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Expressionismus - was ist das eigentlich?

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„Der Sturm“ gehört neben den Zeitschriften „Die Aktion“ und „Die weißen Blätter“ zu den wichtigsten Sprachrohren der expressionistischen Bewegung (1). Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dem Wortungetüm „Expressionismus“? Die Experten unter Euch und Ihnen können nun getrost umblättern. Für diejenigen aber, die schon immer über dieses Wortungestüm gestolpert sind, hier der Versuch einer kurzen Erklärung. Die Betonung liegt auf „kurz“, denn natürlich kann dieser Abriss weder der Bewegung noch dem Begriff gerecht werden. Denn selbst in den Augen von Experten ist „der Expressionismus nun einmal ein höchst komplexes Gebilde, das sowohl künstlerisch als auch weltanschaulich nur schwer auf einen Nenner zu bringen ist“ (2).

Das Wort „Expressionismus“ kommt aus dem Lateinischen. „Expressio“ heißt Ausdruck (3) und „exprimere“ ausdrücken (4). Daraus leitet sich der Begriff „Ausdruckskunst“ ab, der synonym für „Expressionismus“ verwandt wird (5).

Ein besonderes Problem der Definition besteht daran, dass der Begriff nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch „zur Bestimmung von Stilepochen der bildenden Künste und der Musik“ (6) verwandt wird. Das liegt daran, dass der Ausdruck „zunächst von der bildenden Kunst und der Musik geprägt, dann von Musik und von der deutschen Literatur“ (7) übernommen wurde. Es handelt sich also um einen „Sammelbegriff“ (8), der nur als „Provisorium“ verstanden werden kann.

In der Malerei konzentriert sich der Expressionismus „unter Verzicht auf die naturgetreue Wiedergabe (10) auf die „Herausarbeitung des Geistigen, Seelischen" (11). In der Literatur hat die Ausdruckskunst zum Ziel, „möglichst rein das seelische ,Ich' auszudrücken in dem Glauben, damit das Wesentliche über die Welt und die Dinge auszusagen“ (12). „Alles künstlerische Schaffen“ - ob nun in der bildenden Kunst oder in der Literatur - „soll nunmehr die Projektion des tieferen ,Ich' des Künstlers“ (13) darstellen. Die Expressionisten verstehen sich als Gegenbewegung zur „materiellen Wirklichkeitsabbildung“ (14) des Naturalismus und zur reinen „Wiedergabe äußerer Eindrücke“ (15) des Impressionismus. „Das Werk betrachtet nicht mehr die äußere Wirklichkeit, sondern schlägt eine andere Wirklichkeit vor, und zwar die des Künstlers“ (16).

Bei dem Versuch zu klären, wann und wo der Begriff „Expressionismus“ das erste Mal aufgetaucht ist, stößt man auf die unterschiedlichsten Theorien. In einer alten Ausgabe von „Knaurs Lexikon der modernen Kunst“ heißt es: „Herwarth Walden ... prägte ihn um 1911, um mit ihm ziemlich unterschiedslos alle fortschrittlichen, künstlerischen Richtungen seiner Epoche - einschließlich Kubismus, Futurismus und abstrakter Kunst zu bezeichnen“ (17). Die ersten schriftlichen Belege für die Verwendung des Begriffs in Deutschland datieren ebenfalls aus dem Jahr 1911 (18). Im Katalog einer Ausstellung der Berliner Secession bezeichnet der Begriff Bilder von Braque, Derain, Picasso, Vlaminck u.a. (19). Der Sturm erwähnt „im Juli 1911 den Begriff zum ersten Mal (20), und zwar im Rahmen einer Ausstellungsbesprechung.

Die expressionistische Bewegung entsteht um die Jahrhundertwende und wird von Künstlern ins Leben gerufen, die zwischen 1875 und 1895 (21) geboren worden sind. Diesen jungen, meist „aus wohlsituiertem Bürgertum“ (22) stammenden Künstlern und Schriftstellern ist eins gemeinsam: „Der Protest gegen das in alten Autoritätsstrukturen erstarrte wilhelminische Bürgertum und gegen eine zunehmende Mechanisierung des Lebens, die Angst vor einer Bedrohung des Geistes und die Vorahnung einer apokalyptischen gesellschaftlichen Katastrophe“ (23), die sich 1914 mit dem Ersten Weltkrieg auch bewahrheitet. Hinzu kommen die gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen in den Jahrzehnten von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, die sich „für die expressionistische Generation im Erlebnisraum Großstadt“ (24) verdichten. Die ehemalige Reichshauptstadt Berlin, eines der Zentren der expressionistischen Bewegung, wächst beispielsweise von 800.000 Einwohnern im Jahre 1870 auf über zwei Millionen im Jahr 1910. 1920 - also zum Ende des expressionistischen Jahrzehnts - sind es über vier Millionen Einwohner (25). Darüber hinaus entwickelt sich die bis dahin agrarische oder kleinstädtische Lebensform gewöhnte deutsche Nation innerhalb von 50 Jahren zu einer Industriegesellschaft. Diese existentiellen Entfremdungs- und Angsterfahrungen der jungen Generation schlagen sich vor allem in der Lyrik (26) nieder, wie zum Beispiel in dem Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein (* 28.12.1883 in Halle (Saale) † 22.1.1945 in Paris), das aus urheberrechtlichen Gründen hier leider nur stark verkürzt zitiert werden darf:

„Nah wie Löcher eines Siebes stehn Fenster beieinander, drängend fassen Häuser sich so dicht an, dass die Straßen Grau geschwollen wie Gewürgte sehn … Und wie stumm in abgeschloßner Höhle … Steht doch jeder fern und fühlt: alleine. (27) Auch in der Bildenden Kunst spiegelt sich diese Orientierungslosigkeit im Erlebnisraum Großstadt wider, wie zum Beispiel in dem Bild: „Ich und die Stadt“ von Ludwig Meidner. Es zeigt ein Gesicht, das zwischen Häuserschluchten versinkt. Die politischen Ereignisse zwischen 1914 und 1923, also der Krieg, die Revolution, die Nachkriegsmisere und die Inflation, haben den „gesteigerten Ausdruckswillen“ (28) in der Literatur und in der bildenden Kunst zweifellos stark beeinflusst. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass die expressionistische Bewegung schon 1910 deutlich ausgeprägt ist. Die politischen Ereignisse sind nur als ein Teilaspekt bei der Entstehung der expressionischen Bewegung zu berücksichtigen. Die Angst vor der „Selbstentfremdung vom Mitmenschen“ und „von der Gesellschaft vor allem“ (29) hat seinen tieferen Ursprung in der Ablehnung des Naturalismus als Kunstrichtung und als Lebensphilosophie. Der Naturalismus drückt das Lebensgefühl des Menschen im neunzehnten Jahrhundert aus, das durch die Industrialisierung und die zahlreichen Entdeckungen auf dem Gebiet der Technik, der Chemie, der Heilkunde, der Physik etc. geprägt ist: „Die Natur als Wirklichkeit, die Natur als Übermacht, die Natur als regulierendes Gesetz“ (30). Doch diese Naturgesetze, die zum Maß aller Dinge erhoben werden, „legten sich als ... Schlingen um das Individualgefühl des Menschen, zogen sich enger und erstickten es" (31). Die Menschen fühlen sich klein, machtlos und ausgeliefert. “Der Mensch war zum bloßen Anhängsel der Natur geworden, und die Natur, gestachelt von ihrem trunkenen Freiheitsgefühle, stürmte hohnlachend davon und schleifte den geschundenen Menschen am Boden hinter sich her" (32). Diese Geisteshaltung schlägt sich auch in der bildenden Kunst und in der Literatur nieder. Der Naturalismus strebt eine möglichst genaue Abbildung der Wirklichkeit an und lässt der Fantasie keinen Spielraum. Dieses Weltbild, das alles und jedes mit Naturgesetzen zu erklären versucht, und das sich auch in der strengen wilhelminischen Gesellschaftsordnung widerspiegelt, ist der Nährboden für den Expressionismus und die Zurückbesinnung auf das Seelische, das mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren scheint. Um die „Erneuerung des Menschen“ (33) und damit der Gesellschaft zu erreichen, gehen die Expressionisten unterschiedliche Wege. Die einen vertrauen sich „ganz der Seele an, die ihnen als die große Heilkraft für den Einzelnen und die menschliche Gesellschaft erscheint - ihre Dichtung ist ein Weg nach innen - die anderen einzig dem Geiste, der hier mit dem aufklärerischen Verstande gleichgesetzt wird - ihre Dichtung ist Politik" (34).

Doch welchen Weg diese jungen Dichter und Künstler auch einschlagen, sie finden sich alle in den zahlreichen expressionistischen Zeitschriften wieder. Dass sich Walden der Bedeutung seiner Zeitschrift sehr bewusst ist, zeigt ein Zitat aus dem Jahr 1918: „Alle Künstler, die eine führende Bedeutung für den Expressionismus haben, sind an einer Stelle vereint. - Diese ist der Sturm“ (35).

Die Zeit zwischen 1910 und 1920 wird in der Literatur oft als „das expressionistische Jahrzehnt“ beschrieben. Die Rolle des Expressionismus in dieser Zeit war jedoch gering. Die Kulturlandschaft wurde damals viel weniger von expressionistischen, futuristischen, aktivistischen und dadaistischen Impulsen geprägt, als es von manchen Zeitgenossen nachträglich dargestellt worden ist. „Die Öffentlichkeit lachte und spottete“ (36) zwar über die Expressionisten, „meist aber schwieg“ sie (37). Die Stilismen der Jahrhundertwende standen in der Gunst des Publikums nach wie vor ganz vorn: „Klassiker-Rezeptionen im Zeichen eines trivialen Neuidealismus, der gediegene Roman des poetischen Realismus und nicht zuletzt die Heimatkunstbewegung, waren für das breite Publikum und seine kulturellen Bedürfnisse gewiss repräsentativer als Expressionistisches“ (38).

Der Sturm entfacht von Herwarth Walden

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