Besprechung war auch nur für Wächter.“
„Was ist los? Was passiert gerade?“ Ich hörte ihn seufzen. „Nicht viel. Seit dem Überfall auf dich haben wir keine Spur mehr von dem fremden Rudel. Wir wissen nicht, wie viele es sind, oder was sie planen. Wir beschatten deinen Unterschlupf, aber noch hat sich niemand dort blicken lassen. Die Idee war, dich außer Landes zu bringen, aber wir wissen nicht, wie hoch das Risiko dabei ist...“
„Ich will nicht außer Landes!“
„Ich weiß, Anna. Das wird auch vorerst nicht passieren.“
„Was ist denn der Plan?“
„Abwarten.“
Ich stöhnte. „Und wie lange?“
„Weiß ich nicht, Anna. Der Orden arbeitet an dem Problem und holt sich Verstärkung. Es ist nur... niemand war wirklich auf diese Ereignisse vorbereitet. In Deutschland hat es seit dreißig Jahren keinen Vorfall mehr gegeben. Viele Wächter sind alt, und sie haben es versäumt, sich um die Nachfolge zu kümmern.“
„Oder sie sind ausgestiegen, wie dein Vater.“
„Genau. Jedenfalls haben wir Kontakt mit den Venatio in England aufgenommen, und es gibt auch eine kleine Gruppe irgendwo hinter der deutsch-französischen Grenze. Wir stehen nicht alleine da, aber sonderlich gut aufgestellt sind wir leider trotzdem nicht.“
„Wann sehe ich dich?“
„Sobald ich herausgefunden habe, wohin sie dich gebracht haben.“
„Sachsenhausen. Ein Haus mit ziemlich zugewuchertem Garten und hohen Hecken. Nach hinten raus hat es einen Anbau.“
„Das könnte dort überall sein.“
„Sag deinem Vater, ich laufe Amok, wenn ich nicht ein bisschen Gesellschaft bekomme!“
„Ich tue, was ich kann. Ich muss Schluss machen. Bis bald, Anna.“
„Bis bald.“ Ich drückte auf den kleinen roten Knopf und nahm das Handy mit vor den Computer. Im Internet rief ich nach dem Zufallsprinzip Landkarten auf und zoomte mich ran, bis einzelne Orte erkennbar wurden.
Asien, Thailand, Lat Yao. Dort war es jetzt bereits Abend. Die Bilder zeigten eine typische thailändische Bezirkshauptstadt: staubige Straßen, klapprige Kleinlaster, Palmen und das irritierende Nebeneinander von hohen Glaspalästen und einfachen Hütten.
Doch lieber irgendwo am Meer. Ich suchte auf der Karte die kleine Inselkette entlang der thailändischen Küste ab, bis ich nach Vietnam kam, dann wieder zurück. Ko Chang im Golf von Thailand, die drittgrößte Insel, schneeweiße Strände, glasklares Wasser, Palmen, Wasserfälle und Korallenriffe im Meer vor der Küste. Ob die Wölfin sich dort wohlfühlen würde? Wenn ich schon das Land verlassen musste, so beschloss ich, dann richtig. Ich würde mich nicht in einem Ferienhäuschen in Dänemark verstecken und von September bis Mai vor mich hin frieren. Ich würde die schönsten Winkel der Welt besuchen. Ich googelte Amazonas. Im Laufe der vielen Jahre hatte ich mir sieben Sprachen angeeignet, Spanisch gehörte dazu. Thailändisch sprach ich noch nicht, aber dort würde ich mit Englisch ganz gut durchkommen. Ich hatte die Wahl. Die ganze Welt legte sich mir zu Füßen. Ich musste nur Sam aus meinem Kopf bekommen. Mein Leben war viel zu lang, um es nur im guten alten Europa zu verbringen. Ich legte mich aufs Sofa und umarmte Sams T-Shirt, das er mir für die Flucht geliehen hatte. Meine feine Wolfsnase spürte noch Reste seines Geruches darin. Obwohl ich wusste, dass es besser für alle war, wenn wir uns nicht sahen, liefen mir die Tränen über die Wangen. Ich legte mir eine DVD mit einem kitschigen Liebesfilm ein und weinte mich in den Schlaf.