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Und die Moral von der Geschichte
ОглавлениеDoch alle Technik nützt Napoleons Armee wenig, als sie es im März 1801 mit einer gewaltigen feindlichen Übermacht zu tun bekommt. Bei Abukir stehen 16.000 französische Soldaten 20.000 Osmanen und 17.000 Briten gegenüber. Der Kampf ist aussichtslos, und im August unterzeichnen die Franzosen die endgültige Kapitulationserklärung. Geschlagen kehren sie in die Heimat zurück – nicht auf ihren eigenen Schiffen, die sie allesamt verloren haben, sondern auf denen der Briten. Die bringen eine desillusionierte und vor allem massiv reduzierte Truppe zurück: Napoleons ägyptisches Abenteuer hat 20.000 Soldaten das Leben gekostet.
Den imperialen Wettlauf um überseeische Kolonien hatte Napoleon verloren. Wie die Montgolfière war auch sein militärisches Projekt hart zu Boden gekommen und hatte einen wenig rühmlichen Ausgang genommen. Doch wie der erste Heißluftballon trotz seines Sturzes Eindruck hinterließ, blieb auch die Invasion nicht ohne Folgen. Denn was aus französischer Sicht als Niederlage erschien, die alle weiteren Vorstöße ins östliche Mittelmeer zumindest für einige Jahrzehnte unterband, erschien aus Perspektive der Ägypter als etwas ganz anderes: als Kontakt mit einer Zivilisation, die ihnen in aller Deutlichkeit vor Augen führte, wie sehr sie in politischer, technischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht ihrer Zeit hinterherliefen. Napoleon mochte in Ägypten gescheitert sein – nicht an den Einheimischen allerdings, sondern an seinen größten europäischen Rivalen, den Briten und den mit ihnen verbündeten Osmanen. Allein auf sich gestellt, wären die Ägypter den französischen Truppen hoffnungslos unterlegen gewesen, hätten sich womöglich, wie gut dreißig Jahre später die Algerier, der fremden Herrschaft fügen müssen. Kairo wäre eine Dependance von Paris geworden.
Das registrieren damals auch die Ägypter. Und sie sehen, ahnen zumindest, worauf die Macht der Franzosen zurückzuführen ist. Und so ist Al-Dschabarti hin- und hergerissen. Er ist entsetzt über das gottlose Weltbild der Eroberer, ihr pragmatisches, bisweilen zynisches Verhältnis zur Religion.26 Er registriert, dass Napoleons konfessionelle Bekenntnisse nur vorgeschoben sind, ein schlichtes Mittel, sich die Ägypter gewogen zu machen. Greifen diese aber nicht, beobachtet er, scheuen die Franzosen auch vor Gewalt nicht zurück. Detailliert berichtet Al-Dschabarti von der Rücksichtslosigkeit, mit der die Franzosen gegen Aufständische vorgehen. Doch sieht er auch etwas Anderes: Das harte Regime folgt Gesetzen, entspringt in der Regel keinen Launen, sondern ist berechenbar, lässt sich von nachvollziehbaren Prinzipien leiten. Und darin, notiert Al-Dschabarti in seinem zweiten, 1805 verfassten Bericht, unterscheiden sich die Franzosen von nicht wenigen seiner Glaubensbrüder, die ein ganz anderes Verhalten an den Tag legen. Die Soldaten des Osmanischen Reichs etwa: „ein Gesindel von Soldaten, die behaupten, sie seien Muslime und Heilige Krieger, die Menschen töten und misshandeln, nur um ihre tierischen Anwandlungen zu befriedigen.“ Tatsächlich sind die Osmanen nicht stark, beobachtet ein Zeitgenosse Al-Dschabartis, Hassan al-Attar – sie machen sich nur die Unterlegenheit ihrer Gegner zunutze: „Sie sind schwach, wenn sie auf die Ungläubigen treffen. Doch gegenüber den schwachen Muslimen zeigen sie sich stark und hart.“27