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»Unkenntnis und Vorurteil« Empfängnisverhütung

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Eine Flut von ärztlichen Ratgebern und Aufklärungsbüchern versuchte Ende des 19. Jahrhunderts sexuelle Aufklärung zu leisten, um einerseits die in allen Bevölkerungsschichten wütenden Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhö (Tripper) in den Griff zu bekommen und andererseits die hohe Zahl unehelicher Kinder zu reduzieren. Manche Ärzte sahen sich wohl auch veranlasst, jenen Ehefrauen beratend beizustehen, die erschöpft von zahlreichen Schwangerschaften einfach keine weiteren Kinder wollten.

Verblüffend ist die Tatsache, dass der Zyklus der Frau im 19. Jahrhundert in gutbürgerlichen Kreisen offenbar ein Geheimnis war, sowohl für die Frauen selbst als auch für die Ärzte. Jahrhunderte altes Wissen von Geburtshelferinnen und Heilerinnen bezüglich Empfängnis, Verhütung oder aber Abtreibung schien verloren gegangen. Erst in den 20er-Jahren gelang es dem österreichischen Arzt Hermann Knaus und – unabhängig von ihm – seinem japanischen Kollegen Kyusaku Ogino, den Zeitpunkt des Eisprungs zu ermitteln und damit die fruchtbaren Tage der Frau festzustellen. Knaus stellte diese Erkenntnisse 1929 auf einem Gynäkologenkongress vor. Bis dahin schien selbst in Ärztekreisen das Thema Empfängnisverhütung von geringer Bedeutung gewesen zu sein, zeugte doch auch der Arzt Arthur Schnitzler uneheliche Kinder. Seinen Tagebüchern ist zu entnehmen, dass er während seiner Liaison mit Marie Reinhard 1896 mit der Frage der Verhütung zwar konfrontiert war, sich aber nicht besonders verantwortungsvoll verhielt. Seine Vorsicht wurde von Marie als Mangel an Zärtlichkeit beklagt, daraufhin wurde er wütend und »nannte sie ein dummes Weib – dann war ich unvorsichtig.«18 Marie wurde wenig später schwanger.

Unter den damals zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, war die sicherste und einzige auch von der Kirche akzeptierte Form der Verhütung, die Enthaltsamkeit. Sie war begreiflicherweise nicht sonderlich beliebt und wurde vor allem von jenen Frauen praktiziert, die nach zahlreichen Schwangerschaften keine Kinder mehr wünschten. Sie verbannten ihre Ehemänner kurzerhand aus dem Schlafzimmer.

Eine der ältesten und einfachsten Methoden der Empfängnisverhütung war der Coitus interruptus. Er bedurfte keiner wie auch immer beschaffenen Hilfsmittel und keiner Unterstützung von Ärzten oder Apothekern. Einerseits in medizinischen Ratgebern empfohlen, wurde doch immer wieder diskutiert, ob der vorzeitige »Rückzug« den Genuss des Liebesaktes beinträchtige. James Ashton wusste in dieser Hinsicht zu beruhigen und gab auch gleich Anweisung, wie die Mann vorzugehen hatte: »Man nehme stets eine saubere Serviette mit ins Bett, die der Mann während des ehelichen Akts in der Hand hält. Dann wird es ein Leichtes sein, diese Serviette so zu halten, dass sie im Augenblick des Rückzugs den Samen aufnehmen kann.«19

Die Ansichten über diese Form der Verhütung blieben allerdings geteilt und sie wurde von manchen Ärzten verurteilt: »Diese Praxis ist höchst peinlich. Sie stört nicht nur den Genuss, sondern direkt die Samenentleerung und ist nicht einmal sicher …«20

Andere wieder mutmaßten, dass sie eine schwere gesundheitliche Schädigung des Mannes mit sich brächte:

Vor diesem Hilfsmittel kann nicht dringend genug gewarnt werden, da es das Nervensystem des Mannes in außerordentlichem Grade schädigt. Die Anstrengung, im Augenblick der höchsten Erregung abzubrechen, ist so groß, daß bei dauerndem Befolgen dieses Gebrauchs schwere Nervenstörungen eintreten, die nicht selten Jahre hindurch anhalten.21

Der Coitus interruptus war natürlich mehr als unsicher. Eine den Frauen empfohlene, allerdings ebenfalls als höchst unzuverlässig eingestufte Methode waren Spülungen: »Das Weib kann sofort vor und nach dem Beischlaf eine Ausspritzung der Scheide mit lauwarmem Wasser und Essig 3 % bis 5 % vornehmen. Dieses Mittel ist stets anzuwenden, wenn irgendein anderes Mittel (auch ein vom Mann angewendetes) versagt, oder irgendeine Ungeschicklichkeit passiert. Sicher ist es aber keineswegs.«22

Neben Spülungen gab es die Möglichkeit chemischer Substanzen in Zäpfchen- oder Pulverform, die vor dem Geschlechtsakt eingeführt, den männlichen Samen abtöten sollten. Der Nachteil dieser Methoden lag in der schlechten Verträglichkeit dieser chemischen Cocktails, die zu schweren Entzündungen führen konnten.

Generell wäre als Schutz vor Ansteckung ein Präservativ angeraten gewesen, doch in medizinischen Ratgebern wird immer wieder der Verlust des Lustgewinns zur Debatte gestellt. Die Qualität und Verlässlichkeit der damaligen Produkte kann mit heutigen nicht verglichen werden. Präservative kannte man bereits seit der Antike. Damals waren sie aus Fisch- oder Lämmerdarm gefertigt und sollten vor allem die weit reisenden Söldner vor Ansteckung bewahren. Bis ins 19. Jahrhundert wurden Präservative aus Guttapercha23, Fischblasen oder aus den Blinddärmen von Schafen hergestellt. 1843 gelang die Vulkanisierung des Kautschuks und ermöglichte damit eine serienmäßige Produktion von Präservativen. Mit dem Aufkommen des Kautschuk-Präservatives begann man dieses auch als sicheres Mittel gegen eine ungewollte Schwangerschaft zu akzeptieren: »Das einfachste und zweckmäßigste Mittel ist, über das erigierte männliche Glied eine undurchlässige Membran von der Form eines Handschuhfingers zu ziehen.«24

Hier wird auch ausgeführt wie man Kondome wäscht und mehrmals verwenden kann:

Man kann den gleichen Condom, wenn er solid ist, sehr oft brauchen, wenn man, nachdem er gewaschen und zwischen zwei Tüchern beiderseits getrocknet ist, Luft hineinbläst, die Öffnung an der Basis zudreht und den so aufgeblasenen Condom bis am Morgen, am besten auf einem Stück Wollstoff, trocknen lässt. Dann dreht man die Öffnung wieder auf, weitet sie gleich aus, bevor sie zu hart geworden ist, und der Condom ist von neuem gebrauchsfähig.25

Mit dieser Methode ließ sich auch gleich die Unversehrtheit überprüfen. Der aus heutiger Sicht befremdlich erscheinende Umstand, dass Kondome mehrmals verwendet wurden, findet einige Zeilen weiter seine Erklärung: »Diese Details sind alle sehr wichtig, denn arme Leute können sich solche ziemlich teuren Dinge nicht jedesmal frisch kaufen.«26

Tatsächlich waren Kondome 1900 noch vergleichsweise teuer, ein vulkanisiertes Kautschukpräservativ der Firma Julius Fromm kostete 1 Krone, das entsprach dem Tagesverdienst einer Fabrikarbeiterin.27 Ein Dienstmädchen verdiente zehn bis zwanzig Kronen im Monat, ein Kondom war also nicht unbedingt das Verhütungsmittel erster Wahl – ganz abgesehen davon, dass das Wissen um Verhütung nicht nur in diesen Kreisen der Bevölkerung mehr als mangelhaft war. Der engagierte Arzt August Forel, der seine Publikation schon im Titel den »Gebildeten« widmete, sprach diesen Umstand direkt an:

Die richtige Anwendung der Mittel zur Regulierung der Zeugungen bildet überhaupt den Angelpunkt der ganzen individuellen und sozialen sexuellen Hygiene, und es wäre die heilige Pflicht der Ärzte sich sehr eingehend mit dieser Frage zu befassen und den Gebrauch der Condome etc. an richtigem Orte zu empfehlen und zu fördern. Statt dessen herrschen noch Zopf und Vorurteil fast überall und man sieht noch fast die Mehrzahl der Ärzte darin nicht nur theologischer oder dogmatischer als die Theologen und paragraphenängstlicher als die Juristen verfahren, sondern noch viele aus Unkenntnis und Vorurteil sich selbst venerisch anstecken oder ihre eigenen Frauen mit Geburten in schändlicher Weise überlasten.28

Als relativ sicher bei korrekter Anwendung galten Okklusiv- oder Schutzpessare. Schon in der Antike hatte man um eine Empfängnis zu verhüten, den Muttermund mit einer umgestülpten Zitrone verschlossen. Inzwischen hatte man, geeignetere Formen entwickelt. Das zuverlässigste Pessar, das doppelt geschweifte Schutzpessar, musste allerdings vom Arzt eingesetzt werden ein Umstand, der viele Frauen abschreckte. Zudem verblieb das Schutzpessar von einer Periode zur nächsten in der Scheide, was unliebsame Nebenwirkungen auslösen konnte. Das einfach selbst zu handhabende, runde Schutzpessar wiederum konnte bei unsachgemäßer Anwendung verrutschen, womit der Schutz nicht mehr gewährleistet war.

Tatsache ist, dass alle damals bekannten Möglichkeiten, die einen relativ sicheren Schutz vor einer ungewollten Schwangerschaft boten, entweder der Hilfe eines Arztes bedurften oder aber sehr kostspielig waren.

In jedem Fall viel zu teuer für jene Frauen, die einen zuverlässigen Empfängnisschutz am dringendsten gebraucht hätten: unverheiratete Dienstmädchen, Verkäuferinnen, Fabrikarbeiterinnen, all jene »süßen Wiener Mädeln« aus ärmlichen sozialen Verhältnissen.

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