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Von Pflicht und Glauben

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Die Berufung auf metaphysische Instanzen um handfester irdischer Interessen willen: Diese Übung beherrschen nicht nur die Franzosen. Auch in Konstantinopel sitzen Spezialisten für ideologische Mobilisierung, und auch sie setzen auf die religiösen Empfindungen derer, die sie für ihre Zwecke einspannen wollen. Im September 1798 lässt Sultan Selim III. ein Manifest in Umlaufen bringen, das helfen soll, in Ägypten Freiwillige für den Kampf gegen die französischen Besatzer zu gewinnen. In nüchternen Worten beschreibt das Papier das bisherige Vorgehen der Franzosen sowie Napoleons unverkennbare Machtansprüche, wie sie sich zuvor bereits in seinem Feldzug gegen Italien gezeigt hätten. Der politischen Analyse folgt dann der religiös verbrämte Aufruf zum Widerstand. „Ägypten“, heißt es da, „ist das Tor zu den heiligen Städten Mekka und Medina, ein Ort, der für Muslime von größter Bedeutung ist. Darum gilt es den nicht zu rechtfertigenden Angriff der Franzosen unter Berufung auf das Gesetz der Gerechtigkeit wie auch mit Hilfe des Allerhöchsten abzuwehren. Es ist darum religiöse Pflicht eines jeden Muslims, gegen Frankreich in den Krieg zu ziehen.“15

„Die Pflicht eines jeden Muslims“: zynische Propaganda zur allgemeinen Mobilmachung? Oder ein legitimer Aufruf zum Schutz – auch, wenngleich nicht nur – der heiligen Stätten des Islam? Die Antwort liefert ein Text, den die Strategen der Hohen Pforte bald darauf in Ägypten und den anderen umkämpften Gebieten kursieren lassen. Es handele sich, erklären sie, um ein Strategiepapier aus höchsten französischen Regierungskreisen, das den Osmanen in die Hände gefallen sei. Ausgiebige Zitate sollen den Ägyptern verdeutlichen, wie ernst die Lage ist und dass der bevorstehende Kampf einer ums Ganze sein wird, es also um nicht weniger als die Existenz des Islams gehe. Tatsächlich enthält das Papier Passagen, die in höchstem Maß alarmierend sind: „Angesichts des Umstands, dass wir das Joch jedes religiösen Vorurteils erschüttert und alle göttlichen und menschlichen Gesetze mit den Füßen zertreten haben; und in der Erkenntnis, dass wir auf die in ihre Religion vernarrten Muslime nicht zählen können, werden wir Mekka und die Kaaba, Medina und die Ruhestätte des Propheten zerstören, ebenso Jerusalem und dazu sämtliche Moscheen und andere Orte religiöser Verehrung. Dann werden wir ein Massaker anordnen und nur Mädchen und Jungen verschonen. Danach werden wir den Besitz und die Ländereien der Muslime unter uns aufteilen.“

Diejenigen Ägypter, die an Napoleons religiöser Aufrichtigkeit immer schon gezweifelt hatten, konnten sich bestätigt sehen: Der französische Feldherr, soschien es, war trotz aller seiner Verlautbarungen eben doch kein Freund des Islams, im Gegenteil: Er war sein größter Verächter und Feind, und nichts von dem, was er ihnen aufgetischt hatte, sollten die Muslime glauben. Darum, erklären die Strategen der Hohen Pforte nun in ihrem Kommentar zu dem Papier, könne es für die Muslime nur eine einzige Lösung geben – nämlich gegen die Franzosen in den Krieg zu ziehen. „Nichts wird von den Ungläubigen übrig bleiben. Denn das Versprechen Gottes steht. Die Hoffnung der Böswilligen wird enttäuscht werden, und sie werden sterben. Ehre dem Herrn der Welt.“16

Mit diesem Geheimpapier waren die wahren Absichten der Franzosen offenbart. Nun war klar, was sie wirklich dachten. Zumindest schien es so. Denn was die Ägypter nicht wussten: Das Papier war gar nicht von den Franzosen geschrieben worden. Vielmehr kam es aus den ideologischen Fälscherstuben Konstantinopels, verfasst von begabten Köpfen aus Selims Propagandaabteilung. Die bewiesen damit vor allem eines: nämlich wie vertraut den Strategen des Osmanischen Reiches die nüchterne französische Weltsicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts bereits war, wie genau sie den Laizismus studiert und dessen Logik und Sprache verinnerlicht hatten. Mit allergrößter Sorgfalt, zeigt das Papier, hatten sie die Texte ihrer Gegner gelesen, ihre Argumente gehört, ihre Motive nachvollzogen. So gründlich hatten sie sich mit der französischen Aufklärung befasst, dass sie wie selbstverständlich in der Lage waren, einen Text zu verfassen, der, von einigen bewusst eingestreuten Zuspitzungen abgesehen, durchaus aus den Denkund Schreibstuben der Französischen Revolution hätte stammen können. In Sachen europäischer Philosophie, zeigt dieser Text, waren die Osmanen ganz auf der Höhe der Zeit.

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