Читать книгу Schneeflocken in Afrika - Kavitha Rasch - Страница 8
Traurige Erkenntnis
ОглавлениеMaya steigt aus dem Taxi und geht auf das Hauptgebäude des Kinderheimes zu. Leider ist die hölzerne Schranke am Eingang der Pforte heruntergelassen.
„Mist!“
Sie schaut sich um und findet links von der Schranke eine Bude mit einem Fenster. „Miss! Kommen Sie bitte zu mir.“
Hinter der gelöcherten Glasscheibe sitzt eine Heimschwester und winkt Maya zu sich herüber.
„Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen? Das Heim ist geschlossen.“
„Entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Maya Solís. Ich bin Journalistin und war heute früh schon mit Schwester Nakopita und meinem Kameramann hier. Es ging um die …“
„Sonnenbrillen? Sind Sie die Reporterin aus Amerika?“
„Ganz genau.“ Scheinbar wusste jeder im Heim von der Spende und der Tatsache, dass Maya extra angereist ist, um darüber zu berichten. Sie greift in ihre Handtasche und holt ihren Presseausweis hervor. Die Schwester nimmt den Ausweis durch einen Schlitz unter der Scheibe entgegen und hält ihn ins Kerzenlicht. Dann gibt sie ihn Maya zurück.
„Was möchten Sie so spät noch hier?“
„Ich möchte zu Schwester Nakopita. Man sagte mir, dass sie heute erst spät wieder von ihren Terminen zurück ist. Morgen fliege ich schon zurück nach New York und ich muss da noch eine Frage hinsichtlich meiner Dokumentation klären.“
„Sie ist vor zehn Minuten hier eingetroffen. Da haben Sie Glück. Vermutlich ist sie jetzt in der Küche und isst noch etwas vorm Schlafengehen.“
Die Schranke öffnet sich. Viel kann man nicht sehen. Maya erinnert sich vage an den Weg zum Innenhof und daran, dass von dort aus weitere Gebäude abgehen. Sie folgt dem Geruch von frisch gebratenem Speck und gelangt schließlich in einen großen Speisesaal. Schwester Nakopita steht am Herd und schlägt gerade ein Ei in die Pfanne.
„Nicht erschrecken! Ich bin’s, Maya.“
„Maya? Was machst du denn jetzt noch hier? Möchtest du mitessen oder einen Tee?“
„Dankeschön, ich habe schon gegessen. Einen Tee nehme ich gerne.“
Die Schwester bereitet zwei Tassen vor und befüllt sie mit frischer Minze und Zitronenscheiben. „Ist die Dokumentation gut geworden?“
„Gesehen habe ich sie noch nicht. Brian sagt, sie sei gut. Er hat einen 7-minütigen Beitrag zusammengeschnitten. An dem Text werde ich von New York aus arbeiten. Roberta war wirklich sehr begeistert von ihrer Brille.“
„Das freut mich zu hören. Sie ist ein ganz besonderes Mädchen. Du hättest die Kleine sehen sollen, als sie zu uns kam. Bei dem Interview wollte sie unbedingt mitmachen und der Welt von ihrer Brille erzählen. Sie ist heute so ein aufgewecktes Mädchen geworden. Nicht viele von den Kindern erholen sich von …“
„Wovon? Von was erholen sich diese Kinder nicht, Schwester Nakopita?“ Beide Frauen sitzen am Küchentisch. Schwester Nakopita isst ihr Rührei mit Speck und erzählt Maya mehr über die Kinder im Heim.
„Maya, ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Weißt du, was man hier über Menschen mit Albinismus sagt? Weißt du überhaupt etwas über Albinos?“
„Ich habe mich vor meiner Abreise ein wenig in einer Bücherei in Brooklyn informiert und vor dem Abflug mit dem Brillenhersteller telefoniert, um mehr über seine Beweggründe für die Spende zu erfahren.
Daher weiß ich, dass diese Menschen mit einer Pigmentstörung zur Welt kommen. Ihre Haut, die Augen und Haare sind heller als gewöhnlich. Dadurch sind sie anfälliger für Sonnenbrand und Hautkrebs. Ihre Sehschärfe und das räumliche Sehen sind auch oft eingeschränkt. Schuld ist ein Melaninmangel. Das kann dazu führen, dass die Iris fast transparent ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Albinismus erbbedingt durchsetzt, ist glaube ich bei 1:20.000, wenn ich mich richtig erinnere.“
Schwester Nakopita nimmt einen Schluck von ihrem Tee und nickt Maya erstaunt zu. „Alle Achtung. Du hast wirklich deine Hausaufgaben für deinen Besuch hier gemacht.“
„Ja, scheinbar habe ich das.“
„Hier, hier in Afrika, ist es sogar so, dass Albinismus mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:10.000 auftritt. Das alleine ist aber nicht der Grund, warum wir hier dieses Heim für all diese Kinder erschaffen haben.“
„Genau das wollte ich heute Abend erfahren. Was ist der Grund und warum sind so viele Kinder hier körperlich … verändert.“
„Verstümmelt ist das Wort, was du eigentlich benutzen möchtest, oder? Ach Maya, dahinter verbirgt sich ein schrecklicher Aberglaube.“
„Aberglaube? Wie jetzt?“ Maya schiebt ihre Tasse ein wenig beiseite und setzt ihre Ellbogen auf den Tisch auf. Die Schwester hat nun ihre volle Aufmerksamkeit.“
„Besonders für die Kinder ist der Aberglaube hier sehr bedrohlich. Schon einmal etwas von Wunderheilern gehört?“
„Naja, gehört schon, aber …“
„Hier gibt es viele Wunderheiler und sogenannte Schamanen. Sie berufen sich auf den Aberglauben daran, dass Körperteile von Albinos magische Kräfte haben. Sie sollen sogar Glück bringen und gelten auch als Vorboten von Reichtum!“
Maya ist erschrocken. Sie hat eine leichte Vermutung davon, in welche Richtung sich dieses Gespräch nun entwickelt. Während die Schwester weiter davon spricht, erinnert sie sich an das verstümmelte Bein von Roberta.
„…für Leichenteile. Bis zu 50.000 Dollar für ganze Körper. 500 bis 30.000 Dollar für Körperteile.“
„Leichen-t-e-i-l-e?“
„Ja, wie ich gerade sagte, der Schwarzmarkt dafür ist enorm und alles basiert nur auf dem Aberglauben der Menschen hier.“
„S-c-h-w-a-r-z-m-a-r-k-t?! Oh mein Gott, ist das Bein von Roberta etwa auf diesem Schwarzmarkt gelandet? Wenn es jetzt zwei Jahre her ist, dass sie zu euch kam, dann war sie ja erst … dann war sie erst 7 Jahre alt!“
Beide Frauen sitzen am Tisch und schweigen einen Moment. Besonders Maya ist erschüttert. Sie hat mit vielen Informationen heute Abend gerechnet, aber nicht damit. Immer wieder fragt sie sich, was dieses Mädchen Schlimmes erlebt haben muss.
„Ich zeige dir etwas. Warte einen Moment.“ Die Schwester steht auf, trägt ihren Teller zur Spüle hinüber und verlässt die Wohnküche für ein paar Minuten. Maya schüttet sich in der Zeit erneut einen Tee auf. Ein Whisky wäre ihr jetzt allerdings lieber. Eigentlich müsste sie auch schon längst im Hotel sein. Doch jetzt zu gehen, kommt für sie nicht in Frage.
Ungefähr zehn Minuten später kommt die Heimschwester mit einem Karton in der Hand wieder zurück. Sie stellt ihn auf dem Küchentisch ab und klopft sich ein wenig den Staub von ihrem Kleid. Dann greift sie mit der Hand hinein und zieht einen kleinen Stapel Akten hervor. Es sind Loseblattsammlungen in bunten Heftmappen. Überall ist ein Name und ein Datum auf dem Deckblatt notiert.
„Das hier vorne ist immer der Tag, an dem das jeweilige Kind bei uns ein neues Leben begonnen hat. Siehst du? Hier ist die Akte von Roberta. Ursprünglich wollten wir alles auch nach Geburtsdaten ablegen. Aber es gibt einfach zu viele Kinder, die gar nicht wissen, wann sie Geburtstag haben. Besonders die Kinder, die aus ganz armen Verhältnissen kommen.“
Auf dem Tisch liegt nun eine Akte mit einem rötlichen Pappdeckel. Vorsichtig klappt Maya sie auf. Sie erkennt Roberta auf dem Foto sofort wieder. Unter dem Foto sind einige Gegenstände und Anziehsachen aufgelistet, offensichtlich Dinge, die Roberta bei sich trug, als sie ins Heim kam. Dann blättert sie weiter und stößt auf eine weitere Akte in dem Hängehefter.
„Was ist das?“
„Das ist der Hauptteil der Krankenakte. Direkt oben auf findest du eine Karteikarte über Robertas Krankengeschichte. Wir bewahren diese Akten zu fast allen Kindern auf und nutzen sie zu Dokumentationszwecken. Von einigen haben wir Originalakten, von anderen leider nur Kopien. Wenn du weiterblätterst, findest du auch noch Röntgenaufnahmen und Laborbefunde.“
Maya nimmt die Karteikarte aus dem Hängehefter und beginnt zu lesen.
Name: Roberta Geburtsdatum: unbekannt
Adresse: Sanvari Rd'23, Arusha Disrikt
Hausarzt: unbekannt
Anlass der Behandlung: Fund / Überfall mit Amputation des rechten Unterschenkels. Sauber abgetrennt / Klinge
Das Mädchen wurde bewusstlos auf dem Schulweg von anderen Schulkindern aufgefunden. Laut Blutverlust muss Roberta 20 Minuten dort gelegen haben. Augenzeugen berichten von zwei männlichen Personen, die das Mädchen nach der Schule mit dem Rad verfolgt haben. Das Bein, drei Fingerkuppen an der rechten Hand wurden gewaltsam bei vollem Bewusstsein mit machetenähnlichem Werkzeug abgetrennt. Glatter Schnitt. Rund um das Knie herum waren mehrere Schnittversuche sichtbar.
Diagnose: Amputation Unterschenkel
Operation / Medikation: check
Therapieerfolg: check
„Das muss ich erst einmal verdauen, Schwester Nakopita“.
„Das glaube ich dir gerne. Aber das wirst du nie verdauen. Alle diese Akten hier sind voll mit solchen grausamen Erlebnissen. Wenn du mir nicht glaubst, überzeuge dich selbst. Es ist auch für uns immer wieder erschreckend, was diese Kinder durchmachen mussten, bevor sie bei uns ihre Ruhe finden. Viele von ihnen erholen sich einfach gar nicht mehr davon. Unsere ehrenamtliche Psychologin aus Johannesburg hat alle Hände voll zu tun. Oft sitzen ihr die Kinder gegenüber und starren stundenlang Löcher in die Luft, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Sie sind innerlich gebrochen. Ein normales Leben in der Gesellschaft ist für sie oft unmöglich geworden. Viele leben in eigenen kleinen Gemeinden. Teilweise heiraten sie auch untereinander, was dazu führt, dass weitere Menschen mit Albinismus geboren werden.
Die Menschen hier sind einfach nicht genug aufgeklärt. Sie müssen verstehen, dass diese Pigmentstörung bloß eine Laune der Natur ist und es sich dabei nicht um Dämonen handelt, die von den Wunderheilern zur Erde gerufen wurden.“
Am nächsten Morgen wacht Maya gerädert um 7:30 Uhr in ihrem Hotelzimmer auf. Erst konnte sie nicht einschlafen. Und dann plagten sie nach dem Gespräch mit Schwester Nakopita leichte Albträume. Sie möchte vor ihrer Abreise unbedingt noch einmal das Heim besuchen.
Nach dem Frühstück setzt sich Maya mit Brian in die Lobby des Hotels und schaut sich seinen Zusammenschnitt vom gestrigen Tag an. Für das Online-Magazin ist sein Video genau richtig. Nicht zu lang, nicht zu kurz und doch mit allen wichtigen Informationen. Dafür, dass er gestern noch so abwertend über die Kinder und diesen Auftrag gesprochen hat, hat er sich Mühe beim Schnitt gegeben. Den Text zu diesem Bericht möchte Maya am Nachmittag in Ruhe in ihren Laptop tippen. Sie wird zwei Versionen aufsetzen. Eine aus Sicht des Brillenherstellers mit lobenden Worten über die Spende. Das wird Malone sicher auch so wollen. Für den Fall der Fälle wird sie aber noch eine zweite Version erstellen, die ein klein wenig mehr auf das Schicksal von Roberta eingeht. Diese Version wird sie ihrem Boss als erstes unter die Nase halten.
Nach fünf Monaten in der Agentur möchte sie sich behaupten und inhaltsreichere Texte verfassen als bisher. Schließlich möchte sie für das, was sie recherchiert, geschätzt werden und nicht dafür, dass sie in den Mund gelegte Worte mit werbeträchtigen Aussagen verziert. „Reicht dir das so?“ sagt Brian und dreht den Laptop nach Ablauf des Videos wieder in seine Richtung.
„Auf jeden Fall! Danke, dass du es gestern noch fertig gemacht hast.“
„Gerne Maya. Wie schaut es aus? Was machen wir zwei Hübschen mit den restlichen drei Tagen hier vor Ort noch?“ Maya greift nach ihrem Glas O-Saft auf dem Tisch und nimmt den letzten Schluck in Ruhe zu sich. Dann zuckt sie mit den Schultern und schaut Brian fragend an.
„Ich weiß’ nicht. Heute möchte ich noch den Artikel fertig schreiben. Gestern war ich noch einmal im Heim und hatte dort eine längere Unterhaltung. Das möchte ich auf jeden Fall heute noch alles zu Papier bringen und…“
„Fein für mich. Die Frau von der Rezeption hat mir eine tolle Tour für uns vorgeschlagen, die wir hier auf jeden Fall zeitlich noch unterbekommen auf unserer Dienstreise. Natürlich auf eigene Kosten. Das versteht sich von selbst. Außer wir schaffen es, die Rechnung für die Tour vom Hotel so ausstellen zu lassen, dass …“
„Wir zahlen selbst. Ich bin doch nicht verrückt! Tze. Du hast Ideen! Was für eine Tour ist es, über die wir hier reden?“
Brian kramt in seiner Aktentasche und zaubert einen leicht verknickten Prospekt hervor.
„Elefanten!“ schreit Maya begeistert auf und reißt zeitgleich das Stück Papier aus seinen Händen. Dann liest sie laut vor:
„Entdecken Sie während dieser 2-Tage-Safari zwei Nationalparks im Norden Tansanias. Der Tarangire-Nationalpark ist bekannt für seine große Elefantenpopulation. Im Lake-Manyara-Nationalpark gehen Sie auf die Suche nach den bekannten Baumlöwen und beobachten die Flamingos am Lake Manyara. Ihr privater, englischsprachiger Guide ist gleichzeitig auch ein hervorragender Wildspäher. Diese Tour wird durchgeführt ab minimal 2 Personen. Eine Reservierung im Voraus ist nicht notwendig. Die Übernachtung erfolgt in einem 2 x 2m großem Zelt. Für nähere Informationen oder eine Buchung rufen Sie uns bitte an oder senden eine E-Mail an unser Office.
„Und? Was sagst du? Ich finde, wir sollten die Zeit hier nutzen. Wann ist man schon mal so weit weg auf Dienstreise? Ich bin seit über 10 Jahren in dieser Agentur und war vielleicht 5 Mal außerhalb der Staaten unterwegs. Wenn es hochkommt, nur 5 Mal!“
Kurz darauf stehen beide gemeinsam an der Rezeption des Hotels und buchen eine 2-tägige Safari. Sie freut sich, dass diese Dienstreise gar nicht so übel ist wie anfangs vermutet.
Maya kann sich nach der Tour vor Begeisterung kaum halten.
„Die Elefanten waren wirklich beeindruckend. Du würdest kaum glauben, wie groß die sind, wenn man direkt davorsteht.“ Sie liegt in ihrem Hotelzimmer auf dem Bett und umkreist das Telefonkabel mit ihrem Zeigefinger. Im Hintergrund läuft der Fernseher ohne Ton. Am anderen Ende der Leitung hockt Dean in seiner Wohnung im Bett und hört seiner Verlobten interessiert zu.
„Wo habt ihr die zwei Tage denn geschlafen? Zwischen den Tieren im Nationalpark?“
„Nicht wirklich zwischen den Tieren. Zumindest haben wir nachts keine zu sehen bekommen. Jeder bekam ein zwei mal zwei Meter großes Zelt, welches man in wenigen Minuten aufbauen konnte. Sicher nicht meine schönste Übernachtung, aber für zwei Nächte völlig in Ordnung. Brian hat mir beim Auf- und Abbau geholfen. Unser Guide war auch super und hat uns einiges aus der Welt der Tiere erzählt. Du würdest nicht glauben…“
„Maya, wann bist du eigentlich übermorgen in New York? Meine Eltern werden dich am Flughafen abholen kommen und haben mich gebeten, dich noch einmal nach der der genauen Uhrzeit zu fragen.“
Sie unterbricht leicht enttäuscht ihren Reisebericht und kommt auf das Wesentliche von Deans Anruf zurück. „Wir landen mit East African Airlines um 14:30 Uhr am JFK-Flughafen. Bestell deinen Eltern liebe Grüße und schon jetzt ein dickes Dankeschön fürs Abholen. Meinst du, ich kann ihnen als Dankeschön ein Straußenei mitbringen? Die gibt es hier überall zu kaufen.“
„Was sollen sie denn damit? Was macht man damit? Es irgendwo hinstellen? Dann fällt es um.“
„Ich schau‘ mal, mir fällt schon etwas ein. Dann schlaf gut und hab‘ einen guten Start in die neue Woche! Ich werde jetzt noch ein wenig Fernsehen schauen und mir noch etwas Essen aufs Zimmer bestellen.“