Читать книгу Windmühlentage - Katrin Köhl - Страница 9

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Zürich – 22.6.

Das Erste, was Eva sah, als sie die Augen aufschlug, war der kleine Bücherstapel auf dem Nachttisch. Sie lächelte, streckte die Hand nach dem Wörterbuch des Altnordischen aus. Auf dem Stuhl hingen die Sachen, die sie im Umstandsmodengeschäft gekauft hatte. Eines der T-Shirts und einen weiten Rock würde sie heute anziehen. Auf dem Tisch vor dem Fenster lag die große Tüte mit dem bunten Logo des Ladens. Daneben ein paar Postkarten, der Flyer eines Raclette-Restaurants und diverse Kassenzettel ihrer Einkäufe. Eva blätterte durch einige Seiten Altnordisch, bevor sie aufstand.

Auf dem Weg zum Frühstück ging Eva an der Rezeption vorbei, um ihr Hotelzimmer zu verlängern. Die Dame hinter dem Tresen klickte sich durch den Computer.

»Eine Nacht ist kein Problem, aber dann kommt das Wochenende, da sind wir komplett ausgebucht.«

Damit hatte Eva nicht gerechnet. Nun würde sie sich, wenn sie bei dem Theaterprojekt mitmachen wollte, ein neues Zimmer suchen müssen.

»Können Sie mir ein ähnliches Hotel in der Nähe empfehlen?«

»Am besten fragen Sie bei der Touristeninformation am Hauptbahnhof. Aber machen Sie sich besser nicht zu viele Hoffnungen. Sie hatten schon Glück, dass bei uns noch ein Zimmer frei war. In Zürich empfiehlt es sich immer, sehr frühzeitig zu reservieren. Wenn dann noch, wie jetzt am Wochenende, Messe ist …«

Eine Nacht. Eva setzte sich auf einen der Sessel im Empfangsbereich. Gestern war ihr unversehens ein Geschenk in den Schoß gefallen. Heute sah es so aus, als würde der Postbote es wieder abholen, weil es nur versehentlich an ihre Adresse geliefert worden war. Sie schaute nach draußen. Die Straße war trocken, aber immer noch zogen dicke Wolken über den Himmel. Nach Hause fahren. Was sonst sollte sie tun? Sie würde sich leise hineinschleichen, hoffen, dass sie ein bisschen Zeit allein hätte, bevor der Vater heim kam. Seinen Spott ertragen. Wie immer. Einfach davonrennen, in irgendeinen x-beliebigen Zug steigen – Mensch, Eva! Sie konnte Bernds Tonfall genau hören. Ein Tag noch. Sie verlängerte das Zimmer und ging zum Frühstück.

Die alte Dame saß am selben Platz wie gestern. Wieder fiel Eva auf, wie sorgfältig sie zurechtgemacht war. Zu einer pastellgelben Bluse trug sie ein farblich passendes Seidentuch, eine dunkelblaue Hose und Lackschuhe.

»Guten Morgen. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Oh, guten Morgen! Bitte setzen Sie sich doch. Ich hatte gehofft, dass Sie kommen.«

Auch ihr Frühstückskunstwerk sah aus wie am Tag zuvor. Eva bestrich sich ein Brötchen mit Honig.

»Wie war Figaros Hochzeit

»Das ist erst heute Abend.«

Sie goss sich etwas Tee in die Tasse.

»Waren Sie im Großmünster?«

»Ja, und es hat tatsächlich die Sonne geschienen.«

»Umwerfend, oder?«

Eva nickte.

»Ein so strahlendes Blau habe ich noch nie gesehen.«

Die Ältere nippte an ihrem Tee, zog dann ein Ei im Eierbecher näher zu sich heran.

»Haben Sie schon Pläne für den heutigen Tag?«

Sie würde zum Arbat gehen und Sergej sagen, dass sie an seinem Projekt nicht teilnehmen konnte, weil sie keine Unterkunft hatte. Morgen würde sie nach Hause fahren. Aber daran mochte sie jetzt nicht denken. Sie wollte einfach noch einen Tag lang Touristin sein.

»Nein, ich habe noch nichts Konkretes vor.«

»Ich wollte Sie etwas fragen …«

Der Löffel klackte auf der Eischale.

»Hoffentlich finden Sie das nicht aufdringlich. Würden Sie mich heute Abend in die Oper begleiten? Die Bekannte, mit der ich mich verabredet hatte, ist krank geworden. Jetzt habe ich eine Karte übrig.«

Ein Besuch in der Oper. So hätte sie einen schönen Abschluss ihres Besuchs in Zürich. Etwas, an das sie sich erinnern konnte, wenn sie wieder zu Hause war.

»Ich komme gern mit, danke! Selbstverständlich bezahle ich die Karte.«

»Kommt nicht in Frage, ich lade Sie ein. Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Flora della Ponte.«

Sie reichte ihr die Hand.

»Eva Brandes.«

»Ich komme aus Basel, habe dort lange das Familienunternehmen geleitet. Es könnte sein, dass Sie schon mit einem unserer Produkte zu tun hatten.«

Frau della Ponte lächelte, nahm einen Löffel von ihrem Ei. Dann tupfte sie sich vorsichtig den Mund ab.

»Wir produzieren Ultraschallgeräte. Darf ich fragen, woher Sie kommen?«

»Ich komme aus Stuttgart.«

»Eine wunderbare Stadt! Wir haben dort mehrere Kunden. Auch die Frauenklinik hat Geräte von uns. Früher war ich häufiger in Stuttgart. Jetzt fahre ich einmal im Jahr hin, zum Weihnachtsmarkt. Aber einen Besuch in der Oper oder der Liederhalle plane ich immer mit ein. Sind Sie berufstätig?«

»Ich bin Buchhändlerin. Ich weiß nicht, ob Sie die Buchhandlung Keller kennen. Es ist ein kleines Geschäft im Stuttgarter Westen.«

Eva rührte in ihrer Ovomaltine. Dann bestrich sie ein zweites Brötchen mit Marmelade. Frau della Ponte hatte den Eierbecher zur Seite geschoben und schien zu überlegen, welche ihrer Köstlichkeiten sie als nächstes in Angriff nehmen sollte.

»Ein Freund meines Mannes wohnte im Stuttgarter Westen. Etwas oberhalb am Hang in einem schönen Altbau. Ich erinnere mich, dass man wunderbar über den Stuttgarter Talkessel schauen konnte. Ihre Buchhandlung kenne ich aber leider nicht.«

»Wie gesagt, wir sind nicht besonders groß. Unsere Spezialität sind Sprachen und fremde Länder. Wir haben Stammkunden unter den Dozenten an der Uni, der Hochschule der Medien und der Volkshochschule. Sie machen unser Hauptgeschäft aus. Und natürlich die Reise-Abteilung der Stadtbibliothek. Die bestellt auch meist bei uns.«

Frau della Ponte nickte.

»Ja, man muss heute als kleines oder mittleres Unternehmen zusehen, dass man nicht untergeht. Die Zeiten sind härter geworden. Ich bin froh, aus dem aktiven Geschäft draußen zu sein. Das macht jetzt mein Sohn. Ich nehme noch repräsentative Aufgaben wahr. Ansonsten habe ich jetzt mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens.«

Sie lächelte. Ihr Kunstwerk hatte sie für heute verspeist, die Teller und Schüsselchen sorgfältig zusammengestellt.

»Was meinen Sie, wollen wir uns um halb acht an der Rezeption treffen? Ich bestelle uns eine Taxe zur Oper.«

Eva trank den letzten Schluck ihrer Ovomaltine aus. Sie wollte schon mit der Hand über die Lippen fahren, besann sich aber im letzten Augenblick, griff zur Serviette, versuchte, sich den Mund abzutupfen, ohne dass es gestelzt aussah.

»Gerne. Ich freue mich auf heute Abend.«

Gemeinsam gingen sie zum Aufzug. Frau della Pontes Zimmer lag im ersten Stock. Die Türen glitten zur Seite.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag in Zürich heute. Bis später, Frau Brandes.«

Als sie vor dem Aufzug stand, drehte sie sich noch einmal zu Eva um und winkte. Dann ging sie aufrecht, mit zügigen Schritten den Flur hinunter.

In ihrem Zimmer setzte Eva sich aufs Bett. Sie würde in die Oper gehen! Was für ein schöner Zufall, dass die alte Dame sich ausgerechnet neben sie gesetzt hatte. Ihr fiel das Paillettenkleid aus dem Umstandsmodengeschäft wieder ein. Es war nicht gerade billig, aber für einen Opernbesuch wäre es perfekt. Bis zu ihrem Termin am Nachmittag mit Sergejs Frau hatte sie ohnehin nichts zu tun. Sie wollte das Kleid zumindest einmal anprobieren. Eva packte ihre Handtasche. Das Handy lag noch auf dem Nachttisch. Sie hob es auf, wiegte es in der Hand. Sie sollte zu Hause anrufen. Eigentlich hätte sie sich schon gestern melden müssen, damit der Vater sich keine Sorgen machte. Andererseits fuhr sie ja morgen schon zurück. Eva ließ das Telefon in ihre Tasche gleiten, schloss das Zimmer ab und ging nach unten.

Das Kleid passte wie angegossen. Die Verkäuferin stand neben Eva am Spiegel und machte ihr Komplimente. Dann holte sie aus der Auslage im Schaufenster eine Haarspange mit einer großen roten Blume darauf. Sie steckte sie Eva ins Haar.

»Wunderbar! Sie sehen aus wie eine spanische Tänzerin.«

Eva lachte.

»Wie eine Tänzerin fühle ich mich mit diesem Umfang nicht gerade. Aber das Kleid nehme ich.«

Natürlich war die Verkäuferin ein Profi, sie wusste, wie man die Kundinnen umgarnte. Trotzdem hatte Eva das Kompliment gutgetan. Beschwingt verließ sie mit einer weiteren bunten Tüte das Geschäft. In einem Kaufhaus besorgte sie sich Lockenwickler und eine nach Rosen duftende Körpermilch. In einem Café in der Altstadt ließ sie sich nieder, bestellte etwas zu essen und streckte die Beine aus.

Am Nachmittag machte Eva sich auf zum Theater. Im Hotel studierte sie den Stadtplan, um sicher zu gehen, dass sie die richtige Straße wiederfand. Die Eingangstür war wie am Tag zuvor offen. Im Foyer war niemand zu sehen. Eva holte sich einen Hocker hinter der Theke und setzte sich. Sie betrachtete die Bilder an den Wänden, wartete. Würde Sergejs Frau sie hier abholen? Eva schaute auf die Uhr. Es war schon kurz nach vier. Sie blickte zu der Tür, die wohl in den Theatersaal führte. Sollte sie einen Blick hineinwerfen? Vielleicht war dort jemand, den sie nach Alla fragen konnte. Sie stand auf, öffnete einen Flügel der breiten Tür. Rechts und links eines Mittelgangs standen je zehn Reihen Stühle. Auf der Bühne bauschte sich ein Berg aus blauem Samtstoff. Eva schaute sich um, konnte aber niemanden entdecken.

»Hallo?«

Keine Reaktion. Vielleicht hatte sie zu leise gerufen. Zögernd ging Eva ein paar Schritte durch den Mittelgang in Richtung Bühne.

Rechts vorn, neben einer Treppe zur Bühne, sah sie eine weitere Tür, dahinter einen Flur. Von dort waren jetzt Geräusche zu hören. Eva wollte gerade noch einmal rufen, als eine große, stämmige Frau in den Saal kam. Sie hatte einen zerbeulten Karton im Arm, den sie auf die Bühne hievte.

»Hallo, entschuldigen Sie …«

»Ja?«

Die Frau blinzelte zu Eva hinüber, vom Licht der Bühnenscheinwerfer geblendet.

»Ich hatte gestern mit Sergej gesprochen. Er hat mich für heute um vier Uhr hierher bestellt. Sind Sie Alla?«

Die Frau schnaubte.

»Das ist typisch. Ich weiß wie immer von nichts!«

Sie stapfte an der Bühne vorbei durch den Mittelgang zu Eva. Die Hand, die sie ihr entgegenstreckte, war kräftig, ein wenig rau.

»Ich bin Alla. Willkommen im Arbat. Worum geht es?«

»Das Projekt mit den spanischen Gästen – Sie brauchen eine Dolmetscherin?«

»Ah, du musst Irina sein. Gut, dass du da bist. Was gibt‘s Neues von Natascha, warst du heute schon im Krankenhaus?«

Sie hatte ins Russische übergewechselt. Jetzt wandte sie sich um und ging zurück zur Bühne.

»Die Formalien können wir später regeln. Hilfst du mir mal, den Wandbehang auszubreiten?«

Projektvorbereitung. Viel zu tun, die Zeit ist knapp, jeder packt mit an. Es war wie gestern mit Sergej. Wäre sie doch Irina! Die Freundin von Natascha müsste nicht erklären, warum sie hier war. Sie würde einfach mit anfassen, mühelos Teil der Gruppe werden, als Russin unter Russen, legitimiert durch die gemeinsame Bekannte. Eva räusperte sich.

»Menja sowut Eva Brandes. Mein Name ist Eva Brandes.« Da Alla auf Russisch mit ihr sprach, blieb Eva ebenfalls dabei. »Ich hatte mich gestern nur kurz vor dem Regen untergestellt. So kam ich mit Ihrem Mann ins Gespräch. Irina ist nicht gekommen, und da ich Russisch und Spanisch spreche …«

Alla hielt inne. Sie drehte sich wieder zu Eva um.

»Oh, verzeih! Ich dachte …«

Sie schaute Eva an, jetzt erst schien sie ihren Bauch zu bemerken.

»Wann ist es soweit?«

»In gut zwei Monaten.«

Alla nickte. Eva holte tief Luft.

»Ich kann nicht bleiben. Mein Hotel ist ausgebucht, ich konnte das Zimmer nicht verlängern und wegen der Messe gibt es wohl auch sonst nirgends etwas. Ich werde nach Hause fahren.«

Alla machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie setzte sich auf den Bühnenrand, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Einen Schlafplatz finden wir immer für dich. Zur Not kommst du zu mir und Sergej. Wird ein bisschen eng, aber das geht schon. Vielleicht könnte auch Olga …«

Alla überlegte einen kurzen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern, stand auf und streckte Eva die Hand hin.

»Mir fällt schon was ein. Komm hoch! Wir schauen uns den Wandbehang an, dabei kannst du mir mehr von dir erzählen.«

Anders als Sergej schien Alla nicht besorgt wegen Evas Schwangerschaft. Sie zog sie auf die Bühne und lachte.

»Man wird etwas unbeweglich gegen Ende, nicht? Als ich mit Nikita schwanger war, waren wir auf Tournee in Polen. Damals war der eiserne Vorhang gerade erst gefallen. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer wir auf den holperigen Landstraßen unterwegs waren. Und an jedem neuen Ort musste wieder das große Zelt aufgebaut werden. Das war was!«

Alla sprach weiterhin russisch und nicht gerade langsam. Sorgen, dass Eva sie nicht verstehen könnte, schien sie sich nicht zu machen. Sie beugte sich über den Berg aus blauem Samt.

»Hier, nimm das eine Ende und zieh es nach außen, bis zum Rand der Bühne.«

Eva zog an dem Stoff, während Alla versuchte, in dem Gewirr eine zweite Ecke zu finden. Einen Moment arbeiteten sie schweigend.

»Du bist keine Schweizerin, oder?«

Eva schüttelte den Kopf.

»Ja is Germanii. Ich komme aus Deutschland.«

»Machst du Urlaub in Zürich?«

Sie hatten den gesamten Behang ausgebreitet. Das glänzende Blau ergoss sich über den Bühnenboden. Im Licht der Scheinwerfer leuchtete es wie Marias Mantel in der Mittagssonne. Eva strich mit der Hand über eine Ecke des weichen Stoffs.

»Ich wollte eigentlich zu einer Freundin nach Italien. Aber jetzt bin ich erst einmal hier. Meine Mutter stammt aus Zürich.«

Sie senkte den Kopf, strich weiter über den glatten blauen Samt, dann gegen den Strich, rau und kratzig. Alla ging prüfend um den Stoff herum.

»Beim letzten Mal war mir irgendwo ein Loch aufgefallen, aber ich weiß nicht mehr genau, wo es war. Bevor ich dazu kam, es zu stopfen, hatte Maxim den Behang schon wieder verpackt. Siehst du was?«

Eva schaute ebenfalls.

»Njet. Nitschewo.«

Alla schaute sie an.

»Du sprichst praktisch akzentfrei russisch. Warst du länger im Land? Wo hast du gelernt?«

»In Russland war ich leider noch nie. Ich habe die Sprache für mich allein gelernt. Mit Büchern, CDs und Internet.«

»Molodez! Das ist ja toll. Ich könnte das nicht. Und Spanisch?«

»Genauso.«

Alla lachte.

»Du bist also ein Wunderkind.«

Eva schaute erstaunt von dem blauen Samtmeer auf. Wunderkind? Das hörte sich an, als hätte sie eine komplizierte Aufgabe mit Bravour gemeistert. Eine Leistung erbracht, für die man sie bewundern musste. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Beschäftigung mit Fremdsprachen so zu beschreiben. Im Gegenteil. Sprache, das war die einfache Welt, ihr Rückzugsort. Hier stellte niemand Ansprüche, sie musste nichts leisten oder richtigmachen. Grammatik war einfach da. Sie existierte als wunderbares System, das sich von allein vor ihr entfaltete, je weiter sie eindrang. Eva fühlte sich darin wie in einem freundlichen Wald, der sie beschützte und an dessen zahllosen Weggabelungen es keinen falschen Abzweig gab. Jeder Pfad führte zu neuen Entdeckungen, nie konnte sie sich im Dickicht verlieren. Der Wald selbst schien ihre Schritte zu lenken und sie wusste, anders als in allen restlichen Bereichen ihres Lebens, dass sie immer hindurchfinden würde. Was die Aussprache anging, so brauchte sie nur auf das Rauschen der Bäume zu hören. Das Rascheln der Blätter, ein Knarzen der Äste, das Summen, Scharren und Pfeifen winziger Tiere. All die kleinen Geräusche, die den Wald lebendig machten. Sie wurde ganz Ohr, tauchte ein in das Rauschen, bis sie selbst zum Baum wurde, der sich im Wind wiegte.

Hinten im Saal knackte es. Die rote Tür öffnete sich.

»Chef?«

Alla ging zum Bühnenrand.

»Alles klar mit den Getränken?«

»Wir haben die Kisten schon in den Keller getragen.«

Zwei Männer kamen durch den Mittelgang nach vorn. Alla war von der Bühne gesprungen. Sie war nicht sehr hoch, aber Eva setzte sich vorsichtshalber und ließ sich dann nach unten gleiten.

»Darf ich vorstellen?«

Alla deutete auf die beiden.

»Anatoli und Maxim, die beiden starken Männer in der Truppe. Und das ist Eva, unsere neue Übersetzerin.«

Der Jüngere, groß und schlacksig mit dunklen Haaren, streckte Eva die Hand entgegen.

»Nenn mich Tolja.«

Er grinste. Dann beugte er den Kopf zu ihr, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen.

»Der stärkste Mann hier ist sowieso Alla. Aber lass das besser nicht Sergej oder Maxim hören.«

Maxim gab Eva ebenfalls die Hand. Mit seinen langen grauen Haaren und dem wallenden Vollbart erinnerte er sie an Karl Marx. Er deutete auf den Wandbehang.

»Dann hängen wir den jetzt auf.«

»Ja, danke.«

Alla wandte sich zu der Tür neben der Bühne.

»Kommt danach in die Küche. Eva und ich regeln das Geschäftliche und bereiten dann den Tee vor. Olga müsste auch gleich da sein. Wo ist eigentlich Sergej?«

»Der ist sicher noch bei Fred.«

Alla nickte und winkte Eva, ihr zu folgen. Der Boden der Küche war schwarz-weiß gefliest. Eine der Wände war apfelgrün gestrichen, ein Poster vom Theaterfestival in Avignon hing daran. Daneben drei große Spiegel mit Leuchten und ein langer, weiß lackierter, schon etwas abgestoßener Schminktisch. Den größten Teil des Raums nahm ein rechteckiger Tisch ein, um den acht unterschiedliche Stühle standen. In einer Ecke thronte ein großer Samowar. Alla befüllte ihn mit Wasser.

»Fred ist ein Freund von uns. Er ist Schreiner und wollte für uns drei leichte Holzgestelle für Windmühlenflügel bauen, die wir dann mit Papier beziehen können.«

Eva überlegte kurz.

»Na klar! Don Quixote. Cervantes und Bulgakow.«

»Ich sehe, du kennst dich aus.«

Alla nickte anerkennend. Sie nahm eine große Papiertüte von der Anrichte und begann, kleine süße Kuchen auf einem Teller zu arrangieren.

»Die habe ich heute Morgen gebacken. Bei uns gibt‘s immer um fünf Tee. Dann sind meistens alle da. Olga arbeitet bis nachmittags in einem Kindergarten, Maxim ist Klempner, Tolja und Natascha studieren an der Uni.«

Sie seufzte.

»Vom Theater allein kann keiner leben. Sergej hilft früh morgens beim Großmarkt. Ich unterrichte an der Volkshochschule. Was machst du eigentlich?«

»Ich bin Buchhändlerin.«

»Ah, daher das Interesse für Sprache und Literatur. Das Projekt wird dir gefallen. Ausgehend von Bulgakows Theaterstück und dem Roman von Cervantes wollen wir Don Quixote im Rahmen unseres Sommerfestivals auf die Bühne bringen. Es wird Mitmachaktionen und Workshops geben, in denen ein Großteil der Kostüme und des Bühnenbilds entstehen.«

Alla erzählte, dass sich die beiden Ensembles im letzten Sommer auf einem Theatertreffen in Budapest kennengelernt hatten. Damals wurde die Idee zu dem Projekt geboren. Im Frühjahr waren die Mitglieder des Arbat in Barcelona zu Besuch gewesen, jetzt kam die Truppe des Teatro Cervantes nach Zürich. Alla lehnte sich an die Anrichte. Sie sprach von Probenplänen, Arbeitszeiten, nannte Eva eine Summe, die sie ihr bezahlen konnte.

»Ich könnte dir dein Honorar jeweils am Ende des Tages auszahlen. Das wäre das Einfachste. Bist du einverstanden?«

Eva willigte ein. Sie konnte sich das Ganze noch gar nicht richtig vorstellen. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet, als sie, ohne nachzudenken, in Stuttgart in den Zug gestiegen war.

Alla hatte sich wieder den Vorbereitungen fürs Teetrinken zugewandt. Sie zeigte auf einen Hängeschrank über der Anrichte.

»Dort sind Tassen und Teller. Könntest du die schon mal auf dem Tisch verteilen? Teelöffel sind in der Schublade.«

Das Geschirr war so unterschiedlich wie die Stühle. Eva stellte alles auf den Tisch, zuletzt eine mit großen Blumen bemalte Zuckerdose. Im Samowar begann das Wasser zu kochen. Alla schaufelte Berge von schwarzem Tee in eine bauchige blaue Kanne und übergoss ihn mit heißem Wasser.

»Sdrawstwujte, Freunde! Oh, Boshe moj, mein Gott, was für ein Tag!«

Eine kleine dicke Frau mit zerzausten Locken schob sich durch die Tür. In jeder Hand hatte sie eine prall gefüllte Plastiktüte. Sie ging zum Tisch, stellte die Tüten ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Aus der Rocktasche zog sie ein mit Spitze umhäkeltes Taschentuch und wischte sich die Stirn ab.

»Das Tram ist nicht gefahren. Und der Bus war so voll, dass ich nicht mehr reinkam. Deshalb bin ich den ganzen Weg vom Kindergarten gelaufen. Ich habe die Stoffreste mitgebracht.«

Sie sah den Teller mit Gebäck, den Alla auf den Tisch gestellt hatte.

»Allotschka, du bist ein Schatz! Ich bin am Verhungern!«

»Warte noch auf Maxim und Tolja, sie sind gleich da. Darf ich dir solange Eva vorstellen? Sie wird uns in den nächsten Tagen als Übersetzerin zur Seite stehen.«

Die kleine Frau zog mit schuldbewusster Miene die Hand zurück, die sie schon nach dem Kuchen ausgestreckt hatte.

»Otschen prijatno, sehr angenehm, ich bin Olga. Es ist ein Glück, dass du da bist!«

Sie lächelte Eva an, schaute dann zu Alla.

»Vorhin habe ich Irina getroffen. Sie dachte, dass das Projekt erst in der nächsten Woche anfängt. Heute und die kommenden Tage hat sie keine Zeit. Und selbst danach wäre es schwierig geworden, weil sie dann Prüfungen hat. Na, so kann ich sie anrufen und ihr sagen, dass sie nicht mehr gebraucht wird.«

Maxim und Tolja kamen in die Küche und setzten sich an den Tisch. Alla brachte eine kleine Kanne und eine Blechdose.

»Hier ist Kräutertee. Den hat Natascha immer in der Schwangerschaft und während des Stillens getrunken. Möchtest du?«

»Ja, danke.«

Kurze Zeit später saßen alle vor dampfenden Tassen. Olga hatte sich etwas Tee in ihre Untertasse gegossen und schlürfte ihn hörbar. Dann nahm sie sich eines der Kuchenstücke.

»Ich war heute Morgen kurz bei Natascha. Die Ärzte sagen, dass sie außer Lebensgefahr ist. Gott sei Dank! Aber sie sieht schlecht aus. Die Arme, Boshe moj! Sie wird wohl noch die gesamte nächste Woche in der Klinik verbringen.«

Alla beugte sich zu ihr vor.

»Olga, wie ist das in Nataschas WG? Denkst du, Florence und die anderen könnten Eva für die nächsten paar Tage aufnehmen? Sie muss aus ihrem Hotel raus und hat noch keine Unterkunft.«

Olga schüttelte sich ein paar Krümel von den Händen und goss noch etwas Tee in ihre Untertasse.

»Gut möglich. Es sind Semesterferien. Patrycja ist nach Polen zu ihrer Familie gefahren, soviel ich weiß.«

Erneutes Schlürfen, dann wandte sie sich an Eva.

»Ich will nachher sowieso dort vorbeigehen und nach dem Kleinen sehen. Komm einfach mit, dann fragen wir nach. Ist ein nettes Trüppchen. Und sie kümmern sich rührend um den kleinen Grischa, vor allem Florence.«

Natascha und ihre Freunde wohnten im Westen von Zürich. Eva saß neben Olga im Tram. Draußen zogen riesige Bürotürme vorbei. Lange Fassaden aus Glas und Stahl. In den Straßen brauste der Verkehr. Eva konnte sich nicht vorstellen, wo hier eine Studenten-WG sein sollte. Umso überraschter war sie, als sie an einer ehemaligen Arbeitersiedlung ankamen. Niedrige Reihenhäuser, hübsch renoviert, jedes hatte eine andere Farbe und sogar ein Stückchen Garten. Zwischen den Häuserzeilen verliefen schmale Fußwege. Hinten rauschte die Limmat. Olga blieb vor einem rosafarbenen Haus stehen und drückte auf den Klingelknopf. Die Tür öffnete sich. Eva sah eine hochgewachsene schlanke Frau mit blonden Locken. Ein kleiner Junge, vielleicht zwei Jahre alt, schob sich an ihr vorbei ins Freie und kam auf wackeligen Beinchen den Gartenweg entlanggelaufen. Olga breitete die Arme aus, nahm ihn hoch und wirbelte ihn durch die Luft. Er kreischte freudig. Nun kam auch die junge Frau den beiden entgegen.

»Bonjour, Olga, ça va?«

Sie gab Olga rechts und links ein Küsschen, dann begrüßte sie Eva auf die gleiche Weise.

»Bonjour, ich bin Florence.«

»Eva.«

Gemeinsam gingen sie ins Haus. Im Erdgeschoss waren Nataschas und Grischas Zimmer, der Rest wurde von einer große Wohnküche eingenommen.

»Möchtet ihr Tee?«

Olga setzte den Kleinen ab und holte wieder ihr Taschentuch hervor.

»Für mich höchstens ein Tässchen, wir hatten gerade schon Tee im Arbat.«

Eva bat um ein Glas Wasser und setzte sich auf einen der Klappstühle, die um den Küchentisch standen. Der Junge kam wieder angewackelt, diesmal mit einem Buch in der Hand. Er ging auf Eva zu und hielt sich an ihrem Hosenbein fest.

»Ischa, tscha!«

Olga lachte.

»Mit Ischa meint er sich selbst, tscha bedeutet tschitat. Er möchte, dass du ihm vorliest.«

Grischa zog an Evas Bein. Sie lächelte unsicher, stand dann auf und hielt ihm ihre Hand hin. Er ergriff einen Finger und stapfte los Richtung Flur. Eva folgte ihm. Er hatte ein eigenes kleines Zimmerchen, das mit dem seiner Mutter verbunden war. Dort saßen sie nun zu zweit auf einem Sessel. Eva öffnete das russische Bilderbuch. Mascha und der Bär. Sie las, wie Mascha mit Großmutter und Großvater in den Wald ging, um Beeren und Pilze zu sammeln, wie sie allein in die Hütte des Bären geriet und sich schließlich mit einer List wieder befreien konnte. Der Kleine blickte gebannt auf die Seiten. Als Eva zu Ende gelesen hatte, sagte er etwas, das sie nicht verstand. Was er meinte, war trotzdem klar. Sie schlug das Buch vorn wieder auf und begann erneut vorzulesen. Nicht mehr lang und sie würde ihrem eigenen Kind Bücher vorlesen. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Sie gestatte sich nicht, an das Kind zu denken. Versuchte, überhaupt nicht zu denken. Die Geburt. Ein Punkt wie eine gleißende Sonne, auf den sie mit rasender Geschwindigkeit zusteuerte. Keine Möglichkeit zu bremsen, kein Ausstieg. Sie würde verglühen, ausgelöscht in einem einzigen Augenblick wie ihre Mutter. Grischa war aufgestanden und hatte aus einer Kiste ein neues Buch geholt. Er legte es auf ihre Knie und sagte etwas. Als sie nicht reagierte, klappte er erwartungsvoll den Deckel auf. Sie begann zu lesen, hörte gleichzeitig, wie Florence im Flur telefonierte. Es ging um ihre Unterkunft. Vermutlich sprach Florence mit dem Mädchen, das gerade in Polen war. Eva merkte, wie sie das Bilderbuch fester umfasste. Wenn sie hier für die nächsten Tage unterkam, konnte sie nicht mehr zurück. Worauf hatte sie sich eingelassen? Wäre es nicht das Einfachste gewesen, nach Hause zu fahren? Was, wenn es nun mit dem Spanischen nicht so gut klappte wie mit Russisch? Und selbst wenn – vielleicht konnte sie jede der beiden Sprachen leidlich sprechen. Aber Übersetzen, das war noch einmal etwas ganz Anderes. Was, wenn sie es nicht konnte? Alle würden sie anschauen, darauf warten, dass sie etwas sagte, und sie würde keinen Ton herausbekommen, alle Vokabeln wären aus ihrem Kopf gefegt wie Blätter, die der Wind verwirbelt. Grischa zog an ihrem Ärmel.

»Tscha, tscha!«

Eva lächelte ihn an.

»O.k., das eine noch, dann gehe ich wieder in die Küche.«

Sie las das Märchen vom Fischer und dem Fisch.

Als sie vom Sessel aufstehen wollte, nahm Grischa wieder ihren Finger. Sie spürte den festen warmen Griff seiner kleinen Hand.

»Du möchtest mit? Na dann komm.«

Gemeinsam gingen sie bis in den Flur. Dort blieb Grischa stehen und streckte beide Hände nach oben. Flehentlich sah er Eva an. Sie lachte.

»Ich weiß nicht, ob ich dich tragen kann. Na, versuchen wir es.«

Sie nahm ihn hoch und setzte ihn auf ihre Hüfte. Er war schwerer als sie gedacht hatte. Der Kleine gluckste. Dann steckte er den Daumen in den Mund, kuschelte sich an Evas Seite und schloss die Augen. Eva ging zurück in die Küche und setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl.

»Ihr habt schon Freundschaft geschlossen. C’est formidable!«

Florence lehnte an der Küchenanrichte. Sie nahm einen Schluck aus einem Kaffeebecher.

»Ich habe eben mit Patrycja gesprochen. Du kannst für die nächsten Tage in ihr Zimmer ziehen. Sie ist erst in zwei Wochen wieder da.«

Eva fühlte, wie ihr Herz klopfte.

»Danke, dass ihr mich aufnehmt.«

Ihre Hand zitterte leicht, als sie Grischa übers Haar strich. Der Kleine hatte sich auf ihrem Schoß zusammengerollt und war eingeschlafen.

Im Hotel nahm Eva das neue schwarze Kleid aus der Tüte und hängte es auf einen Bügel. Sie strich über den fließenden Stoff, fühlte die glitzernden Perlen und Pailletten. Dann zog sie sich aus und ging ins Bad. Unter der Dusche dachte sie an die vergangenen Stunden. An die Menschen, die sie in dieser kurzen Zeit kennengelernt hatte. Frau della Ponte, Alla, Olga, Tolja und Maxim. Florence und Grischa. Zwei Tage. Es kam ihr vor, als wäre sie schon viel länger in Zürich. Sorgfältig drehte sie ihre Haare auf, cremte sich mit der duftenden Rosenlotion ein, begann, sich anzuziehen. Zuletzt föhnte sie die Haare, kämmte sie und steckte sie hoch. Sie hatte zu Hause einmal in einer Zeitschrift eine Hochsteckfrisur gesehen, die ihr besonders gut gefiel. Daraufhin hatte sie vor dem Spiegel geübt, bis das Ergebnis so aussah wie auf dem Bild. An dem Abend war sie allein im Haus gewesen. Bernd war direkt vom Büro zu irgendeiner Demo aufgebrochen. Immer wieder im Verlauf des Abends ging sie zum Spiegel und bewunderte ihre schöne Frisur. Bevor ihr Vater nach Hause kam, zog sie alle Nadeln wieder aus dem Haar und band sich schnell ihren üblichen Pferdeschwanz. Jetzt nahm sie vorsichtig Locke für Locke, steckte sie fest und betrachtete das Ergebnis kritisch im Hotelspiegel. Zum Schluss befestigte sie noch die rote Blumenspange an einer Seite über dem Ohr. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Die träge Schwerfälligkeit, die sie am Morgen gespürt hatte, schien verschwunden. Sie fühlte zwar die Anstrengung des Tages, hoffte, dass sie in der Oper nicht zu müde würde. Aber was sie im Spiegel sah, gefiel ihr. Es gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein, sinnlich, weiblich, begehrenswert. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Halb acht. Sie musste nach unten.

Die alte Dame stand schon in der Lobby. Sie trug einen langen schwarzen Samtrock und eine taillierte dunkelgrüne Seidenjacke darüber. An ihrer Hand baumelte ein winziges, perlenbesticktes Täschchen. Als sie Eva erblickte, strahlte sie.

»Mein Kompliment! Sie sehen bezaubernd aus. Und so eine hübsche Frisur!«

»Das Kleid habe ich heute Morgen gekauft. Für einen Opernbesuch muss man sich doch feinmachen.«

Frau della Ponte nickte ihr zu.

»Ich teile Ihre Meinung absolut. Es ist eine Unsitte, dass manche Leute jetzt schon in Jeans in die Oper gehen!«

Sie wies zur Eingangstür und winkte Eva, ihr zu folgen.

»Kommen Sie, meine Liebe. Ich glaube, unsere Taxe ist da.«

Schon als sie vor der Oper die Stufen nach oben stiegen, wurden sie von mehreren Leuten gegrüßt. Im Foyer kamen zwei Paare mit Sektgläsern auf sie zu.

»Frau della Ponte! Wie schön, Sie wieder einmal in Zürich zu sehen. Und in so charmanter Begleitung. Guten Abend.«

Frau della Ponte stellte Eva als Bekannte aus Deutschland vor. Sie wechselte ein paar Belanglosigkeiten mit den zwei Frauen, erkundigte sich bei den Männern nach dem Gang der Geschäfte. Man war sich einig, dass der Sommer ungewöhnlich heiß, die Zeiten allgemein schwierig und die Exportmärkte China und Indien genau im Auge zu behalten seien.

Dann wünschten sich alle einen guten Abend und die beiden Paare flanierten weiter, um die nächsten Bekannten zu begrüßen. Die alte Dame beugte sich zu Eva.

»Präzisionsmessgeräte und Tauchausrüstung. Zwei Traditionsunternehmen, wir kennen uns schon lange. Die Frauen sind zwei der wichtigsten Society-Ladies hier. Die wollten wissen, ob die Familie Nachwuchs erwartet. Das hätte schönen Stoff für Klatsch und Tratsch abgegeben. Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein, danke, vielleicht in der Pause.«

Eva hatte Angst, dass sie während der Vorstellung zur Toilette musste. Sie hoffte, dass sie bis zur Pause durchhielt. Das letzte Mal war sie mit Ruben vor drei Monaten in der Oper gewesen, da war ihr das Sitzen gegen Ende des ersten Aktes schon unbequem geworden. Es läutete. An der Seite von Frau della Ponte betrat Eva den Saal. Unter dem großen Kronleuchter, umgeben von Goldschnörkeln und dem roten Samt der Sitze, fühlte sie sich in ihrem Kleid wie bei einem Galaempfang. Ihre Plätze waren im Parkett, achte Reihe. Eva strahlte. Noch nie hatte sie in der Oper auf einem so guten Platz gesessen. Die Karte war sicher sehr teuer gewesen. Bei den ersten Akkorden der Ouvertüre vergaß sie ihre Angst, zur Toilette zu müssen. Gebannt blickte sie zur Bühne, als sich der Vorhang öffnete. Sie dachte an Ruben. Was würde er zu dem Bühnenbild sagen? Er selbst arbeitete gerade mit an den Kulissen für eine opulent ausgestattete Inszenierung von Carmen. Eva nahm sich vor, ihn anzurufen und ihm von ihrem Abend in der Oper zu erzählen.

Nach der Vorstellung lud Frau della Ponte Eva ein, mit ihr noch ein Gläschen zu trinken. Sie kenne ein vorzügliches kleines Restaurant ganz in der Nähe. Eva folgte ihr. Die Aufführung war wundervoll gewesen, sie wollte noch nicht zurück ins Hotel.

»Wie hat es Ihnen gefallen, meine Liebe?«

Frau della Ponte hatte Rotwein bestellt, Eva ein Glas Orangensaft.

»Es war ein wundervolles Erlebnis.«

»Die Ouvertüre war fast ein wenig zu schnell. Finden Sie nicht auch? Ich bin gegen diesen Trend, alles so schnell wie möglich zu spielen. Es tut der Musik nicht gut. Aber die Susanna war fabelhaft!«

Eva stimmte ihr zu. Sie hatte die Aufführung von der ersten bis zur letzten Minute genossen. Sie nahm einen Schluck Orangensaft und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Eine wohlige Müdigkeit überkam sie. Die alte Dame holte ein akkurat gebügeltes Taschentuch aus ihrer Tasche und schnäuzte sich die Nase.

»Morgen fahre ich wieder nach Basel zurück. Muss mich um den Hund kümmern und schauen, was die Geschäfte machen.«

Sie zwinkerte Eva zu.

»Mein Sohn hat es natürlich nicht so gern, wenn ich mich immer noch einmische. Aber ganz lassen kann ich es nicht. Fast dreißig Jahre an der Spitze eines Unternehmens, da geht man nicht einfach in den Ruhestand.«

»Sie sind extra wegen der Oper nach Zürich gefahren?«

Frau della Ponte drehte ihr Weinglas in den Händen, nippte daran.

»Ich habe mit meinem Mann hier gelebt. An unserem Hochzeitstag sind wir immer in die Oper gegangen.«

Die Ältere lächelte, dann schüttelte sie den Kopf.

»Mein Mann war Arzt am Klinikum. Nie hat er sich geschont. Er war noch keine fünfzig, als er gestorben ist. Ein Herzinfarkt. Einfach so. Kurz darauf starb auch mein Vater. Da bin ich mit meinem Sohn zurück nach Basel gezogen, habe meine Mutter unterstützt und bin ins Geschäft eingestiegen. Aber ich gehe immer noch jedes Jahr an unserem Hochzeitstag in Zürich in die Oper. Ich glaube, es würde meinen Mann freuen.«

Sie seufzte, dann lächelte sie wieder, blickte Eva auffordernd an.

»Und was machen Sie morgen? Fahren Sie weiter nach Italien?«

»Ich habe heute ganz unverhofft einen Job und eine neue Unterkunft bekommen.«

»Ach?«

»Ein kleines Theater hier suchte für ein Projekt eine Übersetzerin für Russisch und Spanisch. Eine Aufführung des Don Quixote. Morgen beginnen die Proben. Die Frau, die es eigentlich machen sollte, liegt mit Lungenentzündung in der Klinik. Ich kann solange in ihrer WG wohnen.«

»Das sind ja spannende Entwicklungen. Wann findet die Aufführung statt?«

»Am zweiten Juli.«

»Und ihre Freundin in Italien?«

»Ehrlich gesagt bin ich ziemlich spontan in diesen Urlaub aufgebrochen. Sie weiß noch gar nicht, dass ich komme.«

Eva räusperte sich.

»Ich weiß auch nicht, ob ich wirklich hinfahre. Wir haben uns seit unserer Jugend nicht gesehen. Jetzt bin ich jedenfalls erst einmal hier. Das Theaterprojekt hört sich interessant an.«

Frau della Ponte begann wieder, ihr Weinglas zu drehen.

»Sind Sie, wie soll ich sagen, ganz ungebunden in Ihrer Planung? Zu Hause wartet keiner auf Sie?«

»Ja … nein, die Sache ist etwas kompliziert. Den Vater des Kindes kenne ich noch nicht so lange. Mein eigener Vater versteht sich mit ihm nicht besonders gut. Mir wurde das einfach alles zu viel.«

»Oh, verzeihen Sie, ich wollte nicht indiskret sein.«

Eva lächelte.

»Das ist schon in Ordnung. Es tut gut, mit jemandem zu reden. Ich bin sonst viel allein.«

Die alte Dame beugte sich zu ihr. Sie schob ihr Glas zur Seite, strich Eva leicht über den Handrücken.

»Sie Arme. Was sagt denn Ihre Mutter dazu?«

»Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben.«

»Oh. Das tut mir leid.«

Eva schüttelte den Kopf.

»Eigentlich weiß ich es nicht sicher. Sie lebte wohl mit ihrer Familie etwas außerhalb von Zürich. Auf dem Weg in die Frauenklinik hatte sie einen schweren Unfall. Mich konnten die Ärzte retten.«

Eine Weile war es still. Eva spürte, wie das Kind sich zu bewegen begann. Die alte Dame saß ganz gerade.

»Sie sind also wegen Ihrer Mutter hier.«

»Ja.«

Eine Weile saßen sie schweigend beieinander. Die Ältere begann wieder, ihr Glas in den Händen zu drehen.

»Jetzt, wo sie das erzählen, erinnere ich mich an eine Geschichte. Ein Kollege meines Mannes war in der Gynäkologie tätig. Er erzählte etwas von einer hochschwangeren Frau, die nach einem schweren Unfall eingeliefert wurde. Sie lag im Koma. Das Kind hatte wie durch ein Wunder keinen Schaden genommen. Der Vater konnte es nach wenigen Tagen nach Hause mitnehmen. Danach gab es einen Riesenkrach mit den Eltern der Frau. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht. Das war kurz vor dem Tod meines Mannes. Es muss also schon über dreißig Jahre her sein.«

Eva fühlte ihr Herz. Die Schläge laut und schnell. Ihr Mund wie ausgetrocknet. Sie griff nach dem Saftglas. Es war leer.

»Vierunddreißig. Ich bin vierunddreißig Jahre alt.«

Frau della Ponte schaute sie an. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch. Ein leises Klacken in der Stille.

»Wenn Sie möchten, kann ich Doktor Denisch anrufen. Wir sind immer noch im Kontakt. Nicht mehr so häufig wie früher, aber ich besuche ihn hin und wieder, wenn ich in Zürich bin. Er könnte Ihnen vielleicht mehr über den Fall damals erzählen.«

Eva fühlte sich schwindelig. Die Frau im Koma, Doktor Denisch, Basel, der Hund. Tanzende Bälle in ihrem Kopf, die sie zu erhaschen suchte.

»Sie müssen doch zurück …«

»Anrufen kann ich ihn auch von zu Hause. Oder ich bleibe noch ein paar Tage in Zürich. Im Hotel du Lac ist vielleicht noch ein Zimmer frei.«

»Und Ihr Hund?«

»Der hat‘s gut bei der Schwiegertochter. Wissen Sie, auch wenn ich das ungern zugebe – im Grunde brauchen sie mich nicht in Basel.«

Sie winkte einem Kellner, bestand darauf, Evas Saft mit zu bezahlen.

»Es ist spät geworden. Lassen Sie uns zurück ins Hotel fahren. Sie müssen ausgeruht sein, wenn Sie morgen übersetzen wollen.«

Als sie aufstand, merkte Eva, wie müde sie war. Auf dem kurzen Weg zurück schlief sie beinahe im Taxi ein. Im Hotel zog sie erleichtert die hohen Schuhe aus, hängte das Kleid auf einen Bügel und sank dann schwer ins Bett. Ihr Schlaf war unruhig, von Traumfetzen durchschnitten, immer wieder schreckte sie hoch, gejagt von wirren Bildern. In Gräben gestürzte Autos, verbeult, zerkratzt, in Flammen. Blutende Frauen mit Kindern im Arm. Eines der Kinder sah aus wie Grischa. Eine Frau hielt ihn fest im Arm, war es Florence? Er hielt Eva ein Bilderbuch hin, aber sie stand auf der anderen Seite des Grabens, zwischen ihnen ein brennendes Auto. Rauch stieg auf.

»Grischa!«

Sie schrie, doch es kam kein Laut aus ihrem Mund. Drüben sah sie, wie das Kind sich ihr entgegenstreckte, versuchte, sich aus den Armen der Frau zu befreien. Die Frau ging noch näher an den Abgrund heran.

»Nein! Grischa!«

Ihre Schreie waren nicht zu hören. Grischa wand sich in den Armen der Frau, trat mit seinen kleinen Beinchen um sich. Die Frau versuchte verzweifelt, ihn zu halten, aber sie schaffte es nicht. Ein Tritt, ein kurzer Moment, in dem es aussah, als hänge das Kind in der Luft, dann stürzte es in den brennenden Graben.

Schweißgebadet wachte Eva auf. Ihr Atem ging schnell. Sie schaute auf die Uhr. Es war erst halb fünf.

Windmühlentage

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