Читать книгу Justice justified - Kendran Brooks - Страница 3
Vorgeschichte
ОглавлениеOllie Oldman McPhearsen blickte mit starren Augen in die gierig züngelnden Flammen im großen Kamin der Bibliothek auf Bedfort Castle. Sein Gesicht flackerte fleckig, wechselte von Orange zu Gelb und zu Rot, spiegelte die Farben des Feuers wider. Oldman McPhearsen besaß schlohweißes, glattes Haar, das dick wie Draht wirkte und ihm zottelig bis über den Hemdkragen hing. Sein Gesicht wies tiefe Furchen und Falten auf, Abbild seines bewegten Lebens. Die buschigen, weißen Augenbrauen verliehen ihm das Aussehen einer knorrigen Eiche im Winter, immer noch standhaft, immer noch alles beherrschend, auch wenn der Zahn der Zeit seit langem an seiner Substanz nagte.
Leise öffnete sich hinter ihm die Türe zum Flur und eine junge, etwas mollige und keineswegs hübsche Frau trat verlegen ein. Sie trug die Schürze einer Bediensteten, wirkte eingeschüchtert, ja ängstlich.
»Sie wünschen?«, fragte sie viel zu leise, als dass der Alte sie hätte hören können, wiederholte deshalb nach kurzem Zögern lauter, »Sie wünschen, Sir?«
»Warum hat das so lange gedauert?«, herrschte Ollie McPhearsen seine Angestellte an, blickte dabei nicht vom Feuer auf, sondern stierte weiterhin auf die brennenden Scheite.
»Ich war unten, in der Küche«, versuchte sich die junge Frau zu verteidigen, »beim Kartoffelschälen. Ich musste mir doch erst die Hände...«
»Ach«, unterbrach er ihre Rechtfertigung, »ich will Ihre Ausflüchte nicht hören. Bringen Sie mir endlich den Tee.«
»Aber es ist doch erst...?«, begann die junge Frau tapfer einzuwenden, denn die Tea-Time begann auf Bedfort Castle seit jeher pünktlich um halb vier Uhr nachmittags und der Tee kam stets zusammen mit drei Finger-Sandwichs, die mit Frischkäse und Gurkenscheiben belegt sein mussten, zwei täglich frisch gebackenen Scones und einem Schälchen steif geschlagener Clottered Cream. Auch ein Glas mit Erdbeerkonfitüre wurde jeweils gereicht, doch niemals Kuchen oder gar Pralinen. So hatte es Ollie McPhearsen vor über dreißig Jahren eingeführt, nachdem er das Schloss von einem verarmten englischen Adligen erworben hatte.
»Kann ich in meinem eigenen Haus meinen Tee etwa nicht dann trinken, wenn ich will?«, fuhr er mit kalt drohender Stimme seine Angestellte an.
»Nein. Ich meine ja, Sir. Selbstverständlich, Sir.«
Eilig machte sich das mollige Mädchen davon, froh darüber, dem Alten und seinen Launen zumindest für den Moment entkommen zu sein.
Die brennenden Scheite im Kamin fielen in sich zusammen und die Flammen erloschen immer mehr. Ollie McPhearsen starrte in die feurige Glut hinein, mit einem Gesicht so steinern und unbeweglich wie ein Stück Fels. Sein Butler Jeremy hatte heute seinen freien Tag. Deshalb musste sich der Oldman selbst mit dem ungebildeten Hauspersonal herumschlagen. Bei diesem Gedanken verzogen sich seine Mundwinkel zu einem kurzen, spöttischen Lächeln, an dem seine blass-blauen Fischaugen keinen Anteil nahmen. Dieser dummen Pute hatte er einen gehörigen Schrecken eingejagt.
Fünfzehn Minuten später wurde ihm der Tee serviert. Die zweistöckige Etagére mit den Finger-Sandwichs unten und den beiden Scones auf dem oberen Tablar wurde vorsichtig auf dem kleinen Tisch neben dem Ohrensessel des Hausherrn abgesetzt. Zuckerdose und Milchkännchen, ein großes, offenes Glas Erdbeermarmelade mit darin steckenden, langstieligen Löffel, sowie ein kleiner Teller mit schräg darüber gelegtem Messerchen folgten. Hinzu kam die silberne Teekanne aus dem sechzehnten Jahrhundert, ein viereckiges, wenig ansehnliches Stück Metall, das jedoch einem Kenner gut und gern zehn bis zwölf tausende Pfund wert gewesen wäre. Es folgte eine Tasse mit ihrem Unterteller. Sie schepperte leise, als sie von der jungen Frau mit zitternden Fingern abgestellt wurde. Dann packte das Mädchen das Milchkännchen und goss einen Schluck in die Tasse hinein, nahm mit der zierlichen Zuckerzange einen der braunen Würfel aus der Dose, hoffte, dass er ihr nicht entglitt, ließ ihn zur Milch in die Tasse plumpsen, atmete innerlich auf, packte mutiger geworden die Kanne und goss die Tasse mit Tee voll, nahm den kleinen, silbernen Löffel vom Unterteller und rührte kurz um, legte ihn auf den Unterteller zurück und trat dann, wie aus Vorsicht, zwei Schritte vom Tisch und dem Sessel weg und verharrte dort.
»Noch einen Wunsch, Sir?«, fragte sie den alten Mann und wandte sich bereits halber zur Türe um, warf sogar einen sehnsüchtigen Blick zu ihr hinüber, so als plante sie ihre Flucht.
»Nein. Gehen Sie«, befahl der Alte kalt wie zuvor und das Dienstmädchen eilte aus dem Raum, zog den schweren Türflügel so leise sie es vermochte hinter sich ins Schloss.
Laut schlürfte der Oldman den ersten Schluck Tee vom Rand der Tasse, verzog sein Gesicht zu einer ärgerlichen Grimasse, drehte seinen Oberkörper mühsam zum Beistelltisch um und klaubte sich mit seinen dünnen, grauen Fingern mit den ungepflegten Nägeln einen weiteren der braunen Würfelzucker aus der Dose, ließ ihn in die Tasse fallen, griff sich den Löffel und rührte so heftig um, dass etwas Tee über den Rand schwappte und in die Untertasse lief.
Er probierte noch einmal schlürfend. Vom Tassendfuß löste sich, von ihm unbemerkt, ein Tropfen Tee und fiel auf die schluderig umgebundene Krawatte, hinterließ auf der dunkelblauen Seide einen noch dunkleren, ovalen Fleck. Das Gesicht des Alten zeigte einen Anflug von Zufriedenheit.
Ollie McPhearsen griff sich eines der drei Gurken-Frischkäse-Sandwichs, stopfte es sich ganz in den Mund, ohne auch nur einmal abzubeißen, begann gierig darauf herumzukauen, schmatzte dabei laut, hörte und bemerkte es nicht. Kaum hatte er geschluckte, klaubte er bereits das Nächste von der Etagére. Doch es entfiel seinen etwas tauben Fingern, verschwand zwischen Tisch und Sessel, landete auf dem Perserteppich zu seinen Füssen. Missmutig blickte der Oldman an der Armlehne vorbei und auf das Stück Toast auf dem Boden hinunter, rümpfte verärgert seine Nase, sah wohl das Fingersandwich als einen feigen Fahnenflüchtigen an, als ein weiteres Beispiel für die vielen Nutzlosen auf dieser Welt, die ohne Pflichtgefühl, ohne Stolz und ohne Ehre waren.
Wieder schlürfte er laut vom Tassenrand, schien dabei in sich hinein zu lauschen. Und auf einmal begannen seine Augen angriffslustig zu funkeln. Irgendein Gedanke musste ihm durch den Kopf geschossen sein, wohl etwas Amüsantes, wie sein nun boshaftes Lächeln zeigte.
Seine Zähne waren gelblich und abgenutzt, sein Gebiss jedoch immer noch vollständig, trotz seiner fünfundachtzig Lebensjahre. Seine Zunge war mit einem dicken, gelben Belag überzogen. Sein Zahnfleisch schimmerte dagegen weißlich, wirkte brüchig und verwelkt, als könnte es die alten Zähne kaum mehr festhalten.
Oldman McPhearsen hatte während seines Lebens ein Imperium aufgebaut. Dutzende von Firmen gehörten ihm und er besaß namhafte Beteiligungen an Weltkonzernen. Natürlich war seine Familie immer schon reich gewesen. Er kannte es nicht anders. Doch nun, nach sechzig Jahren hartem Wirtschaftskampf, waren die McPhearsens zudem mächtig geworden und konnten sich mit den ersten Familien des Landes auf Augenhöhe messen.
Ollie Oldman McPhearsen dachte in diesem Moment an seine beiden Söhne, an Reginald, den älteren und tatkräftigeren, sein Liebling und bevorzugter Nachfolger. Und dann an Silver, der zwei Jahre jünger als sein Bruder war. Sie vertraten ihn seit Jahren in fast allen Aufsichtsräten und Vorständen des Familienkonzerns. Beide hatten ihr fünfzigstes Altersjahr längst überschritten, waren alt genug, um Verantwortung zu übernehmen und zu tragen. Doch noch gab es ihn, den Alten McPhearsen, wie man ihn schon seit drei Jahrzehnten abschätzig und vorsichtig zugleich bezeichnete. Und solange er noch atmete, solange er noch alle seine Sinne beieinanderhatte, wollte er die Zügel seines Konzerns nicht gänzlich aus den mager gewordenen und mit Altersflecken übersäten Händen geben. Noch konnte er seine Söhne lenken, ihnen seinen Willen aufzwingen. Doch Ollie McPhearsen war mit sich selbst ehrlich genug. Der ständige Kampf mit der nachrückenden Generation um die Macht im Konzern, um das Sagen in der Welt der McPhearsens, dieser Kleinkrieg war seit einiger Zeit zum einzigen wirklich lohnenden Lebensinhalt für ihn geworden, wirkte wie ein Elixier auf ihn, wie ein Jungbrunnen.
Seine erste Frau Sybille hatte er schon früh verloren, bei der Geburt ihres dritten Kindes. Es wäre ein Mädchen geworden, wenn es nicht kurz vor der Mutter verstorben wäre.
Bloß ein Mädchen, dachte der Alte abschätzig und grimmig.
Noch heute war er seiner Sybille dafür böse. Nicht für ihr Sterben bei der Geburt. Das lag nun Mal im Bereich des Menschlichen. Doch dass sie ihm einen weiblichen Nachkommen hinterlassen wollte, um den er sich hätte kümmern müssen, das konnte er ihr bis heute nicht verzeihen.
Weitere Erinnerungen blitzten durch sein Gehirn, jedoch ohne jeden Faden. Er dachte zurück an seine Zeit im Sudan, an die lukrativen Verträge mit den dortigen Machthabern um das Schwarze Gold und das Erdgas im Süden des Landes, an die erste Milliarde, die er sich dank reichlichem Schmieren der Minister und ihren Familien im ostafrikanischen Land verdient hatte. Damals begleitete ihn seine Sybille das letzte Mal auf Geschäftsreise, erzürnte sich über seine Skrupellosigkeit, wollte von da an nichts mehr über seine Machenschaften wissen, zog sich ganz in ihr damaliges Haus in London zurück. Das war ihm allerdings mehr als Recht gewesen. Denn nörgelnde Ehefrauen saugten ihren Ehemännern bloß alle Energie und Tatkraft aus den Knochen. Ja, damals im Sudan. Das war Ende der 1960er Jahre gewesen. Was für eine schöne Zeit.
Seine Finger zitterten leicht, als er sich das letzte Sandwich vorsichtig von der Etagére griff und in seinen immer noch gierigen Mund stopfte. Noch kauend nahm er einen weiteren Schluck aus der Tasse, vermischte alles zu einem Brei, schluckte zweimal, spülte mit dem Rest aus der Tasse nach.
Dumpf brütend starrte er wieder in die Glut und die tiefen Furchen in seinem Gesicht entspannten sich ein wenig, schienen sich zu mildern. Doch auf einmal zogen sich seine Augenbrauen zusammen und seine Stirn legte sich erneut in tiefe Falten.
Patrick, dachte er, der verfluchte Patrick.
Seine Kinnlade begann zu arbeiten, schien zwischen den Zahnreihen wüste Flüche stumm zu zermahlen oder gar seinen Neffen selbst? Er griff hinüber zum Beistelltisch, nahm die silberne Glocke auf, schüttelte sie kurz. Das leise, helle Klingeln hätte niemanden außerhalb der Bibliothek erreicht. Doch der eingebaute elektronische Sender gab das Signal an die Küche weiter und eine halbe Minute später öffnete sich erneut einer der beiden Türflügel. Wiederum trat das mollige Dienstmädchen in ihrer schwarzen Robe mit der kleinen, weißen, vor den Bauch gebundenen Schürze eingeschüchtert ein und machte, noch eine Hand am Türgriff und hinter der Rückenlehne des Sessels des Alten einen unbeholfenen Knicks.
»Sie wünschen?«, fragte sie laut und doch verzagt.
»Sir!«, ergänzte er aufbrausend ihre Frage, »es heißt immer noch, Sir. Oder Mister McPhearsen, dummes Ding.«
»Natürlich, Sir. Entschuldigen Sie bitte, Mister McPhearsen«, beeilte sie sich in ihrem etwas seltsam gefärbten Englisch zu versichern und machte den nächsten unsinnigen Knicks hinter seinem Rücken.
Ollie McPhearsen bezog sein Hausperson schon seit vielen Jahren ausschließlich aus Malta, hatte sich dort drei oder vier Sippen verpflichtet, bezahlte ihnen für das Überlassen der erwachsenen Kinder gutes Geld, wünschte sich als Gegenleistung bloß völlige Unterwerfung. Manche hielten seine herablassende, oft auch demütigende Behandlung nur wenige Wochen aus, verließen Bedfort Castle meistens fluchtartig. Andere, wie diese dumm-blöde Sophia, würde sich wohl ihr ganzes Leben ihrem Schicksal ergeben, oder zumindest so lange, bis der Oldman ihr überdrüssig geworden war und sie auf ihre kleine und unbedeutende Insel und zu ihrer Familie zurückschickte.
»Ist Jeremy endlich zurück?«, schnauzte er die Glut im Kamin an.
»Ja, Sir, vor etwa zehn Minuten.«
»Soll kommen.«
Der Türflügel schloss sich wieder, schwang erst nach einer ganzen Weile wieder auf. Ein Mann von Fünfzig oder eher Sechzig trat gemessen ein, war mit seinem schwarzen Frack und den weißen Handschuhen als Butler ausgewiesen. Er besaß ein markantes, breites Kinn, das Tatkraft und Durchsetzungsvermögen versprach. Seine Augen waren sehr dunkel, beinahe schwarz, lagen ein klein wenig zu eng beieinander, so dass sie stechend wirkten. Sein Kopfhaar war kurz geschnitten, zwar stark ergraut, fast weiß, aber noch ohne Glatze. Die eher zu kleine, nach oben geschwungene Nase passte nicht so recht in sein übriges Gesicht, rührte vielleicht von einem Unfall her.
Jeremy hielt nicht an der Türe an, sondern ging direkt weiter und zum Ohrensessel vor dem Kamin, trat damit in das Sichtfeld des Alten, verhielt dort stumm, ohne Gruß und abwartend.
»Ich hab mich dafür entschieden.«
Oldman McPhearsen sagte nicht, um was oder wen es ging.
»Und wann?«
»Ich will die Angelegenheit so rasch als möglich erledigt wissen. Informieren Sie Lawrence del Mato. Er wird sich um die Ausführung kümmern.«
Der Butler nickte kurz und ging wieder hinaus, zog den Türflügel hinter sich ins Schloss.
Ollie Oldman McPhearsen wandte sich wieder dem Beistelltisch zu, nahm einen der Scones zur Hand, drehte die beiden dünn mit Butter beschmierten Hälften gegeneinander, teilte sie, legte die obere, etwas gewölbte, zurück auf die Etagére, nahm die untere und das Messer, schaufelte Clottered Cream auf sie drauf und biss ein großes Stück von ihr ab, kaute genüsslich den buttrigen Teig und die kühle, cremige Sahne, stierte in die immer mehr zusammenfallende und verlöschende Glut, wirkte nachdenklich und zufrieden zugleich.
Ein spöttisches Lächeln huschte plötzlich über sein Gesicht. Im rot-orangen Widerschein der Kaminglut wirkte es teuflisch.