Читать книгу Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation - Katrin Bekes - Страница 7
ОглавлениеDie Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) – im Volksmund auch Kreidezähne genannt – beschäftigt nun seit vielen Jahren die Kinder- und Jugendzahnheilkunde. Zu Beginn nahezu als Zufallsbefund abgetan, hat dieses Krankheitsbild mittlerweile aufgrund beachtenswerter Prävalenzzahlen eine hohe klinische Relevanz erreicht.
Das vorliegende Kapitel informiert über die Genese der Erforschung dieses Krankheitsbildes, gibt einen Einblick, wann erstmals dem Formenkreis der MIH zuzuordnende Hypomineralisationen wissenschaftlich erwähnt worden sind und wie es zu der Begriffsfindung kam.
1.1 Erste klinische Erwähnung der MIH
In der Kinderzahnheilkunde ist das Phänomen MIH nicht neu. Bereits 2001 wurde der Terminus in die Fachliteratur aufgenommen und eine Definition erarbeitet1. Genau genommen handelte es sich jedoch auch zum damaligen Zeitpunkt schon nicht um das Auftreten einer neuartigen Erkrankung. Erstmalig klinisch aufmerksam wurde man auf das Krankheitsbild bereits am Ende der 1970er-Jahre. Zu dieser Zeit berichteten Zahnärzte des Öffentlichen Zahnärztlichen Dienstes in Schweden über eine ungewöhnlich hohe und wachsende Zahl von Kindern mit ausgedehnten, abgegrenzten, schweren Schmelzhypomineralisationen unbekannter Ätiologie an den ersten permanenten Molaren und Schneidezähnen (Abb. 1-1). Die Schmelzdefekte waren aufgrund der extremen Empfindlichkeit schwer zu behandeln und zu reinigen2. Dies gab Anlass zur Initiation einer ersten epidemiologischen Studie, die von Koch et al. 1987 veröffentlicht wurde3. In dieser wurden die Prävalenz, die Ausdehnung und die Schwere der Defekte bei 8- bis 15-jährigen Kindern analysiert. Es zeigte sich, dass je nach Geburtsjahrgang die Strukturstörungen in einer Häufigkeit von bis zu 15 % auftraten. Weiterhin stellte sich heraus, dass es sich bei den am stärksten betroffenen Zähnen um die ersten permanenten Molaren handelte. Zudem war pro Kind meist mehr als ein Molar betroffen. Da die Strukturstörungen zum damaligen Zeitpunkt nicht in die herkömmliche ätiologische Einteilung passten, wurden sie als „idiopathische Schmelzhypomineralisationen der bleibenden Zähne“ beschrieben3. Eine zuverlässige Begründung oder Lösung dafür, warum es gerade in einem der Geburtsjahrgänge eine viel höhere Prävalenz von MIH-befallenen Zähnen gab, konnte zu diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht gefunden werden.
Abb. 1-1 Patientenfall mit abgegrenzten Hypomineralisationen an einem ersten bleibenden Molaren, die heute einer MIH zuzuordnen sind, aus der schwedischen Studie von 1987 (Quelle: Koch et al.3; mit freundlicher Genehmigung von Wiley).
Der eigenständige Begriff Molaren-InzisivenHypomineralisation fand dann – wie oben bereits erwähnt – im Jahr 2001 Eingang in die Literatur1. Vorangegangen war ein Jahr zuvor der 5. Kongress der European Academy for Paediatric Dentistry (EAPD) in Bergen, Norwegen. Dort thematisierten vier Abstracts aus drei Arbeitsgruppen Schmelzstrukturstörungen an ersten bleibenden Molaren unabhängig voneinander4-7. Damals bezeichneten die Autoren die Defekte als „hypomineralisierte permanente erste Molaren“, „idiopathische Schmelzhypomineralisation an den permanenten ersten Molaren“, „nicht fluoridbedingte Hypomineralisation an den permanenten ersten Molaren“ oder „Käse-Molaren“ (cheese molars)1. Diese unterschiedlichen terminologischen Zuschreibungen veranlassten die Arbeitsgruppe, gemeinsam eine einheitliche Bezeichnung für das neuartige Krankheitsbild zu finden, um zukünftige Studien und Fallberichte vergleichbar zu machen. Aufgrund der unklaren Ätiologie wurden bei der Namensfindung sowohl das Verteilungsmuster als auch die Morphologie in den Vordergrund gestellt.
Definiert wird die MIH rezent als ein (systemischer) qualitativer Schmelzdefekt an einem oder mehreren 6-Jahr-Molaren mit oder ohne Beteiligung der bleibenden Schneidezähne (Abb. 1-2). Die Autoren einigten sich auf diese Definition, um zwei wichtige Punkte klarzustellen:
Abb. 1-2 MIH mit qualitativen Schmelzdefekten an mehreren 6-Jahr-Molaren mit Beteiligung der bleibenden Schneidezähne.
■ An dem Phänomen der MIH ist immer mindestens ein Molar beteiligt.
■ Eine Kombination von betroffenen Molaren mit abgegrenzten Opazitäten an den Schneidezähnen ist möglich, aber nicht erforderlich8.
Opazitäten, die nur an den Schneidezähnen auftreten, deuten auf eine andere Ursache hin und sollten deshalb nicht der MIH zugeordnet werden.
Auf dem 2 Jahre später stattfindenden Meeting der EAPD in Athen wurde nochmals bekräftigt, den gewählten Begriff einheitlich zu verwenden. Zudem wurden diagnostische Kriterien benannt, um eine Vergleichbarkeit in zukünftigen epidemiologischen Studien zu sichern8. Diese haben bis heute Bestand9 und werden in Kapitel 6 näher beschrieben und erläutert.
Seit dieser Zeit treibt nicht nur die Zahnärzteschaft, sondern auch die Patienten die Frage um, ob es sich bei der MIH wirklich um ein neues Erkrankungsbild handelt. Dies ist nicht leicht zu beantworten, zumal das Auftreten von Hypomineralisationen an Molaren und Inzisiven vor dem 20. Jahrhundert selten im Fokus der Forschung stand. Allerdings geben Funde aus dem 17. und 18. Jahrhundert von einem Friedhof in London (Großbritannien) Anlass zu Überlegungen, ob das Krankheitsbild der MIH vielleicht doch bereits in früheren Jahrhunderten auftrat10. Ogden et al. untersuchten Skelettfunde von 45 Jugendlichen und fanden interessanterweise bei 93,2 % der untersuchten Gebisse strukturgestörte Molaren, die Schmelzdysplasien oder MIH aufwiesen (Abb. 1-3). Ein Fallbericht aus dem 15. Jahrhundert scheint dies zu bestätigen11. Die zahnärztlichen Befunde bei der Untersuchung des Schädels zeigten Schmelzdefekte der Molaren 36 und 46 und kleine Defekte an den weiteren ersten Molaren. Weiterhin wurden Streifungen des Schmelzes bei den permanenten Inzisiven gefunden.
Abb. 1-3 Mittelalterlicher Skelettfund: a) vermutlich bestehende MIH an der Höckerspitze des ersten unteren Molaren, b) denkbare MIH des distobukkalen Höckers des unteren linken zweiten Milchmolaren (Quelle: Ogden et al.10; mit freundlicher Genehmigung von Springer).
Auch für Deutschland gibt es diesbezüglich empirische Daten, die die Aussage des manifesten Auftretens von MIH in der weiteren Vergangenheit indes ein wenig relativieren. Eine Studie an Skeletten des 12. bis 16. Jahrhunderts aus Regensburg und des 16. bis 18. Jahrhunderts aus Passau zeigte zwar das Auftreten von MIH, jedoch nur in einem sehr geringen prozentualen Anteil (3,2 %)12,13. Von den insgesamt 309 untersuchten Schädeln zeigten dabei sieben (2,2 %) mindestens einen Molaren mit einer zum Gesunden abgrenzbaren Opazität, die sich nach den Kriterien der EAPD einer MIH zuordnen ließe. Drei weitere Schädel (1,0 %) wiesen mindestens einen Zahn mit einem posteruptiven Schmelzeinbruch auf. Aufgrund der niedrigen Prävalenz schlussfolgerten die Autoren, dass MIH höchstwahrscheinlich nicht oder zumindest nur selten in den von ihnen untersuchten archäologischen Fallserien existierte. Die Vermutung liege also nahe, dass die MIH ein spezifisches Phänomen und therapeutisches Problem unseres Jahrhunderts sei.
Seit der Erstbeschreibung und der Definition der MIH als eigenständigen Krankheitsbilds ist viel geschehen. Das mediale Interesse an der Virulenz des Problems ist in den letzten Jahren gestiegen – sowohl in der Fach- als auch in der Laienpresse. Epidemiologisch und ätiologisch ausgerichtete Studien zur MIH sind in den letzten Jahrzehnten zahlreich erschienen. Dies zeigt, dass weltweit an dem Krankheitsbild geforscht wird. Weil international standardisierte Diagnosekriterien verfügbar sind, können Prävalenzdaten vergleichbar dokumentiert werden.
Großer Forschungsbedarf besteht indes immer noch in den Bereichen der Ätiologie und der Therapie. Die ursächlichen Faktoren der Erkrankungen sind trotz zahlreicher Untersuchungen mit zum Teil kontroversen Ergebnissen weiterhin unklar. Ein großes Problem besteht darin, dass die MIH erst klinisch sichtbar wird, wenn die Eruption der betroffenen Zähne in die Mundhöhle einsetzt. Diese findet jedoch erst einige Jahre nach der Schmelzbildung statt und somit auch lange Zeit nach der Schädigung. Vielfach publizierte retrospektive Studien sind deshalb limitierend und bergen die Gefahr der Fehlinterpretation von Ergebnissen. Prospektive, randomisierte Studien fehlen derzeit, wären aber immens wichtig. Folglich muss es in den nächsten Jahren das Ziel sein, weiter verstärkt in diesem Teilbereich zu forschen.
Im Hinblick auf die Therapie der MIH hat das benötigte Wissen um die Symptomatik des Krankheitsbilds – wie posteruptive Schmelzeinbrüche oder Hypersensibilitäten – stark zugenommen, und im Rahmen ihrer Behandlung konnten auch immense Fortschritte erzielt werden. Dennoch besteht großer Bedarf an klinischen Studien, um vorliegende Versorgungskonzepte auch in randomisierten klinischen Studien zu verfeinern und sinnvoll zu ergänzen. Zudem muss es im Bereich der Grundlagenforschung in den nächsten Jahren das Ziel sein, Maßnahmen und Lösungen zur Stabilisierung der weichen Zahnhartsubstanz zu entwickeln.
1. Weerheijm KL, Jälevik B, Alaluusua S. Molar-incisor hypomineralisation. Caries Res 2001;35: 390-391.
2. Koch G. MIH – An Introduction. In: Bekes K (Hg). Molar Incisor Hypomineralization – A Clinical Guide to Diagnosis and Treatment. Cham: Springer, 2020.
3. Koch G, Hallonsten AL, Ludvigsson N, Hansson BO, Holst A et al. Epidemiologic study of idiopathic enamel hypomineralization in permanent teeth of Swedish children. Community Dent Oral Epidemiol 1987;15:279-285.
4. Weerheijm KL, Groen HJ, Beentjes VEVM. Prevalence in 11-year-old Dutch children of cheese molars. Eur J Paediatr Dent 2000;3:129.
5. Leppäniemi A, Lukinmaa PL, Alaluusua S. Nonfluoride hypomineralization in the permanent first molars. Eur J Paediatr Dent 2000;3:128.
6. Jälevik B, Klingberg G, Norén JG, Barregård L. Epidemiological study of idiopathic enamel hypomineralisation in permanent first molars. Eur J Paediatr Dent 2000;3:128.
7. Beentjes VEVM, Weerheijm KL, Groen HJ. A match-control study into the aetiology of hypomineralized first permanent molars. Eur J Paediatr Dent 2000;3:123.
8. Weerheijm KL, Duggal M, Mejare I, Papagiannoulis L, Koch G et al. Judgement criteria for molar incisor hypomineralisation (MIH) in epidemiologic studies: a summary of the European meeting on MIH held in Athens, 2003. Eur J Paediatr Dent 2003;4:110-113.
9. Lygidakis NA, Wong F, Jalevik B, Vierrou AM, Alaluusua S et al. Best Clinical Practice Guidance for clinicians dealing with children presenting with MolarIncisor-Hypomineralisation (MIH): An EAPD Policy Document. Eur Arch Paediatr Dent 2010;11:75-81.
10. Ogden AR, Pinhasi R, White WJ. Nothing new under the heavens: MIH in the past? Eur Arch Paediatr Dent 2008;9:166-171.
11. Curzon ME, Ogden AR, Williams-Ward M, Cleaton-Jones PE. Case report: A medieval case of molar-incisor-hypomineralisation. Br Dent J 2015;219:583-587.
12. Kühnisch J. Was molar-incisor hypomineralisation (MIH) present in archeological case series? Clin Oral Investig 2017;21:2155-2156.
13. Lauenstein A. Zahnärztlich-anthropologische Untersuchung zur Häufigkeit von Karies und Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation in prähistorischen Schädelserien. Med. Diss., Ludwig-Maximilians-Universität. München, 2013.