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3. Die Falkenburg

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Am frühen Nachmittag kam Agnus von Wildmoortal auf dem steilen Weg, der hinauf zur Falkenburg führte, eine große Gruppe berittener Krieger entgegen, so dass er ausweichen musste.

Verwundert bemerkte er, während er auf seiner Stute langsam den Berg hoch ritt, dass die Krieger, kaum im Tal angekommen, die Straße verließen und auf den Wald zuritten. Müde und durstig, wie er war, machte er sich jedoch darüber keine weiteren Gedanken.

Als er kurz darauf das erste Burgtor erreichte, lag der Vorhof dahinter wie ausgestorben. Die Gatter der Pferdekoppeln standen weit offen und Wachen konnte er keine entdecken. Agnus sprang aus dem Sattel und lief zu Fuß weiter, sein Pferd folgte ihm am Zügel. Auch das zweite Tor passierte er, ohne dass er nach seinem Anliegen gefragt wurde. Er schritt durch das gewaltige Torhaus in die Vorburg und stand unvermittelt im größten Chaos, das er sich vorstellen konnte.

Als er verwirrt stehen blieb und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen, stieß ein Knecht, der mit einem schweren Sack beladen war, mit ihm zusammen. Die unfreundlichen Worte, die dieser hervorstieß, wurden von dem Sack verschluckt.

Agnus sprach den nächsten Mann an, doch dieser stolperte, von dem Gewicht des Sackes nach vorne geneigt, weiter, ohne ihn zu beachten. Auch der nächste und übernächste Versuch sich weiterhelfen zu lassen, schlugen fehl.

Es war schon viele Jahre her, dass Agnus zum letzten Mal in der Königsburg gewesen war. Damals noch in Begleitung seines Vaters. Er erinnerte sich, dass es irgendwo im innerersten Bereich der Burg einen Brunnen gab. Den musste er finden. Dann würde er sich in den Schatten setzen und darauf warten, dass jemandem auffiel, dass er nicht hierhergehörte.

Ganz knapp gelang es ihm, einem weiteren sackbeladenen Mann aus dem Weg zu gehen, dabei dachte er an seine eigene beschauliche Burg im Wildmoortal, wo er jeden kannte, der ein und aus ging. Weiter oben entdeckte er das nächste Tor. Ein grimmiges Grinsen trat in sein vernarbtes Gesicht.

»Komm Lisia«, brummte er seiner Stute zu, und sie folgte ihm mit hängendem Kopf. Lisia war mutig und zäh, schnell wie der Wind, wenn es sein musste, und stark wie ein Bär, doch die weite Reise hatte sie erschöpft.

Auch an dem dritten Tor, das in den innersten Bereich der Burg führte, fragte ihn niemand, wohin er wollte und was er in der Burg zu suchen hatte. Er stand sozusagen vor der Tür des Königs, aber niemand scherte sich um ihn. Dabei sah er gewiss nicht wie ein hoher Herr aus. Seine Kleidung war staubig von der achtzehntägigen Reise und verriet nichts über seinen gesellschaftlichen Stand. Nicht, dass Agnus darauf Wert gelegt hätte. Ganz im Gegenteil, es war ihm sogar angenehmer, wenn niemand wusste, wer er war.

Er wechselte lieber ein offenes Wort mit einfachen Menschen, als mit hohen Herren höfliche Heucheleien auszutauschen.

Agnus fand einen Trog und stellte ihn neben dem Brunnen ab, dann löste er den Haken der Brunnenkette und ließ den Eimer in die Tiefe fallen. Im Wildmoortal waren die Brunnen flach, aber hier sah er den Wasserspiegel kaum. Als der Eimer auf dem Wasser aufschlug, hörte Agnus nur ein dumpfes Geräusch. Mühsam kurbelte er ihn wieder hoch, packte die schaukelnde Kette und hievte den Eimer über den Rand, wo er erst für sein Pferd sorgte, ehe er selbst durstig trank.

»Gibt es dort, wo du herkommst, kein Bier?«

Agnus verschluckte sich beinahe vor Schreck, als er die Stimme hinter sich hörte. Er setzte seine grimmigste Miene auf.

»Bei mir zu Hause werden Gäste am Tor empfangen und müssen sich nicht ihr Wasser mit den Pferden teilen«, knurrte er und drehte sich langsam um. Etwas verwirrt durch die vornehme Kleidung, die nicht zu der saloppen Wortwahl seines Gegenübers passte, deutete er eine Verbeugung an.

Der andere lachte und streckte Agnus die Hand entgegen.

»Walter Vogelsang«, sagte er, besah sein Gewand und fügte hinzu, »Hofmusiker. Ich soll heute noch vor der Gesellschaft des Königs spielen und habe mich ein wenig feingemacht.« Jetzt erst bemerkte Agnus die Laute, die über der Schulter des anderen hing, und ein Lächeln erhellte seine Miene.

»Agnus aus dem Wildmoortal«, stellte er sich vor. »Gegen ein Bier hätte ich nichts einzuwenden, wenn du mir sagst, wo ich eins bekommen kann.« Er klopfte seiner Stute leicht den Hals. »Aber erst muss mein Pferd in einen Stall. Über etwas Heu würde es sich auch freuen.«

»Liegt alles auf unserem Weg. Folge mir«, erwiderte Walter Vogelsang.

Sie verließen den inneren Bereich der Burg durch ein kleines Tor am hinteren Ende und kamen auf einen schmalen Weg, der zwischen der äußeren und der inneren Burgmauer verlief und in die Vorburg führte. Zuerst ging es steil bergab. Dann öffnete sich der Weg zu einem leicht abfallenden Platz, um den mehrere ineinander geschachtelte Häuser standen.

Walter Vogelsang verschwand durch eine der Türen. Etwas unschlüssig blieb Agnus stehen, doch da tauchte der Musikant wieder auf und winkte ihn zu sich.

»Komm nur mit«, rief er.

»Aber …«

»Da ist ein Platz für dein Pferd.«

Hinter der Tür befand sich ein enger, gepflasterter Gang, der rechts und links von Häusern begrenzt wurde. Dahinter lag ein winziger Garten, rechterhand ein kleiner Stall. Zwei Ziegen und ein Pferd standen darin.

»Wem gehört denn dieser kleine Bauernhof?«, fragte Agnus belustigt.

»Meiner Mutter«, antwortete Vogelsang. »Das Pferd gehört mir«, fügte er eitel hinzu.

»Ich danke dir und deiner Mutter im Namen meines Pferdes für eure Gastfreundschaft«, sagte Agnus, als sich Lisia genüsslich über das Heu hermachte. Sie war deutlich größer und kräftiger als Walter Vogelsangs Schimmel. Lisia schnaubte zufrieden, als Agnus ihr zum Abschied zärtlich auf das Hinterteil klopfte.

»Und jetzt kommen wir zu deinem Bier«, sagte Walter Vogelsang gut gelaunt.

Sie traten auf den kleinen Platz. Agnus blinzelte in die Sonne.

»Wohnst du da? Bei deiner Mutter?«, fragte er und versuchte zu erraten, wie alt der Barde sein konnte. Er war nicht besonders groß und knabenhaft um die Brust, aber er hatte eine Stimme, die ihn reifer wirken ließ.

»Eine Kammer bei ihr habe ich noch«, erwiderte Vogelsang leichthin. »Die Gesellschaften, die der König veranstaltet, häufen sich nicht gerade, und die guten Zeiten, in denen ein Barde immer sein Auskommen bei Hofe hatte, sind leider vorbei.«

»Vor allem, wenn er sich teure Kleidung und ein Pferd leistet«, bemerkte Agnus trocken.

Walter grinste spitzbübisch und flüsterte dann verschwörerisch: »Der König sollte sich trotzdem etwas mehr Spaß gönnen und vor allem nach einer neuen Frau Ausschau halten, statt immer nur im stillen Kämmerlein mit diesem schauderhaften Grießgram zu brüten.«

Ganz schön waghalsig, der junge Walter, dachte Agnus. Einfach mit einem Wildfremden über den König und seinen Berater zu lästern, könnte leicht ins Auge gehen, vor allem, weil der König nicht gerade als offenherziger Mensch bekannt war. Ob der König wieder heiratete oder nicht, war Agnus an sich aber herzlich egal. Seiner Meinung nach wäre es ohnehin besser gewesen, er hätte es überhaupt nie getan. König Levian hatte einfach nur das Glück gehabt, Eleonore, die einzige Tochter des letzten Königs Willibald IV. heiraten zu dürfen. Als der alte König einige Monate nach der Hochzeit starb, bestieg Eleonore hochschwanger den Thron. Sie gebar einen Sohn, der kaum eine Woche überlebte. Königin Eleonore folgte ihm nur wenige Tage später. Daraufhin wurde Levian zum König gekrönt. Böse Zungen behaupteten, dass er, Sohn einer adligen Familie aus dem Nachbarland Mendeor, ohnehin nur das Königreich gewollt hatte, und nicht die hässliche Eleonore.

»Du bist schweigsam, Fremder«, riss Walter Agnus aus seinen Gedanken. »Erzähl, was führt dich in diese trockene Gegend? Haben dich die Mücken aus den Sümpfen vertrieben?«

»Wenn die Mücken meine Sorge wären, dann wäre ich zu Hause geblieben. Da ist die Luft nicht so staubig, und es ist auch bei weitem nicht so hektisch wie in diesem Bienenstock«, knurrte Agnus zurück.

»Ich merke, du magst unsere Burg nicht. Aber das Burgleben hat auch seine guten Seiten. Es ist immer etwas los. Nicht immer so viel, wie in den letzten Tagen – leider – aber ich liebe all diese vornehmen Gäste, die meine Kunst zu würdigen wissen. Und jetzt auch noch dieses Fest ...« Walter verneigte sich gekonnt. »Aber ich merke schon, du willst es beschaulicher. Darum gehen wir jetzt zum Mauerwirt. Da ist es um diese Zeit schön ruhig. Außerdem«, er schubste Agnus mit dem Ellbogen freundschaftlich in die Rippen, »muss ich mir unbedingt noch etwas Mut antrinken.« Er lachte vergnügt.

Agnus begann, den Barden zu mögen.

Sie bogen in eine schmale Gasse ein. Sie war so schmal, dass Agnus fürchtete, mit seinen breiten Schultern zwischen den Mauern stecken zu bleiben. Am Ende des Ganges klopfte Walter mit der Faust gegen eine winzige Tür, die in das Mauerwerk eingelassen war.

»Mach auf, Beinhart, du hast Kundschaft!«, rief er, und seine volle Stimme hallte zwischen den Wänden wider.

Sie hörten, wie jemand zur Tür schlurfte. Dann knarrte ein Schlüssel im Schloss. Ein riesiger Kopf schob sich durch die Türöffnung.

»Geh nach Hause, Walter, du weißt, ich öffne nicht vor dem letzten Schlag der Abendglocke«, brummte der bärtige, zerzauste Schädel.

Walter zog Agnus am Ärmel aus dem dunklen Gang und schob ihn vor den Hünen.

»Ich habe einen Gast mitgebracht. Dieser Mann ist weit geritten und hat mächtigen Durst«, erklärte er. »Außerdem«, ein schalkhaftes Grinsen zog über sein Gesicht, »ist er entsetzt über die Gastfreundschaft auf unserer schönen Burg. Stell dir vor, so etwas spricht sich herum. Wie stehen wir dann da?«

»Hör doch auf zu quatschen, Walter. Dann kommt rein.« Damit öffnete der Bärtige die Tür und trat zur Seite.

Agnus musste sich bücken.

»Hab Dank, Beinhart«, sagte Walter förmlich.

»Schluss jetzt mit deinem höfischen Getue«, brummte dieser. »Du hast Glück, dass die Jagdgesellschaft des Königs noch nicht zurück ist und ich in der Metzgerei gerade nichts zu tun habe.« Er streckte Agnus eine riesige Pranke entgegen. »Hartmut«, stellte er sich vor, und mit einem hämischen Seitenblick auf Walter fügte er hinzu: »Nur Walter nennt mich Beinhart, weil er, im Gegensatz zu mir, nichts verträgt und schon bei dem Geruch von Bier besoffen unterm Tisch liegt.«

»Ich bin Agnus und komme aus dem Wildmoortal«, erwiderte Agnus und schüttelte die Hand des Wirts. Beinhart oder Hartmut war ein Bär von einem Mann. Agnus war zwar nicht kleiner als der andere, aber neben Hartmut kam er sich richtig schmächtig vor.

»So, genug der Förmlichkeiten fürs Erste. Bring uns mal ein paar Krüge Bier, dann können wir weiterreden.« Walter packte Agnus am Ärmel und steuerte mit ihm Richtung Theke, wo er sich gleich auf einen Hocker schwang. Rechts neben der Theke gab ein kleines Fenster den Blick in einen Innenhof frei. Auf der anderen Seite des kleinen Raumes befanden sich lediglich zwei Öffnungen in der Mauer, nicht größer als Schießscharten.

»Dies war früher einmal eine Waffenkammer und ist nun die beliebteste Kneipe in der Burg«, erklärte Walter. »Die einzige Kneipe in der Burg. Bei Einbruch der Dunkelheit werden die Tore verschlossen, und wer dann nicht drin ist, kommt bis zum nächsten Morgen auch nicht mehr herein, aber auch ebenso wenig hinaus.«

»Dafür kann tagsüber jeder bis vor das Schlafgemach des Königs schlendern, ohne ein einziges Mal nach seinem Anliegen befragt zu werden«, erwiderte Agnus.

»Das ist nur heute so«, versicherte Walter. »Normalerweise stehen an jedem der drei Haupttore die Wachen des Königs und leiten einen so lange von dem einen zum nächsten, bis man am Ende ganz vergessen hat, warum man eigentlich hier ist.«

»Die sind heute fast alle in den Wald geritten«, rief Hartmut von hinten. »Erst ist vor dem Morgengrauen die Jagdgesellschaft des Königs aufgebrochen und vor kurzem noch mal eine ganze Truppe.« Krachend stellte er das Bier auf die Theke.

»Die Truppe hab ich gesehen, als ich herkam«, sagte Agnus. »Nur frage ich mich, was jagen so viel Mann in einem Wald? Drachen?«

»Ich habe alles für ein ordentliches Wildbret vorbereitet«, brummte Hartmut. »Rezepte für Drachen kenne ich nicht.«

Walter lachte schallend.

»Eine Jagd und eine Abendgesellschaft, ich fürchte, vor morgen früh werde ich keine Audienz beim König bekommen«, überlegte Agnus laut.

»Morgen?« Walter lachte noch lauter. »Du bist ein wahrer Spaßvogel, Agnus. Der König empfängt selbst einflussreiche Grafen und Barone erst nach Tagen. Ich fürchte, du wirst dich auf eine laaaange Wartezeit einrichten müssen.«

Agnus sah ihn böse an. Schließlich zuckte er mit den Schultern.

»Dann werde ich den Prozess wohl etwas beschleunigen müssen«, sagte er vieldeutig. »Die Probleme im Wildmoortal müssen behoben werden – das sollte selbst dem König ein Anliegen sein.«

Beinhart und Walter warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

»Was gibt es denn für Probleme im Sumpf«, fragte Walter neugierig.

Agnus nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Das ist schnell erzählt. Wir haben Gnome im Tal.«

»Gnome!?«, rief Walter ungläubig. »Du meinst diese Gestalten aus den alten Geschichten. Helfer der Zauberer sollen sie gewesen sein?«

Agnus nickte. »Ich habe es erst auch nicht glauben wollen, aber eines Tages hat ein Bauer so ein Geschöpf auf frischer Tat ertappt und ihm kurzerhand mit der Axt den Schädel gespalten.« Er schnaufte. »Es war kein Tier und auch kein Mensch, im Maul hatte es Raubtierzähne, die Ohren sahen aus, als ob die Mäuse daran geknabbert hätten und die Haare erinnerten an ein struppiges Fell, mausgrau und verdreckt. Seine Arme waren so lang, dass sie bis unter die Knie reichten und es trug um die entsprechenden Körperregionen Felle. Ein grauenvoller Anblick.«

»Und davon willst du dem König erzählen!? Warum?«

»Was für eine Frage!? Du hast es doch gerade selbst gesagt. Gnome sind die Helfer der Zauberer. Wo ein Gnom, da ein Zauberer.«

»Vielleicht hat sich das Geschöpf in den Bergen verirrt und ist zufällig bei euch im Tal angekommen«, gab Hartmut zu bedenken. »In Mendeor soll es ja noch genügend Zauberer und Gnome geben.«

»Das stimmt, aber dieser Gnom war nicht der Einzige, der gesehen wurde und auch nicht der Einzige, der erschlagen wurde«, knurrte Agnus. »Das Tal ist voll davon.«

»Hast du dafür Beweise?«, wollte Walter wissen.

»Was für Beweise?«, fragte Agnus verständnislos.

»Was weiß ich? Einen Kopf zum Beispiel.«

»Beim heiligen Albarus«, knurrte Agnus angewidert. »Wir haben Sommer. Ich kann doch so einen stinkenden Schädel nicht drei Wochen übers Land tragen!«

»Aber ohne Beweise wird der König dich auslachen, Agnus«, behauptete Walter ungerührt. »Er wird glauben, dass ihr in den Sümpfen zu viel Selbstgebrautes trinkt.«

»Der König kommt aus Mendeor, dort weiß bestimmt jedes Kind, wie ein Gnom aussieht. Aber dass ihr mir nicht glaubt, hätte ich mir gleich denken können.«

»Agnus, keiner von uns zweifelt, dass es bei euch in den Sümpfen solche Gestalten gibt, aber …« Walter und Hartmut sahen sich bedeutungsvoll an.

»Was heißt, bei euch in den Sümpfen?«, polterte Agnus los. »Das ist kein Ungeziefer, das einfach so auftaucht. Wir haben Gnome, also gibt es irgendwo in der Gegend einen Zauberer. Und Zauberer dürfen nirgendwo in Ardelan geduldet werden.«

»Vielleicht sind es ja gar keine Gnome«, unkte Walter.

Agnus seufzte und schüttelte vor so viel Unwillen, dieser Tatsache Glauben zu schenken, den Kopf. Aber im Grunde hatte er es nicht anders erwartet. Er musste die ganze Geschichte erzählen.

»Vor etwa zwei Jahren«, erklärte er, »wurde in den Hügeln südlich vom Wildmoortal ein alter Festungsturm wiederaufgebaut, und ein Mann zog dort ein. Die Bauern, die ihre Felder unterhalb der Hügel bewirtschaften, erzählten bald, dass es in dem Turm nicht mit rechten Dingen zuging. Nächtelang brannte Licht im Inneren. Den Turm kann man von unten gut sehen, denn er steht auf dem Ebelsberg und das ist der höchste Berg in den Helmsholmhügeln. Bald verbreitete sich das Gerücht, dass der Fremde in dem Turm ein Zauberer ist. Ich gehörte zu denen, die dieses Gerücht zunächst nicht glaubten.« Agnus nahm einen Schluck Bier. »Bauern, aber vor allem ihre Frauen, sind jedem gegenüber misstrauisch, der sich anders verhält als sie. Bald darauf jedoch verschwanden nachts Hühner, Enten und Gänse aus den Ställen. Es wurden Fallen aufgestellt, um die Füchse und Marder, die wir als Ursache dafür hielten, zu fangen, aber ein beklemmender Beigeschmack blieb, denn die Ställe waren geschlossen und weder Füchse noch Marder können Türen öffnen.« Zufrieden stellte Agnus fest, dass Walter und Hartmut aufmerksam zuhörten. »Von nun an achteten alle darauf, die Ställe und Schuppen stets zu verrammeln, selbst die Fenster wurden mit Brettern vernagelt. Und doch fehlte morgens immer wieder Kleinvieh. Im Frühling verschwanden die Lämmer. Schafe und selbst Wachhunde wurden regelrecht niedergemetzelt. In den Schatten unter den Stelzenhäusern gibt es jetzt Nacht für Nacht seltsame Bewegungen und keiner traut sich nach Einbruch der Dunkelheit alleine und unbewaffnet aus dem Haus.« Agnus atmete tief durch. »Wir haben versucht, mit dem Mann im Turm zu sprechen. Er behauptet, Wissenschaftler zu sein und im Auftrag des Königs in diesem Turm seinen Erfindungen nachzugehen. Da die Helmsholmhügel ab dem Riedelberg nicht mehr zum Wildmoortal gehören, sondern ureigenster Besitz des Königs sind, können wir nichts machen. Der König muss den Mann wegschicken. Aber unabhängig davon, ob dieser Mann ein Zauberer ist oder nicht, ist der König seinen treuen Lehnsherren auch zu Treue verpflichtet und muss ihnen in einer Notsituation beistehen.« Agnus beendete seine Ausführungen und schaute finster in sein Bier. »Und wir sind in einer Notsituation!«, fügte er leise hinzu.

»Da hast du aber eine ganz schön schwierige Aufgabe«, bemerkte Walter mitfühlend und klopfte Agnus auf die Schulter. »Du musst dem König klarmachen, dass er einem Zauberer erlaubt hat, sich auf seinem Land niederzulassen. So einen Fehler wird der König nicht gerne zugeben wollen. Abgesehen davon hast du keinen Beweis, dass es ein Zauberer ist. Ich meine, ich kenne viele Geschichten über Zauberer, sie sind Meister darin, andere zu täuschen und sich herauszureden. Und was bleibt dem Mann auch anderes übrig als es zu tun. In Ardelan ist seit mehr als fünfhundert Jahren Zauberern der Zutritt verboten.« Walter schwieg bedeutungsvoll. »Als Ihre Vertreibung begann, sollen sie reihenweise an Eichen erhängt worden sein und im Prinzip droht jedem Zauberer heute, das gleiche Schicksal. Ich frage mich nur, was damals mit ihren Gnomen passiert ist? Darüber gibt es keine einzige Geschichte. Tatsache aber ist: Sowohl Zauberer als auch Gnome hat es seither hier nicht mehr gegeben.«

Hartmut nickte zustimmend. Agnus sah von dem einen zum anderen.

»Der König stammt aus Mendeor, er hat bestimmt genug von Zauberern gehört. Dort soll es ja noch genügend geben«, sagte er entschieden. »Und was bleibt mir anderes übrig, als mit meiner Geschichte zum König zu gehen?«

»Denk dir eine andere aus«, schlug Hartmut halbherzig vor.

Agnus spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Er hatte keine andere Geschichte zu erzählen, er wusste, was er gesehen hatte und wie es in seiner Heimat zuging. Er kannte die Verzweiflung seiner Leute, und er durfte auf keinen Fall unverrichteter Dinge wieder nach Hause reiten. Seine Bauern arbeiteten hart, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In der Gegend gab es keine großen Märkte, auf denen sie ihre Waren verkaufen konnten, und die Steuern, die der König in den letzten Jahren stetig erhoben hatte, lasteten schwer auf vielen Haushalten. Keiner konnte es sich leisten, eine gute Legehenne zu verlieren, geschweige denn ein Schaf oder womöglich eine Kuh.

Es herrschte allgemeine Angst in der Bevölkerung, und die sonst so geselligen Sumpfländer verschanzten sich abends in ihren Häusern. Agnus fürchtete, sie würden bald den Ebelsberg stürmen, diesen angeblichen Wissenschaftler Nestalor Wasoro aus seinem Turm ziehen und an der nächsten Eiche erhängen. Doch das galt es erst mal zu verhindern. Der König würde in diesem Fall Recht sprechen, und ein Meuchelmord könnte schwerwiegende Folgen haben.

»Ihr glaubt mir immer noch nicht«, sagte er nach einer Weile geknickt. Er wusste selbst nicht, warum es ihm so wichtig war, dass diese beiden Fremden ihm glaubten. Sie würden ihm nicht helfen können.

»Es ist nicht so, dass wir dir nicht glauben wollen«, begann Walter. »Aber Gnome!? Gnome kommen wirklich nur noch in Geschichten vor.«

»Ja! Und jetzt stell du dir mal vor, hier herrschen bald wieder Zustände wie zu den Zeiten vor König Peregrin dem Ersten. Hätten er und der heilige Archiepiskopos damals nicht alle Zauberer beseitigt, könnte heute immer noch niemand seine Kinder unbeaufsichtigt auf die Straße lassen, dafür wüsste jeder, wie Gnome aussehen. Aber zumindest würde ich nicht wie ein Trottel dastehen und versuchen zu erklären, was mir selbst noch unerklärlich ist«, knurrte Agnus. »Stell dir vor, diese alten Zeiten kämen wieder.«

»Friede Freund, Friede«, bemerkte Hartmut milde. »Ich glaube dir. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen, als solche, die wir verstehen.« Als hätte er schon zu viel gesagt, setzte er seinen Krug an den Mund und trank durstig. Mit dem Handrücken wischte er den Schaum aus seinem Bart und starrte eine Weile ins Nichts.

»Stell dir vor, diese alten Zeiten kämen wieder«, murmelte er schließlich. »Stell dir vor …«

»Jetzt hör aber auf«, mahnte Walter.

»Meine Großmutter sagte das auch immer«, behauptete Hartmut versonnen.

»Dass du aufhören sollst?«, scherzte Walter.

»Nein, du Hornochse, sie sagte: ›Stell dir vor, die alten Zeiten kämen wieder!‹«

»Wozu, damit hier überall Gnome umherspringen?«

Hartmut rang sich ein Lächeln ab. »Sie träumte wohl eher davon dem Schönen Volk zu begegnen. Den Elben. Einmal hat sie mir erzählt, ihr Onkel Theobald hätte eine Elbenstadt im Wald gekannt.«

Walter stöhnte theatralisch. »Jetzt fang bloß nicht wieder von diesem Uronkel Theobald an.« Er schubste Agnus in die Rippen und zwinkerte ihm zu. »Beinhart gibt gerne mit seinem gelehrten Uronkel an. Er behauptet, dieser Onkel wäre seinerzeit im Königshaus verkehrt. Damals noch in der alten Königsstadt Corona – wohlbemerkt! Wahrscheinlich aber eher so wie Beinhart mit einem geräucherten Schinken und einer Leberwurst in jeder Hand.« Er lachte über seinen eigenen Scherz. »Bin ich froh, dass der König eure Geschichten nicht kennt. Der würde euch sofort an meiner Stelle einstellen.«

»Nein, lass mal, wenn ich zu singen anfange, wird es bald gar keine Gesellschaften bei Hofe geben«, konterte Hartmut lachend.

»Du bist einfach hoffnungslos engstirnig, Walter«, bemerkte Agnus grinsend. »Du bist jung und hast außer diesen Mauern wahrscheinlich noch nichts von der Welt gesehen. In jeder Geschichte steckt ein Funken Wahrheit, aber das kannst du nicht wissen.«

Hartmut lachte nun schallend, und Walter versuchte, ein bedrücktes Gesicht zu machen. Er murmelte: »Das ist überhaupt nicht wahr. Ich hab schon viel von der Welt gesehen«, ehe er selbst zu lachen anfing.

»In ein paar Tagen reite ich zurück ins Wildmoortal. Komm doch mit und lerne die Gastfreundschaft der Sümpfe kennen«, sagte Agnus.

»Und auch den einen oder anderen Gnom!«, ergänzte Hartmut und lachte so laut, dass die ganze Theke vibrierte.

Hinter verborgenen Pfaden

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