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Zürich – 21.06.

Noch nie hatte Eva die Nacht im Hotel verbracht. Die weiße Bettwäsche, ein Tisch, ein Stuhl, das Bild an der Wand. Alles kam ihr vertraut vor. Es war die Kulisse ihrer inszenierten Zweisamkeit mit Frank. Die Bühne, die sie verließ, sobald der Vorhang fiel. Jetzt blitzte die Morgensonne durch die geschlossenen Gardinen.

Warum war sie in den Zug nach Zürich gestiegen? Weder Ruben noch Bernd wussten, wo sie war. Ob sie sich Sorgen machten? Eva schloss die Augen. Sah sich auf dem Bahnsteig in Stuttgart stehen. Tanja saß schon im ICE, der sie nach Berlin bringen würde, zurück in ihr aufregendes Leben, zu den Künstlerfreunden, Vernissagen und Treffen mit wichtigen Leuten der Kulturbranche. Durchs Fenster winkte ihr die Freundin zu. Die Türen schlossen sich, einen kurzen Moment noch sah Eva Tanjas lachendes Gesicht. Ein Kind lief neben dem schon fahrenden Zug her, es wedelte mit den Armen. Hinter ihm die Mutter, die es schließlich an der Hand nahm. Eva drehte sich langsam um. Sie steuerte den Nordausgang an, um zurück zu ihrem Auto zu kommen.

Ein Luftzug bewegte die dunkle Gardine. Eva setzte sich auf und schaute auf die Uhr. Kurz vor neun. Sie hatte fast zwölf Stunden geschlafen. Aus einem der Nachbarzimmer drangen Stimmen, irgendwo rauschte eine Dusche. Menschen, die im Urlaub waren oder auf Geschäftsreise. Sie würden Termine wahrnehmen, vielleicht auch einfach durch die Stadt bummeln und mit Freunden in einem Straßencafé sitzen. Plötzlich spürte Eva, wie hungrig sie war. Seit dem belegten Brötchen, das sie sich im Zug gekauft hatte, hatte sie nichts mehr gegessen. Sie wusch sich, schnüffelte an ihrem Kleid. Am Abend zuvor hatte sie es zum Lüften an die Garderobe gehängt hatte. Es würde wohl noch einmal gehen. Vom Stuhl nahm sie die dünne Strickjacke, dann schloss sie das Zimmer ab und stieg die Treppe nach unten.

Im Frühstücksraum waren fast alle Plätze belegt. Hinten in einer Ecke entdeckte Eva noch einen freien Tisch. Sie nahm sich ein Exemplar der Neuen Zürcher Zeitung von einem Stapel am Eingang, legte es ordentlich neben eins der Gedecke. Ihre Strickjacke hängte sie an die Stuhllehne.

»Entschuldigen Sie, würde es Sie derangieren, wenn ich mich zu Ihnen setze?«

Vor dem Tisch stand eine ältere Dame mit sorgsam gelegten blondierten Haaren. Eva wies mit der Hand auf die restlichen Gedecke.

»Nein, kein Problem. Es ist alles frei.«

Die Ältere bedankte sich und platzierte ein teuer aussehendes Handtäschchen neben einer der Tassen. Gemeinsam brachen sie zum Buffet auf. Eva schaute sich um, überlegte, was sie essen sollte. Die alte Dame ging zielstrebig auf eine Seite zu. Croissants, verschiedene Brötchensorten, Toast. Eva nahm sich einen Teller.

»Wenn ich Ihnen etwas empfehlen darf: Hier drin sind die besonders gluschtigen Sachen.«

Sie zeigte auf einen Korb mit süßem Gebäck.

»Die Nussgipfel sind herrlich!«

Eva nahm sich eins der Teilchen und lud noch ein Croissant und ein Brötchen auf ihren Teller. Die Dame schien sich auszukennen. Mit sicherem Griff sammelte sie alle möglichen Leckereien zusammen und trug sie nach und nach zum Tisch. Eva nahm sich ein Kännchen heiße Milch und einen Beutel Ovomaltine. Zurück an ihrem Platz, sah sie, dass ihre Tischnachbarin das Frühstück wie ein Kunstwerk vor sich aufgebaut hatte: Den Nussgipfel in der Mitte, eine Teekanne, Ei, Brötchen, Marmeladenschälchen, Butterstücke auf einem kleinen Teller. Kerzengerade saß sie da, im grünen Samtjäckchen, als wäre sie eine Kompaniechefin und die bunten Köstlichkeiten vor ihr die Truppe, die sie befehligte.

Eva setzte sich, rührte Ovomaltine in ihre Milch. Musste sie jetzt etwas sagen? Ein Gespräch beginnen? Verstohlen blickte sie auf das Titelblatt der Zeitung. Ihr Gegenüber nahm ihr die Entscheidung ab.

»Sind Sie zum ersten Mal in Zürich?«

Eva nickte.

»Eigentlich bin ich auf dem Weg zu Freunden nach Italien.«

Sie hatte es gesagt, ohne nachzudenken. War es das, was sie wollte? Nach Italien fahren? Das Bagno, den Ort ihrer Kindheit, gab es nicht mehr. Der Betrieb existierte zwar weiter, aber die Familie Bertoni hatte damit nichts mehr zu tun. Außer vielleicht Signor Bertonis Schwester Alba. Ob sie immer noch in der Küche arbeitete? Wie alt mochte sie inzwischen sein? Nach dem Tod des Padrone hatte die Familie eine Zeit lang in Mailand gewohnt, doch inzwischen lebte nur noch die älteste Tochter Anna dort. Livia, Bertonis Frau, war, als ihre Mutter pflegebedürftig wurde, wieder in ihren Geburtsort Bozen gezogen. Die jüngste Tochter, Giulietta, folgte ihr nach dem Ende einer langjährigen Liebesbeziehung dorthin. Luisa, die mittlere der drei Töchter, war in Sizilien verheiratet.

Eva schaute wieder zu ihrer Tischnachbarin.

»Und Sie? Machen Sie Urlaub?«

»Ich gehe in die Oper. Figaros Hochzeit.«

Sie klapperte mit dem Löffel in ihrer Teetasse.

»Sie sollten auch in die Oper gehen. Oder in die Tonhalle. In Zürich wird wundervolle Musik gemacht.«

Die Ältere lächelte, biss genüsslich in ihren Nussgipfel und zeigte dann nach draußen.

»Es wird ein schöner Tag heute. Ein paar Wolken, vielleicht gibt’s später etwas Regen, aber wenn Sie Glück haben, scheint im Lauf des Vormittags die Sonne. Dann müssen Sie ins Großmünster gehen. Die Giacometti-Fenster strahlen, wenn die Sonne hindurch fällt!«

Eva bedankte sich für den Tipp, aß den Rest ihres Brötchens. Dann wünschte sie der Älteren noch einen schönen Tag und stand auf.

Vorn der Zürichsee, im Hintergrund schneebedeckte Gipfel. Ein Postkartenidyll. Touristen posierten für Fotos oder standen mit Eiswaffeln an der Brüstung der Aussichtsplattform. Eva fühlte sich fehl am Platz. Was wollte sie hier? Hatte sie gehofft, irgendeine wundersame Verbindung zu dem Ort zu spüren, an dem sie geboren war? Nachdem Bernd Zürich mit seiner neugeborenen Tochter verlassen hatte, waren sie nie wieder hier gewesen. Zu Signor Bertonis Bagno in Italien fuhren sie durch Österreich. Eva stellte keine Fragen. Sie ahnte, dass die Erinnerung an den Tod ihrer Mutter zu schmerzhaft für den Vater war. Wie war Marie genau gestorben? War Bernd in dem Moment bei ihr? Wo waren Maries Eltern? Eva wusste es nicht. Genau genommen konnte sie nicht einmal sicher sein, dass ihre Mutter tatsächlich tot war. Aber die Vorstellung, dass Marie noch leben könnte, barg zu viele Gefahren, als dass Eva sich je weiter in dieses Terrain gewagt hätte. Allein der Gedanke wäre ein Vertrauensbruch mit dem Vater gewesen. Wollte sie etwa sein Wort anzweifeln?

Eine Schulklasse, die lachend und lärmend auf die Aussichtsplattform stürmte, riss Eva aus ihren Gedanken. Sie schaute noch einmal zu den malerischen Bergspitzen in der Ferne. Dann drehte sie sich um, überquerte den Quai und bog in die Bahnhofstraße ein. Sie würde sich die Abfahrtszeiten der Züge notieren. Morgen wollte sie nach Hause fahren. Bernd würde den Kopf schütteln über ihre sinnlose Reiseaktion: Mensch, Eva!

In der Bahnhofshalle herrschte ein Gewirr aus Stimmen, Menschen eilten in verschiedene Richtungen. Koffer in allen Größen schepperten auf winzigen Rollen über den Steinfußboden. Das Kreischen von Bremsen, Ansagen aus Lautsprechern, der nie versiegende Strom der Reisenden. Bereits am Tag zuvor hatte Eva sich in dem Gewimmel unbehaglich gefühlt. Sie war normalerweise nur mit dem Auto unterwegs. Erst als sich am Stuttgarter Hauptbahnhof die Tür des Zuges hinter ihr geschlossen hatte, war ihr bewusst geworden, dass dies tatsächlich ihre allererste Bahnfahrt war. Die Fahrkarte noch in der Hand, hatte Eva den Großraumwagen betreten und sich auf einen der nächstgelegenen Sitzplätze gesetzt. Kurz darauf kam ein Mann mit einem schweren Koffer, den er über Eva auf die Gepäckablage hievte.

»Sie sitzen auf meinem Platz.«

Er wedelte mit seiner Fahrkarte, hielt sie Eva hin. Schnell erhob sie sich. Sie murmelte eine Entschuldigung und ging weiter durch den Wagen. Jetzt fielen ihr die Reservierungsschilder über den Sitzplätzen auf. Eva überlegte, ob sie sich einfach in den Gang stellen sollte. Wie lange dauerte die Fahrt bis Zürich? Konnte sie die ganze Zeit stehen? Schließlich setzte sie sich auf einen Platz, über dem Gegebenenfalls freigeben stand. Bei jedem Halt hatte sie Angst, es könnte wieder jemand kommen und sie darauf hinweisen, dass sie zu Unrecht hier saß. Erst wenn der Zug wieder Fahrt aufgenommen hatte, entspannte sie sich. Neben ihr saß eine füllige Frau in pinkfarbenem T-Shirt. Sie blätterte in einer Zeitschrift. Aus einer großen Tasche, die zwischen ihren Füßen stand, zog sie nach und nach einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Verpflegung hervor. Wurstbrote, Schokoriegel, eine matschig gewordene Banane, Kekse, Salzstangen. Der Geruch des Essens mischte sich mit dem leichten Schweißgeruch der Frau. Eva rückte etwas zur Seite. Zu weit nach außen konnte sie allerdings auch nicht rutschen, da auf der anderen Seite ein Mädchen auf dem Sitz lag, dessen Füße über die Armlehne in den Gang ragten. Sollte sie noch einmal aufstehen und sich einen anderen Platz suchen? Womöglich hielt der Zug gleich wieder, eine Menge Leute stiegen ein, und dann wäre nirgends mehr etwas frei. Besser blieb sie hier sitzen. Welche Enge in so einem Zug herrschte. Hätte sie doch ihr Auto genommen! Irgendwann stand sie auf und folgte den Hinweisschildern zum Speisewagen. Sie kaufte ein belegtes Brötchen, aß es stehend im Gang zwischen zwei Waggons. Als ihr Rücken zu schmerzen begann, ging sie zurück zu ihrem Platz. Die drei Stunden Fahrt kamen Eva ewig vor. Dann stand sie am Zürcher Hauptbahnhof. Ohne Ziel, ohne Plan. Am liebsten wäre sie sofort wieder nach Hause gefahren. Aber die Vorstellung, weitere drei Stunden in einem Zug zu verbringen, erschien ihr unerträglich. So war sie einfach losgelaufen. Hatte das Hotel entdeckt und ein Zimmer gebucht.

Eva studierte die Tafel mit den Abfahrtszeiten, schrieb mögliche Zugverbindungen auf einen Zettel. Dann besorgte sie sich in einem Kiosk einen kleinen Stadtplan. Wenigstens das Großmünster, das ihr die Dame beim Frühstück so ans Herz gelegt hatte, wollte sie besichtigen.

Sie öffnete die schwere Tür. Über dem Halbdunkel des Kirchenraums mit seinen braunen Holzbänken wirkte die Decke im einfallenden Sonnenlicht hell, fast weiß. Eva wandte sich nach links zum Chorraum. Jetzt sah sie sie. Drei hohe Fenster. Ein Meer aus Farben. Das Gewand der Gottesmutter blau, leuchtend. Wie das Meer an einem hellen Frühlingstag. Sie dachte an Signor Bertonis Bagno. Die morgendliche Kühle, kleine Wellen, die an den Strand schwappten. Über ihr der Himmel, weit und offen. Hatten ihre Eltern ihn auch so gesehen, damals in dem Sommer vor Evas Geburt? Der Deutsche und die Schweizerin, zwei junge Menschen, die sich kaum kannten. Was hatte ihre Mutter gedacht, als der blonde Junge mit dem Moped auf den Hof ihrer Eltern gefahren kam und um ein Nachtlager in der Scheune bat? Hatte er ihr gleich gefallen? Und er? War er müde gewesen von der langen Fahrt? In Gedanken schon am Mittelmeer? Er sah nicht viel von ihr an diesem Abend, die Bäuerin schickte ihre Tochter nach drinnen. Es sollte noch Marmelade eingekocht werden. Eva kannte die Geschichte, jedes Detail, sie hatte sich als Kind gern die riesigen Töpfe mit Himbeermarmelade auf dem alten gusseisernen Herd vorgestellt. Wieder und wieder hatte sie ihren Vater gefragt, wie es war, als er die Mutter traf. Marie kam in der Nacht. Legte sich zu ihm und blieb. Noch bevor es hell wurde, fuhren sie gemeinsam los. Immer weiter Richtung Süden, der Sonne und der Freiheit entgegen. Dann das Bagno. Eva sah die Terrasse vor sich, die Liegestühle am Strand, die sie mit dem Vater so oft geputzt, repariert oder neu angestrichen hatte. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie den Duft des Pinienwäldchens riechen, in dem Bernd und Marie ihr Zelt aufgebaut hatten. Pinienzapfen, wilder Rosmarin und Thymian auf warmem sandigen Boden. Ihre Eltern hatten sich in diesem Duft geliebt. Gemeinsam waren sie am Strand spazieren gegangen, unter tausend Sternen, über ihnen der Himmel, weit und blau wie der Mantel der Gottesmutter. Eva schaute wieder zu dem großen Fenster, das die Sonne in seiner Farbigkeit erstrahlen ließ. Die Mutter. Wie sah sie aus? Eva besaß kein einziges Bild von ihr. Es gab keines, sagte Bernd. Marie hasste es, fotografiert zu werden.

Von hinten war Geraschel zu hören. Eva drehte sich um. Ein Mann und eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Die Mutter gab dem Kleinen ein Stück Brot aus einer Papiertüte. Der Vater holte einen Reiseführer hervor und begann, den Kopf zu seiner Frau geneigt, leise vorzulesen. Eva versuchte, zu erhaschen, welche Sprache er sprach. Auf jeden Fall etwas Osteuropäisches. Das Kind wedelte mit dem Arm, warf das Stück Brot auf den Boden und fing lautstark an zu brabbeln.

Eva setzte sich in eine der Bänke, blickte wieder auf das bunte Fenster. Kinderbilder. Schon oft hatte sie gedacht, dass es Bilder von ihrer Mutter als Kind geben müsste. Aus einer Zeit, in der sie sich noch nicht vor der Kamera versteckte. Fotos, die der stolze Vater von seiner Frau und dem Neugeborenen gemacht hatte. Familienbilder von Weihnachts- und Geburtstagsfesten, eingeklebt in Alben, immer wieder hervorgeholt und kopfschüttelnd betrachtet: Weißt du noch …? Dokumente eines jäh abgerissenen Familienlebens.

Eva stand auf. Sie wandte sich zum Gehen. Das Kind hatte zu weinen begonnen. Mit sanften Bewegungen schaukelte die Mutter es auf dem Arm. Sie raschelte wieder mit der Brottüte, holte ein neues Stückchen heraus. Eva drehte sich noch einmal zu der leuchtend blauen Madonna um. Die Gottesmutter hatte den Kopf leicht geneigt, die Hände zur Segensgeste erhoben. Das Kind zu ihren Füßen, nackt, unschuldig, schaute zu ihr empor. Eva lächelte. Sie legte die Hände schützend auf ihren Bauch. Im Hinausgehen sah sie, wie das nächste Stück Brot ebenfalls zu Boden fiel. Sie hörte das Kind lachen.

Als sie aus der Kirche trat, war der Himmel bedeckt. Eva schaute über den Platz zu der dahinter liegenden Fußgängerzone. Sollte sie einfach weiter durch die Stadt gehen? Rechts neben dem Eingang zum Großmünster stand ein Tor offen. Der Eingang zum Kreuzgang des früheren Chorherrenstifts. Stufen führten nach oben zu einer weiteren Tür. Eva öffnete sie und trat ein.

In der Mitte des Kreuzgangs plätscherte leise ein Brunnen. Die Beete waren üppig mit Kräutern und blühenden Stauden bepflanzt. Eva setzte sich auf einen der grünen Stühle, die vor den Arkaden standen. War ihre Mutter auch hierhergekommen? Marie ging in Zürich aufs Gymnasium. Vielleicht hatte sie manchmal hier gesessen, so wie Eva jetzt? Was sie wohl für ein Mensch gewesen war? Immer wieder hatte Eva sich ausgemalt, wie es wäre, wenn ihre Mutter noch lebte. Bernd hatte nie von ihrem Begräbnis erzählt. Überhaupt berichtete er wenig Konkretes, wenn es um seine Abreise aus Zürich ging. Als Jugendliche versuchte Eva nachzubohren. Sie wollte genau wissen, was damals passiert war. Der Vater blieb einsilbig.

»Ich musste weg.«

Er schüttelte den Kopf, machte eine wegwerfende Handbewegung, wenn Eva weiter fragte.

»Mit diesen Leuten konnte man nicht vernünftig reden.«

Wen er damit meinte, war Eva nicht ganz klar. Maries Eltern? Die Menschen aus ihrem Dorf? Das Personal der Frauenklinik?

»Wie bist du zurück nach Hause gefahren? Mit einem Baby auf dem Moped, das ging doch gar nicht.«

Bernd grinste spitzbübisch und hielt einen Daumen hoch.

»Per Anhalter. Ein LKW-Fahrer hat uns mitgenommen. Du lagst hinten in seiner Koje und hast friedlich geschlafen.«

»Und das Moped?«

Der Vater zuckte die Schultern.

»Das ist auf dem Hof geblieben. Es ging nicht anders. War eben ein Notfall.«

Damit war das Gespräch beendet. Mehr brachte Eva nicht aus ihm heraus, so sehr sie sich auch bemühte.

Die Tür öffnete sich und eine japanische Reisegruppe betrat den Kreuzgang. Die Männer trugen Sonnenhütchen aus Segeltuch, einige Frauen hatten Schirme aufgespannt. Zügig umrundeten sie den Arkadengang, schauten einmal auf die Beete in der Mitte. Kameras klickten. Dann verschwand die Gruppe wieder. Leise hörte Eva das Klacken der Holztür. Wie still es hier war. Die Stadt schien nicht zu existieren. Zwischen den Arkaden zierten Figuren die Wände. Tierköpfe, maskenhafte menschliche Gesichter, Fabelwesen. Sie blickten in den Innenhof, ihr Ausdruck unverändert seit Jahrhunderten.

Eva stand auf und begann, die Tafeln an den Wänden unter den Arkaden zu lesen. Die Legende der Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula wurde dort erzählt. Es gab Tafeln zur Baugeschichte des Großmünsters, über das Leben Huldrych Zwinglis und die Entwicklung der Reformation in Zürich. Obwohl ihr Rücken schon nach kurzer Zeit schmerzte, las Eva fast alle der ausgehängten Texte. Es schien ihr passend, dass gerade hier die Gründungslegende, die religiöse Geschichte und Identität der Stadt bewahrt wurden. An diesem Ort, der sich der Bewegtheit des Lebens draußen, der ständigen Veränderung entgegenstellte. Nachdem sie die Arkaden einmal umrundet hatte, setzte sie sich wieder, horchte auf das leise Plätschern des Brunnens. Sie genoss die Ruhe um sie herum. Nur das kleine blaue Himmelsviereck über ihr ließ erahnen, dass es eine Welt außerhalb der schützenden Mauern gab.

Wieder ging die Tür auf. Die nächste Reisegruppe. Diesmal waren es Italiener. Eine junge Frau erklärte mit lauter Stimme, was zu sehen war. Köpfe wandten sich nach links und rechts. Eva stand auf.

»Permesso!«

Sie schob sich an zwei älteren Damen vorbei und öffnete die Holztür. Von hier oben aus betrachtet, sah das schmiedeeiserne Tor am Ende der Stufen mehr wie ein Zaun aus. Wozu brauchte man es überhaupt? Die Tür schien schwer genug, um Eindringlinge abzuwehren. Nachts war sie bestimmt abgeschlossen. Eva trat durch das Tor auf den Platz vor dem Münster. Sie holte den Stadtplan aus ihrer Tasche. Der See, das blaue Band der Limmat, an deren Ufern sich die Altstadt erstreckte. Du kennst den Plan, hatte Ruben gesagt. Und bestimmt weißt du immer, wo Norden ist. Was nützte ihr das jetzt? Die Straßennamen sagten ihr nichts, eine Himmelsrichtung war so gut wie die andere. Sie faltete das Blatt wieder zusammen. Zögernd ging sie vom Großmünster in Richtung Oberdorf. Ein leichter Wind war aufgekommen. Am Himmel waren einzelne, schnell ziehende Wolken zu sehen. Ziellos ging Eva durch Straßen und Gassen, kreuzte immer wieder die Oberdorfstraße, bog bald hierhin, bald dorthin ab. Sie versuchte, die Umgebung mit Rubens Augen zu sehen.

»Jede Stadt atmet in ihrem Rhythmus. Jede hat ihre eigene Melodie, du musst sie nur hören.«

Ruben erzählte ihr von Buenos Aires, von Petersburg und Paris. Eva hörte ihm fasziniert zu. Besaß Stuttgart auch eine eigene Melodie? Eva hatte davon jedenfalls noch nichts bemerkt. Auch jetzt konnte sie die Magie aus Rubens Erzählungen nicht spüren. Im Strom der Touristen, die sich durch die Altstadt wälzten, fühlte sie sich fremd und allein.

Der Himmel zog weiter zu. Eva spürte, dass es anfing zu regnen. Dicke, schwere Tropfen. Sie überlegte, wo sie sich befand, hielt Ausschau nach einem Straßenschild. Ein Stück weiter vorn sah Eva ein erleuchtetes Fenster. Daneben eine Tür, an der ein großes rotes Schild hing: Theater Arbat. Sie schaute durchs Fenster. Ein kleiner Raum, die Wände bedeckt mit Fotos. Bühnenszenen, Porträts, Stadtansichten. Der Regen wurde stärker. Eva zögerte, dann drückte sie die Klinke herunter. Die Tür war offen, drinnen war niemand zu sehen. Von irgendwoher waren Geräusche zu hören. Sie würde sich nur kurz unterstellen, den ärgsten Regen abwarten. In dem kleinen Foyer standen mehrere hohe Bistrotische. Rechts konnte Eva durch eine halb offene Tür ein Stück Flur erkennen. Gegenüber der Eingangstür war vermutlich der Zugang zum Saal. Daneben türmten sich auf einer Holztheke Flyer und Prospekte. An der Saaltür hing ein großes Foto von Moskaus berühmter alter Straße, dem Arbat. Eva erkannte das niedrige türkisfarbene Puschkinhaus. Bulat Okudshawas Lied vom Arbat kam ihr in den Sinn. Sie summte den Beginn der Melodie.

»Ah, dich schickt Natascha!«

Der Mann stand in der Tür rechts. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Er kam ihr ungewöhnlich klein vor, seine braune Hose war ihm zu weit und zu lang, ein Gürtel hielt sie an der Hüfte zusammen. Die Ärmel des schwarzen Hemdes hatte er hochgekrempelt.

»Boshe moj! Gut, dass du da bist.«

Er sprach russisch. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Raum und zog einige Papierstapel hinter der Theke hervor.

»Isvini, entschuldige bitte, ich komme gleich wieder. Könntest du die hier solange schon sortieren?«

Ehe Eva etwas sagen konnte, war er zur Tür hinaus. Die Papierstapel hatte er auf einen der Bistrotische gelegt. Eva machte einen Schritt in den Raum, blieb wieder stehen, schaute nach draußen. Unvermindert prasselte der Regen auf die Straße. Sie ging zum Tisch und nahm einen der Stapel. Ein Stadtplanausschnitt, auf dem der Weg von einem Hotel im Westen Zürichs zum Theater eingetragen war. Daneben ein Blatt, das mit Dobro poshalowat¡Bienvenidos!Herzlich willkommen! überschrieben war. Ein Proben- und Ablaufplan, eine Besetzungsliste, eine Übersicht über diverse Workshops und Veranstaltungen. Eva begann, Päckchen mit je einem Exemplar jedes Blattes zu packen.

»Spasibo bolschoe, vielen Dank!«

Wieder war er eingetreten, ohne dass sie ihn gehört hatte. Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Ich bin Sergej.«

»Sdrawstwujte, guten Tag, ich heiße Eva.«

Sie hörte ihre eigene Stimme, aber es war, als spräche jemand anderes. Noch nie hatte sie sich in einer fremden Sprache mit jemandem unterhalten. Sie gab ihm die Hand.

»Du bist nicht Irina? Natascha sagte …«

Entschuldigend deutete Eva nach draußen.

»Ich wollte mich nur kurz vor dem Regen unterstellen.«

Sergej schaute auf die nasse Straße hinaus, nickte. Dann bemerkte er ihren Bauch.

»Oh verzeih, willst du dich nicht setzen?«

Er holte zwei Hocker hinter der Theke hervor und setzte sich ihr gegenüber. Erst jetzt merkte Eva, wie ihre Beine schmerzten. Sie nahm eines der frisch sortierten Zettelpäckchen und reichte es ihm.

»Bekommen Sie Besuch aus Spanien?«

»Hör auf, mich zu siezen, sonst fühle ich mich alt.«

Er lachte. Dann strich er sich über die langen Haare, nahm Eva das Zettelpaket ab und wedelte damit durch die Luft.

»Ja, die Kollegen vom Teatro Cervantes kommen übermorgen, und Natascha liegt mit Lungenentzündung in der Klinik. Katastrophe – beides! Ihre Freundin Irina sollte längst da sein. Wo ist sie?«

Er hielt einen Moment inne, als erwarte er, dass Irina zur Tür hereinkam. Dann zuckte er die Achseln und schaute Eva an.

»Du kannst nicht zufällig Spanisch?«

»Doch.«

„Ein Wunder!“

Sergej strahlte. Er ergriff Evas Hände.

»Wenn du in den nächsten Tagen Zeit hast, könntest du ein einmaliges Theaterprojekt vor dem Untergang bewahren!«

»Ich habe nichts vor.«

Sie hatte es gesagt, bevor sie weiter darüber nachdenken konnte. Sergej ließ ihre Hände los und breitete die Arme aus.

»Otschen choroscho, prekrasno! Sehr gut, wunderbar! Ich kann dir gleich alles erklären …«

Er stockte, runzelte die Stirn.

»Hier ist richtig was los in den nächsten Tagen. Denkst du, dein Kleiner wird das übelnehmen?«

»Kommt darauf an, was zu tun ist. Schwere Sachen schleppen kann ich nicht.«

»Natürlich, auf keinen Fall! Du …« – er beugte sich zu ihr vor – »Du wirst die goldenen Brücken bauen, über die unsere Worte gehen können. Du wirst der wundervollen Welt zwischen Russland und Spanien Leben einhauchen. Weil du da bist, werden Jahrhunderte sich berühren können!«

Sie brauchten eine Übersetzerin. Wenn Sergej es sagte, klang es, als könnte sie selbst Sprachwelten erschaffen, als würde sie damit Teil eines Kunstwerks, das es noch nicht gab.

»Wir können nicht viel bezahlen.«

Entschuldigend hob er die Achseln. Dann wedelte er mit der Hand.

»Für das Praktische ist Alla zuständig, meine Frau. Vielleicht weiß sie auch etwas von Irina. Heute ist sie unterwegs wegen der Requisiten. Komm doch morgen Nachmittag gegen vier wieder, da können wir alles besprechen.«

Er schaute nach draußen. Dann verschwand er wortlos durch die Tür in den Flur. Als er zurückkam, hatte er einen großen Schirm mit schwarzem Holzgriff und rotgelbem Blumenmuster in der Hand.

»Den habe ich mal irgendwo mitgehen lassen. Seitdem steht er in der Küche hinter dem Samowar, falls ihn jemand braucht.«

Sergej stutzte, hob den Arm, schnupperte an dem geblümten Stoff. Dann lachte er.

»Olga, unsere gute Seele, hat gestern den ganzen Nachmittag Kohl gedünstet. Morgen will sie Piroschki backen.«

Er streckte Eva den Schirm entgegen.

»Riecht etwas streng, aber zumindest kommst du so trocken nach Hause.«

Draußen war es immer noch warm. Eva wandte sich in Richtung Großmünster. Von dort würde sie den Weg zum Hotel finden. Hinter dem Regenschleier verschwammen die Fassaden der Häuser. Passanten eilten an ihr vorbei. Sie blieb einen Moment stehen und lauschte auf das Prasseln des Regens. Der Duft des nassen Asphalts mischte sich mit dem leichten Kohlgeruch des Schirms. Eva öffnete die Augen, lächelte. Einer Laune folgend, bog sie in eine Seitengasse ein.

Niedrige Häuser, kleine Läden, ein Antiquariat. War sie hier nicht vorhin schon einmal gewesen? Wie hatte sie das aufwändig dekorierte Schaufenster übersehen können? Eva trat unter das schmale Vordach, stellte Sergejs Schirm neben der Tür ab und betrat das Antiquariat.

Als sie das Geschäft wieder verließ, stellte sie erstaunt fest, dass die Sonne schien. Sergejs Schirm war fast trocken. Eva schwenkte ihn vor sich, während sie die Straße hinunterging. An ihrem Arm hing eine Papiertüte voller Bücher. Eines davon, ein etymologisches Wörterbuch des Altnordischen, hatte schon lange auf ihrer Wunschliste gestanden. Umso erfreuter war Eva, als sie es in einem der Regale entdeckte.

Unweit des Antiquariats stieß sie auf einen Laden mit Umstandsmode. Eva blickte ins Schaufester. Sollte sie sich etwas zum Anziehen kaufen? Notwendig wäre es nicht. Sicher kam Irina morgen ins Arbat. Eva würde nicht mehr gebraucht und konnte nach Hause fahren. Sie öffnete die Ladentür. Noch wollte sie nicht an daheim denken. Es fühlte sich gut an, Pläne zu haben. Sie würde ihr Hotelzimmer noch einmal verlängern und morgen mit Sergejs Frau Alla sprechen.

Eva probierte sich durch Kleider, Shirts und Hosen. Sie bewunderte ein kunstvoll besticktes schwarzes Abendkleid für Schwangere und unterhielt sich mit der Verkäuferin über verschiedene Varianten von Stützstrümpfen, die bei den derzeitigen Temperaturen ohnehin alle zu warm waren. Die Schatten wurden bereits länger, als sie mit einer weiteren großen Tüte den Laden verließ. An einem Straßenstand kaufte sie sich ein Eis. Auf dem Weg zum Hotel summte Eva die Melodie von Bulat Okudschawas Lied vom Arbat:

»Ach, Arbat, moj Arbat, ty mojo otetschestwo,

Nikogda do konza ne projti tebja!

Ach Arbat, mein Arbat, du bist mein Vaterland,

nie kann ich dich ganz bis zum Ende gehen.«

Irgendwo läutete eine Kirchenglocke. Es war, als wolle sie Eva in ihrem Summen begleiten.

Windmühlentage

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