Читать книгу Hinter verborgenen Pfaden - Kerstin Hornung - Страница 8
2. Pal’dor
ОглавлениеDer Warnruf des Tores hatte mit einem schrillen Summen begonnen, das sich langsam in ein immer tieferes Grollen verwandelte. Ohne die Rituale zu befolgen, hatte jemand die geheimen Pfade betreten und die äußerste Schutzgrenze von Pal’dor durchbrochen. Ala’na stand auf dem weißen Balkon vor ihrem Schlafgemach und schaute beunruhigt in die Ferne. Doch selbst mit ihren scharfen Augen konnte sie nicht mehr erkennen als ein paar Blättchen, die sich ein wenig zu schnell in der leichten Brise wiegten.
Besorgt sah sie die ersten für einen Kampf gerüsteten Elben die Pfade hinuntereilen.
Auch jenseits der Stadtgrenzen war es unruhig. Der ganze Wald befand sich in Aufruhr. Ala’na konnte dies mehr spüren als sehen.
Hoffentlich war Jar’jana in Sicherheit.
Die Ursache der Störung konnte sie jedoch nicht erkennen. Das Grollen des beschädigten Tores wurde zwar leiser, aber draußen im Wald nahm das Chaos zu. Der Lärm und das Ungeschick deuteten darauf hin, dass es Menschen waren. Menschen vor Pal´dor?! Das war in den letzten tausend Jahren so gut wie nie vorgekommen. Aber wer konnte schon in die Köpfe der Menschen sehen? Unruhig und wankelmütig, wie sie waren, waren sie immer für eine Überraschung gut. Dass sie den Wald normalerweise fürchteten, war immer ein beruhigender und zusätzlicher Schutz für Pal’dor gewesen, aber möglicherweise hatten die Menschen sich von ihrer Angst losgesagt. Immerhin schien ihr Leben außerhalb des Waldes auch nicht ungefährlich zu sein. Warum sonst trauten sich in letzter Zeit immer mehr von ihnen immer tiefer? Ala’na verfolgte ihr Treiben mit Hilfe des Sees Latar’ria schon seit vielen Monden. Bisher hielten sie sich hauptsächlich im Norden des Waldes auf und sie benahmen sich so, dass der Wald sie duldete.
Hatte sie in letzter Zeit vielleicht etwas übersehen? Hatte sie sich zu sehr darauf verlassen, dass sie an sich harmlos waren? In den letzten tausend Jahren war es selbst den engsten und vertrautesten Menschenfreunden nie gelungen, die Tore von Pal’dor zu finden. Aber Menschen lebten und starben so schnell, dass man als Elbe schnell den Überblick verlieren konnte.
Wie lange war es her, dass der letzte Mensch die Stadt besucht hatte? Hundert oder hundertfünfzig Jahre?
Der kluge Theobald aus Waldoria war regelmäßig gekommen. Jahrelang. Er suchte in Pal’dor Wissen und Frieden und fand auch Freundschaft. Eines Tages brachte Theobald ein Kind mit. Einen Jungen, der das beschauliche Leben von Pal´dor aufgewühlt und umgekrempelt hatte. Selbst in hunderten von Jahren würde man sich an dieses Kind erinnern. Ala’na erinnerte sich gerne an ihn. Er hieß Peredur und war der jüngste Sohn des damaligen Menschenkönigs. Theobald war beauftragt worden, für dieses Kind Sorge zu tragen, damit es das Kriegsgräuel jener Tage nicht miterleben musste. Als er mit dem Jungen nach Pal’dor kam, war der König tot. Theobald sprach von Thronraub und Verrat, von Unrecht und Mord und wollte das Kind in Sicherheit wissen.
Es war sein letzter Besuch in Pal’dor. Als er die Stadt verließ, lauerten ihm die Häscher des Thronräubers im Wald auf und brachten ihn zur Strecke, noch bevor jemand ihm zu Hilfe eilen konnte.
Daraufhin nahmen Ala’na und ihr Gefährte Rond’taro dieses Kind wie ihr eigenes auf.
Peredur war wie Quecksilber. Er hüpfte, er rannte, er kletterte auf Bäume und Mauern. Ruhig war er nur, wenn er schlief oder, wenn man ihm eine Geschichte erzählte.
Als er größer wurde, lernte er mit der gleichen Energie, mit der er vorher gespielt hatte. Seine dunklen, ständig zerzausten Haare fielen in Locken auf seine Schultern, und Ala’na erinnerte sich immer noch an seine grünen Augen, umrahmt von dunkeln Wimpern. Innerhalb weniger Jahre wuchs er zu erstaunlicher Größe heran, und die junge Sili’rana suchte oft seine Nähe. Stundenlang saßen die beiden am See, redeten und lachten und kümmerten sich wenig um die Gepflogenheiten, die solchen Treffen vorauszugehen hatten. Ala’na war besorgt, konnte sich aber der sprühenden Lebensfreude dieses jungen Mannes selbst nicht entziehen.
Er war der letzte Mensch gewesen, der in Pal’dor gelebt hatte, doch wie alle Menschen war er vergänglich. Ala’na konnte nicht umhin, auch heute noch den Stolz zu bewundern, mit dem er damals das Geschenk der Unsterblichkeit zurückgewiesen hatte. Und so war er gegangen wie so vieles, was gut und schön war in dieser Welt.
Jetzt endlich konnte sie von ihrem Aussichtspunkt aus etwas erkennen. Sie konzentrierte sich und richtete ihren Blick in die Ferne. Ein leises Stöhnen, gefolgt von einem erleichterten Aufatmen entwich ihren Lippen, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und durchquerte mit fliegenden Kleidern ihr Schlafgemach.
Wenige Minuten später lief sie die Pfade von Pal’dor entlang, der Gruppe Jäger entgegen, die bereits seit vielen Tagen zurückerwartete. Erst kurz bevor sie sie erreichte, mäßigte sie ihren Schritt und beruhigte ihren Atem. Sie war schließlich Ala’na die Weise oder die Alte, sie hatte mehr gesehen und erlebt als die meisten hier. Sie war Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, und gewiss hatte sie in den letzten tausend Jahren hier niemand mehr wie ein Kind laufen gesehen. Sie zog ein paar Strähnen ihres langen, wallenden Haares auf die Brust, dann trat sie mit gemessenen Schritten der Gruppe entgegen.
»Rond’taro, ich grüße dich.« Der Glanz ihrer Augen sprach deutlichere Worte, als ihre Lippen es tun konnten. Ihr Blick fiel auf den Rest der Truppe und wurde trüb. Es war nur knapp die Hälfte derer, die ausgezogen waren, und sie sahen müde und abgekämpft aus. Einer blutete aus frischen Wunden. Ala’na begrüßte auch sie mit einem gemessenen Kopfnicken.
»Ala’na! Meine Augen sind erfreut, dich wiederzusehen.« Rond’taro stieg von seinem Pferd und fasste seine Gefährtin an beiden Händen.
»Was ist dort draußen los?«, fragte sie. »Wo sind die anderen?«
»Ruf den großen Rat zusammen. Ich bringe schlechte Nachrichten. Alle müssen davon erfahren.«
Ala´na warf ihm einen prüfenden Blick zu und biss die Zähne zusammen. Indem Rond´taro zum Rat rief, versagte er ihr die Möglichkeit, gleich Antworten zu erhalten.
»Da sind Menschen im Wald!?« Den Vorwurf in ihrer Stimme konnte nur Rond’taro hören. Er streichelte mit dem Handrücken beschwichtigend über ihren.
»Sie tragen die Farben des Königs. Wir ritten auf das Tor der Morgenröte zu, aber die Sonne hatte ihren Stand noch nicht erreicht, als sie plötzlich durch das Dickicht brachen und uns sofort angriffen. Ich wollte keinen weiteren Kampf riskieren. Leron’das«, er deutete auf den blutenden Elben, »schoss ein paar Warnpfeile ab und hielt uns den Rücken frei, während wir das Tor öffneten. Ein Pfeil hat ihn getroffen, die Heilerin Iri’te sollte bald nach ihm sehen.«
»Konnte euch jemand folgen?«, fragte Ala’na besorgt. Das Verhalten der Menschen war sehr ungewöhnlich, aber nicht das, was Rond´taro nach dem großen Rat verlangen ließ. Wieso dieser Angriff?, fragte sie sich trotzdem.
»Es folgte uns keiner. Als auch der Letzte von uns hindurch war, haben wir das Tor notdürftig verschlossen. Aro’gen und Lilli’de sind jetzt dort, sie sprechen die Worte des Verbergens und Verschließens.«
Ala’na nickte. Alles hatte seine Ordnung in Pal’dor, jeder wusste, was er zu tun hatte, und erfüllte seine Aufgaben. Niemand beherrschte das Verschleiern von Orten so gut wie diese beiden Elben. Sie war beruhigt, trotzdem lauschte sie noch einmal prüfend nach dem Grollen.
»Wie geht es Jar’jana?«, erkundigte sich Rond’taro. »Der letzte Mond ist gestern angebrochen.«
Ala’na war ein wenig überrascht, dass er sofort darauf zu sprechen kam.
»Sie ging wie geplant auf ihren Weg. Ihre Vertraute und Freundin seit frühen Kindertagen, Sili’rana, erwartet sie spätestens morgen bei Sonnenuntergang auf der Warte.« Ala’na brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass auf Rond’taros Stirn eine steile Sorgenfalte sichtbar wurde.
»Es sind sehr viele Menschen im Wald«, gab er zu bedenken.
»Sie hat ihren Aufbruch so lange wie möglich hinausgezögert«, sagte Ala’na. Wieder ein Vorwurf und sie zwang sich nach vorne zu sehen, obwohl sie gerne einen Blick auf die Jäger geworfen hätte. War Jar’janas Gefährte Fari’jaro unter ihnen?
Rond’taro sagte nichts, atmete aber hörbar aus.
»Die vorgeburtliche Prophezeiung ist gut. Sie verheißt uns ein Kind von großer Stärke …«, versuchte Ala’na sich selbst Mut zu machen.
»Die Prophezeiung!?« Rond’taros Stimme war wie immer leise und bedacht, aber Ala’na hörte den spitzen Unterton. Sie wusste, dass er nichts von vorgeburtlichen Prophezeiungen hielt.
»Es wird erst mal ein Kind sein. Ein kleines, hilfloses Wesen, das alles lernen muss, ehe es irgendeiner Bestimmung folgen kann. Du weißt, was ich denke, und ich habe …«, er sah sie sanft lächelnd an, »wir haben unser Bestes dafür getan. Nicht ein Kind allein kann unsere Zukunft bestimmen, wir brauchen mehr, viele mehr.« Er warf einen Blick nach hinten zu seinen Gefährten der letzten Reise. Wieder grub sich die Sorgenfalte in seine Stirn. Sein Blick ging zu Boden und er flüsterte. »Ich habe in wenigen Tagen mehr Tapfere verloren, als Kinder in den letzten fünfhundert Jahren hier geboren wurden.« Er sah Ala’na eindringlich an. »Fari’jaro ist nicht mehr am Leben …«, hauchte er. Dann ging sein Blick wieder zu Boden.
Als sie die ersten Gebäude der Stadt erreichten, richtete Rond’taro noch einmal seine Aufmerksamkeit auf die erschöpften Jäger.
»Ihr Tapferen von Pal’dor! Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Wir sind weit geritten, und ihr seid mutige Gefährten gewesen. Geht jetzt nach Hause und ruht euch aus. Der Rat wird einberufen, und jeder von euch wird erzählen, was er gesehen und gehört hat. Wenn sich übermorgen das Tor der Dämmerung öffnet, haltet euch bereit. Im Rat werden wir entscheiden. Lebt wohl, Freunde.«
Der See Latar’ria lag in einer kleinen Waldlichtung. Ala’na näherte sich ihm besonnen, wie sie es immer tat, und lauschte dem Flüstern der Wellen, die unruhig, stumpf und grau ans Ufer rollten. Sie breitete ihre Arme aus, murmelte leise Worte und beruhigte Latar’ria, bis sich die Wellen glätteten und das Wasser seinen natürlichen Glanz wiederhatte. Erst als der See still wie ein Spiegel dalag, begann sie damit, eine Verbindung zu den magischen Quellen in jeder der fünf Elbenstädte aufzubauen, um diese zum großen Rat zu bitten.
Die Städte Mar’lea am Meer und Lac’ter im Engelsee waren leicht zu benachrichtigen, denn sie lagen an großen Gewässern. Munt’tar hingegen befand sich hoch in den südlichen Bergen. Die Bäche dort waren kaum größer als Rinnsale aus Gletscherwasser, die unruhig über die Steine spritzten. Descher’latar war noch schwieriger zu erreichen, denn sie lag jenseits dieser Berge an der Grenze zwischen Steppe und Wüste. Viele Antworten auf ihre Fragen konnte Ala’na höchstens erahnen.
Vier der fünf großen Elbenstädte hatte sie nun benachrichtigt, und jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die letzte – Frig’dal.
Es war die mit Abstand abgeschiedenste Stadt im gesamten Land Ardea’lia. Eis und Schnee hielten das Hochland im Norden beinahe das gesamte Jahr über fest im Griff. Zwischen weißen Hügeln lag Frig’dal, die Stadt aus Eis. Ala’na war in jungen Jahren einmal dort gewesen und andächtig zwischen den spinnwebzarten Kunstwerken aus Eis entlanggegangen.
Als sie jetzt die Stadt zum wiederholten Male anrief, fröstelte sie bei dem bloßen Gedanken an die schaurige Kälte dort. Niemand antwortete. Sie versuchte es erneut, der See war heute sehr unruhig, und Ala’na merkte, wie diese Unruhe langsam auf sie übergriff. Sie konzentrierte sich auf das innere Bild, das ihr von der Stadt geblieben war, dann hob sie beide Arme, breitete sie langsam aus, atmete tief ein und rief:
»Die nördliche Stadt aus ewigem Eis, in den Hügeln und Tälern des Hochlands. Fließendes Wasser und plätschernder Quell klopfe an bei deinem Bruder dem Eis. Zeig mir den Spiegel Ogla’ra!«
Latar’ria knirschte und knackte. Eiskristalle bildeten sich am Ufer und breiteten bald eine zerbrechliche Eisdecke auf dem See aus.
»Ala’na ruft den Rat nach Pal’dor …« Das Eis knackte und zersprang mit einem Mal.
Schwarzes Wasser spritzte aus dem See. Ala’na wich zurück.
Latar’ria war launisch seit jeher. Verbindungen ins Eis waren noch nie einfach gewesen, aber heute steckte mehr dahinter als bloß der Unwille dieses Wassers, eine feste Form anzunehmen. Etwas wühlte den See auf. Etwas veränderte sich.
Frig’dal hatte nicht geantwortet, aber zumindest war ihre Nachricht durchgegangen. Auch im eisigen Norden wusste man, dass ein Aufruf zum Rat verbindlich war.
Regungslos stand Ala’na noch eine ganze Weile vor dem See.
Es gab viele Dinge, die sie tun musste.
Als erste Mutter war es ihre Aufgabe, nach dem verletzten Leron’das zu sehen. Er war zwar nicht mit ihr verwandt, aber er hatte an der Seite ihres Mannes gekämpft und gehörte damit zur Familie.
Sie musste Vorbereitungen für den Rat treffen, ebenso wie für die Geburt auf der Warte.
Ala’na beschloss mit einem Besuch bei Leron’das zu beginnen, dann konnte sie Rond’taro von ihm berichten, ehe sie das Ratstreffen vorbereitete.
Ihren Ritt zur Warte würde sie erst einmal verschieben. Jar’jana sollte noch nicht erfahren, dass Rond’taro zurückgekehrt war. Ala’na fürchtete sich davor, Jar’jana die Nachricht von Fari’jaros Tod zu überbringen, und wollte diesen Moment so lange wie möglich hinauszögern.
Was für ein Tag, dachte sie bei sich. Gestern war alles noch nach Plan verlaufen.
Jar’jana hatte am Vormittag ihr Abschiedsritual befolgt und war zum höchsten Stand der Sonne auf ihren Weg gegangen. Als sie durch das Sonnentor hinaus in den Wald ging, konnte Ala’na ihre Schritte noch eine Zeitlang verfolgen. Schon am Vortag hatte sie die Aussicht, dass Jar’jana zwei Tage lang alleine im Wald sein würde, mit Sorge erfüllt. Die Veränderungen, von denen der See zeugte, trugen auch heute nicht zu ihrer Beruhigung bei und nun wusste sie auch noch, dass es im Wald von Menschen nur so wimmelte. Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um als werdende Mutter im Wald zur Ruhe zu kommen. Dabei hatte gerade Jar’jana diese Ruhe dringend nötig. Die Erwartungen hatten sie stark unter Druck gesetzt.
In Pal’dor waren in den letzten tausend Jahren kaum zwei Dutzend Kinder geboren worden. Die letzte Geburt lag fast hundert Jahre zurück.
Ala’na versuchte, ihre treibenden Gedanken zu sammeln. Es gab Dinge, die sie nicht beeinflussen konnte, mahnte sie sich. Sie würde warten müssen, bis die Nachricht von der Warte kam.
Entschlossen glättete sie ihre Kleider, zupfte die Ärmel zurecht und machte sich auf den Weg, um das zu tun, was sie tun musste.
Leron’das ging es den Umständen entsprechend gut. Er hatte einige Streifschüsse an Armen und Beinen, die stark geblutet hatten, die allerdings keine große Herausforderung für die Heilkunst Iri’tes darstellten. Um seinen Oberkörper war ein dicker Verband gewickelt. Ein Pfeil hatte seine leichte Jagdrüstung aus Leder an der Schwachstelle unter dem Arm durchbohrt und war tief in seinen Körper eingedrungen. Iri’te hatte den Pfeil entfernen können und die Wunde gereinigt, allerdings musste Leron’das noch einige Tage liegen und sich schonen.
Als er Ala’na sah, lächelte er tapfer und versuchte, sich in seinen Kissen aufzurichten. Ala’na ließ sich auf seiner Bettkante nieder und nahm seine Hand.
»Ich danke dir, Leron’das, für deine Tapferkeit«, sagte sie. »Ich danke dir, dass du dein Leben eingesetzt hast, um das deiner Gefährten zu schützen, und ich danke dir, dass du Pal’dor geschützt hast.«
Leron’das lächelte, aber sein Blick wurde trüb.
»Ich bedaure, Ala’na, dass ich nicht mehr tun konnte. Viele meiner Gefährten sah ich sterben, ohne sie beschützen zu können. Es tut mir leid, Ala’na, dass ich nicht mehr für Fari’jaro, den Mann deiner Urenkelin, tun konnte.« Leron’das sah eine Weile stumm auf seine grün durchmusterte Decke. »Er starb in meinen Armen. Sein letzter Gedanke galt Jar’jana und dem Kind.« Er seufzte, und Ala’na konnte ein leichtes Pfeifen hören, das seine verletzte Lunge beim Einatmen machte.
»Ich muss ihr die letzten Grüße und Wünsche ihres Mannes überbringen.« Er sah Ala’na aus großen dunklen Augen an. Tränen schimmerten darin.
»Jar’jana ist gestern beim höchsten Stand der Sonne auf ihren Weg gegangen. Die Nachricht wird sie erschüttern, und ich bin froh, dass sie heute nicht mehr hier ist. Der Verlust, den sie erleiden muss, trifft auch uns alle tief.«
Eine ganze Weile sagte keiner von beiden ein Wort. Ala’na betrachtete Leron’das genau. Trotz seiner undurchdringlichen Miene konnte sie deutlich erkennen, wie bewegt er war. Was mochten er und seine Gefährten in den letzten Wochen erlebt haben? Die Hälfte von ihnen war nicht zurückgekehrt, und die restlichen hatten einen gehetzten Ausdruck in den Augen. Rond’taro, das ärgerte sie immer noch, hatte umgehend nach dem Rat verlangt und ihr somit jede Möglichkeit genommen, etwas über den Verlauf seiner Reise zu erfahren, ehe es im Rat zur Sprache kam. Zu gerne hätte sie gewusst, was vorgefallen war.
Rond’taro neigte nicht zu unüberlegten Handlungen und hätte sich bei dem kleinsten Anzeichen von Gefahr zurückgezogen. Er kannte die Quellenberge wie kaum ein anderer. Jeder winzige Eingang in die weitläufigen Höhlen war ihm vertraut. Die Mehrzahl dieser Höhlen war zudem verschleiert.
Vor langer Zeit waren die Quellenberge Elbenland gewesen. Als die Elben die alte Heimat Nordarea’lia verließen, um dem Schatten zu entkommen, segelten sie über die Eissee und fanden dieses Land. Sie ließen ihre Langboote durch das Delta des Engelsflusses über den Engelsee und dann weiter stromaufwärts fahren, bis schließlich vor den Quellenbergen das Wasser zu seicht wurde. Hier ankerten sie und erforschten die Berge. Sie nannten sie Re’n Dal und ließen sich in den Tropfsteinhöhlen unter den Bergen nieder. Die Natur hatte hier gigantische Wunderwerke geschaffen, und die Elben taten ihr Bestes, um die selbst gegrabenen Gänge in ähnlicher Schönheit zu gestalten. Die Halle der Erkenntnis und der Große Ratssaal waren Gesamtkunstwerke der Elben und Mutter Natur.
Allen Elben war damals klar, dass die Höhlen in Re’n Dal nur ein vorübergehender Aufenthaltsort sein konnten. Einige wollten wieder auf das Meer hinaus und weitere Länder entdecken. Andere sprachen davon, in ihre Heimat zurückzukehren. Es gab aber auch viele unter ihnen, die bleiben und sich in diesem Land, das sie Ardea’lia (hügeliges Land) nannten, niederlassen wollten.
An den vielen unterschiedlichen Wünschen entbrannte im Laufe von beinahe zwei Jahrhunderten ein Streit, der wie eine klaffende Wunde im Fleisch des elbischen Volkes war.
Die Eissee war in der Zwischenzeit, bis auf wenige Wochen im Jahr, vollständig zugefroren und ließ somit keine Schiffe durch. Obwohl an eine Heimreise nicht mehr zu denken war, ließen sich einige Elben auf der Insel im Engelsee nieder. So entstand die Stadt Lac’ter.
Nach Mar’lea zog es die, denen der weite Ozean fremde, friedvollere Länder versprach. Alle anderen besiedelten das Land und teilten es mit den wenigen Menschen, die zu der Zeit hier wohnten. Doch nicht alle Elben waren mit dem Zusammenleben zufrieden. Vielen waren die Menschen zu unzuverlässig, und sie zogen sich daher in Gebiete zurück, die abgeschiedener lagen. Manche wählten die schwindelnden Höhen, andere die Wüste oder das ewige Eis.
Sechs Städte entstanden so, und lange Zeit sprach niemand davon, Ardea’lia zu verlassen. Der Schatten aus Nordarea’lia gehörte der Vergangenheit an. Neue Generationen von Elben folgten. Selbst Ala’na, als eine der Ältesten in Pal’dor, war schon auf der Warte geboren worden.
Sie war so tief in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Leron’das eingeschlafen war.
Sie strich ihm sanft eine blonde Strähne aus der Stirn und verließ den Raum.
»Iri’te, er schläft. Ich danke dir, dass du so gut für ihn gesorgt hast. Er war sehr tapfer.«
Iri’te senkte nur leicht den Kopf, um sich ihrerseits für Ala’nas freundliche Worte zu bedanken.
Als Ala’na nach draußen trat, schimmerte durch die Bäume das Licht der frühen Mittagsstunde.
Es war ein wunderbar warmer Frühsommertag. Ala’nas trübe Stimmung hellte etwas auf. An Tagen wie diesen konnte eigentlich gar nichts Schlimmes geschehen. Und doch hatten Menschen vor den Toren von Pal’dor gelauert, und Rond’taros bereits angeschlagene Truppe angegriffen. Pures Glück hatte Leron’das vor dem Tod bewahrt.
Nicht auszudenken, wenn es plötzlich für all die unwissenden Menschen einen leibhaftigen Beweis für das Vorkommen von Elben im Blauen Wald gegeben hätte. Und dazu noch den Beweis, dass auch sie – wie die Menschen – bluteten und starben.
Seit tausend Jahren lebten die Elben verborgen vor der Welt dort draußen und zeigten sich nur auserwählten Menschen, die ihnen freundlich zugetan waren. Trotzdem hielten sich die Schauergeschichten über Dämonen und Erntenvernichter, die einst von den Zauberern in die Welt gesetzt wurden, standhaft. Von dem freundschaftlichen Verhältnis zu den Menschen, die hier lebten, bevor die Eroberer aus dem westlichen Nachbarland Mendeor die Berge überwanden, wusste heute kaum einer.
Nach dem großen Krieg wurden sie von den neuen Besatzern gejagt und die wenigen Menschen, die noch ihre Freunde waren, lebten zu kurz, um die Erinnerungen wach zu halten. Heute gab es, wenn überhaupt, nur noch eine Handvoll Menschen, die eingeweiht waren und die wahren Geschichten der Elben, den Herzen der anderen näherbrachten. Es war eine kleine Hoffnung, dass nicht alles verloren war.
Oder war es Rond’taro, der diese Hoffnung in Ala’nas Herz wachhielt?
Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Nicht nach dem großen Krieg, als die alten Gräben zwischen den Elben wieder aufbrachen und viele das Land verlassen wollten, und auch später nicht, als er Generation für Generation die Nähe der Schriftgelehrten suchte, die die letzten Geheimnisse von Ardea’lia bewahrten.
Rond’taro – Ala’na lächelte verträumt, als sie daran dachte – war kaum hundert Sommer alt gewesen, als er sich nach dem großen Krieg im Rat erhob, um für den Erhalt seiner Heimat zu kämpfen
»Dies ist auch unser Land. Viele von uns sind hier geboren. Wir dürfen uns nicht von den Eindringlingen, deren Leben im Vergleich zu unserem nur einen kurzen Augenblick dauert, verscheuchen lassen. Viele Menschen, die hier leben, sind unsere Freunde. Die Opfer, die wir und sie in diesem Krieg gebracht haben, wiegen schwer. Ich bin nicht bereit, meine Eltern und Geschwister zu verraten, die ihr Leben für dieses Land geopfert haben.« Mit seinen Worten hatte er Ala’na aus der Seele gesprochen, und sie war in heftiger Liebe zu ihm entbrannt. Eine Liebe, die heute nach zehn Jahrhunderten immer noch glühte.
Jetzt stand Ala’na vor ihrem Haus. Sie war so überwältigt von ihren Gedanken und der Erinnerung an den Anfang ihrer großen Liebe, dass sie nun ihre Schritte beschleunigte, um schneller bei Rond’taro zu sein. Beinahe musste sie über sich selber lachen, denn es war nun bereits das zweite Mal an diesem Tag, dass sie ihrem Mann entgegenlief.
Etwas außer Atem trat sie in das Zimmer, in dem Rond’taro geschlafen hatte. Er stand am Fenster und drehte sich nun zu ihr um.
»Du warst in Gedanken, meine Liebe.« Er lächelte.
»Die Menschen, Rond’taro, ich verstehe sie nicht. Was tun sie hier im Wald? Wir hatten Freunde unter ihnen …«
Rond’taro strich ihr sanft mit der Hand über das Haar.
»Die Freunde, die du meinst, meine Liebe, sind seit tausend Jahren tot. Selbst Peredur, der wie ein Sohn für uns war, lebt seit siebenundneunzig Jahren nicht mehr. Er war ein alter Mann, als er starb«. Der Schmerz dieses Verlustes ließ ihn heute noch atemlos zurück. Leise und bedauernd fügte er hinzu: »Ala’na, es gibt dort draußen niemanden, der uns kennt, und wir kennen die Menschen nicht mehr.«
Ala’na senkte den Kopf. »Manche fehlen mir heute noch, und ich wünschte, ihre Zeit wäre nicht so kurz gewesen.« Langsam ließ sie ihre Stirn an Rond’taros Brust sinken. »Ich bin froh, dass du zurückgekehrt bist.«
Er legte seine Arme um sie, und eine Weile standen sie so da, schließlich löste sie sich von ihm und blickte ihn an.
»Der Rat«, begann sie. »Ich weiß, dass wir nichts besprechen können, ehe die Versammlung beginnt, ich will nur wissen: Waren es Menschen, die euch in den Quellenbergen angegriffen haben?«
Er sah sie an. Lange blieb sein Gesicht bewegungslos. In seinen Augen konnte Ala’na sehen, wie er sich im Stillen über ihre Neugier amüsierte. Sie wollte sich gerade abwenden, als er sagte:
»Keine Menschen. Keine Menschen, bis auf jene vor Pal’dor.«