Читать книгу Kind des Lichtes - Kerstin Wandtke - Страница 4
Begegnungen Er erhob sich, lauschend des fernen Geheuls und wandte sich dem Eingang der kleinen Höhle zu. Die fortschreitende Dämmerung ließ draußen alles wie im Zwielicht erscheinen. Er gehörte dem Volk der geflügelten Prinzen an, groß und kraftvoll. Er hatte langes, schwarzes Haar, eine sonnengebräunte, glatte Haut und dieses schöne Gesicht, das allen seines Volkes zuteil war.
ОглавлениеAuf diesem lag nun der goldene Schein des kleinen Feuers, das die Höhle sanft erhellte.
Trotz des harten Winters bestand seine Kleidung aus eher dünnem, schwarzem Leder und er hielt seine ledernden, braunen Flügel halbgeöffnet vom Körper ab. Er trug nur wenige Felle und Taschen mit sich, obwohl seine Reise schon lange Jahre andauerte und noch lange nicht beendet war.
Draußen, vor der Höhle, tobte über dem Tal ein fürchterlicher Schneesturm und Raven verspürte nicht die geringste Lust diese zu verlassen, auch wenn ein Rudel Wölfe vielleicht eine warme Mahlzeit versprach.
„Nein, meine Brüder, heute abend ohne mich,“ flüsterte er in den Wind, der in die warme Höhle wehte und ihm Schneeflocken ins Gesicht trieb. Im Umdrehen hörte er wieder ihr Heulen, voller Hunger, aber auch voller Furcht. Ihre Rufe hallten in seiner Seele noch lange nach und er fühlte sich ihnen in ihrer Einsamkeit sehr verbunden. Hatte er doch als junger Mann seine Heimat verlassen, von einer tiefen Sehnsucht getrieben und reiste seitdem durch die Welt, immer auf der Suche nach etwas, dass er nie gefunden hatte. Nun kehrte er Heim von einer jahredauernden Suche und verspürte einen Schmerz, der so tief, so fest in seinem Innern saß, das ihn manchmal Angst vor seiner Zukunft beschlich. Angst vor einer einsamen, vor einer stillen Zeit und ihm wurde klar, dass sie derselbe Hunger nach Liebe und Vertrauen trieb. Nun, dachte er, das Wild ist fort, schon vor dem Winter in tiefere Täler gezogen, also entweder ein schlaftunkender Bär oder ein sehr, sehr dummer Mensch. Ein Bär hatte von ein paar klapprigen Wölfen nichts zu befürchten und ein Mensch? Sei es drum. Raven, Sohn seines Volkes, verachtete die Menschen ebenso sehr wie diese ihn und er würde nie einem Feind helfen. Dennoch, etwas ließ ihn einhalten. Es war ein sonderbares Gefühl, ein starker Drang, der Sache auf den Grund gehen zu müssen. Er trat in die schneedurchtoste Dunkelheit auf das Plateau vor der Höhle, und schwang sich, Kontrolle über seine Flügel suchend, in den Wind empor.
Der Schneesturm war dicht und die Sicht sehr schlecht. Der Wind heulte so sehr, dass er das andere Heulen darüber kaum vernehmen konnte. Nachdem er seinen Flug stabilisiert hatte, war es nicht mehr schwer das halbverhungerte Rudel auf einer großen Lichtung im Tal zu finden. Die Wölfe umschlossen in engeerwerdenden Kreisen einen kleinen Fellberg. Also, doch ein Bär, dachte Raven. Ein Jungtier, dem in seinem Bau wohl zu kalt geworden ist. Armer kleiner Kerl, dachte er mit Bedauern, aber ich werde dir nicht helfen können, das ist etwas, womit du allein mit fertig werden musst. Er beschloss zur warmen Höhle zurück zu kehren, doch etwas hielt ihn hier fest, zog ihn wie magisch zum Bündel, das bewegungslos auf dem Schnee lag.
Stimmt, bemerkte er, wie konnte ich das übersehen.
Er schallt sich einen Narren. Ein Bär, egal ob klein oder groß, würde toben, angesichts des hungrigen Rudels und auch ein Mensch würde versuchen sich zu wehren. Und noch etwas war Merkwürdig, denn, obwohl das Fellbündel völlig bewegungslos dalag, hatten die Wölfe große Angst davor und wohl nur ihr rasender Hunger ließ sie langsam näher rücken. Jetzt war seine Neugier geweckt und er beschloss, das Fellbündel samt Inhalt mit zur Höhle zu nehmen. Sollte der Inhalt sich doch als feindlich erweisen, konnte er es immer noch dem hungrigen Rudel überlassen oder gar mit denen teilen. Im Sturzflug, trotz schlechter Sicht, ergriff er das Bündel recht zielsicher und stellte überrascht fest, wie ungewöhnlich leicht es war. Die Wölfe, vorher schon verängstigt, suchten jetzt ihr Heil in der Flucht und rannten jaulend zurück in die dunklen, verschneiten Wälder.
Raven war verwirrt.
Nach dem er zur Höhle zurückgekehrt war, legte er das kleine, leichte Bündel nahe ans wärmende Feuer und nahm gegenüber Platz. Er war sehr neugierig auf das, was die Wölfe so eingeschüchtert hatte, doch es dauerte noch lange, bis die Felle sich zu rühren begannen. Er lehnte sich erwartungsvoll nach vorn, als eine kleine, weiße Hand langsam und tastend zum Vorschein kam.
Ein Kind! Dachte er mehr als überrascht.
Bei den alten Göttern, was suchte ein Kind mitten im Winter allein in den Bergen und warum hatten die Wölfe solche Scheu davor? Dann wich er verblüfft zurück, als der kleine Kopf zum Vorschein kam. Ihr kleines, elfenhaftes Gesicht wurde nur von ihrem langen, weißen Haar eingerahmt und er sah in die ungewöhnlichsten Augen, die er je erblicken sollte. Ihr blaugrüner Blick war verwirrt und unsicher und sie wich scheu, das Bärenfell mit sich zerrend, zur Höhlenwand zurück.
Er bemerkte, dass sie außer dem alten Bärenfell keine Kleidung oder Taschen trug.
„Auf was, bei den alten Göttern, bin ich hier gestoßen?“ Sprach er leise mehr zu sich, spürte er doch ihre Unsicherheit und wollte ihr etwas Zeit lassen. Von den Frauen der Völker wusste er, das diese irgendwann zu Reden begannen, egal wie tief der anfängliche Schock auch immer saß, und das konnte ihm manchmal recht lästig werden. Doch, obwohl er lange Zeit wartete, schien sie irgendwie anders zu sein. Er sah in ihre großen, leuchtenden Augen und beherrschte seine Aufregung nur schlecht.
„Sag, was treibst du hier allein in den Bergen,“ er sah sie neugierig an, „wo sind deine Leute, woher kommst du?“ Sie blickte langsam zum Höhleneingang, gab ihm aber keine Antwort. Ihr Blick war traurig und sehnsüchtig auf die Ferne gerichtet, so als warte sie auf etwas, auf jemanden, den sie sehr vermisste.
„Gut, du redest nicht mit jedem,“ meinte er resigniert, „das kann ich verstehen, ich mache das auch nicht, aber verrate mir doch wenigstens deinen Namen.“
Sie sah in verunsichert aber nicht unfreundlich und mit leicht schrägehaltendem Kopf an, blieb aber auch weiterhin stumm. Er betrachtete sie. Sah in ihr schönes, kleines Gesicht, bekämpfte dabei seine wilde Neugier und zuckte dann schließlich nur mit seinen Schultern.
„Nun denn, belassen wir es vorerst dabei, vielleicht reden wir später.“
Die Abenddämmerung wich langsam der Nacht und es wurde kälter in der kleinen Höhle, so das beide dichter ans Feuer rückten um sich zu wärmen. Raven besaß als Proviant Dörrfleisch und einige der kleinen, harten Äpfel, die im Norden wild wuchsen. Beim gemeinsamen Mahl betrachtete er sie etwas eingehender. Sie war ungewöhnlich, etwas wie sie war ihm noch nie zu Gesicht gekommen und er war schon weit gereist und hatte viel gesehen. Irgendwie war sie halb Mensch, halb Elf. Dennoch hatte sie auch etwas Fremdes an sich, ihre sonderbar leuchtenden Augen, wie aus einer anderen Welt. Sie steckte für ihn voller Rätsel, denn zwischen Menschen und Elfen gab es seines Wissens nach keine Verbindungen, die ein Wesen wie sie wachsen ließen. Zudem lebte das Elfenvolk viel weiter südlich, an den warmen Küsten des großen Meeres. Dennoch ähnelte sie einer Elfe auf verblüffender Weise und er war von ihrem zarten Anblick seltsam berührt. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, das er auf etwas Neues, etwas Ungewöhnliches gestoßen war und das kleine, helle Mädchen begann ihn zu faszinieren. Vielleicht hatte mit ihr seine unruhige, quälende Suche nun endlich ein Ende gefunden. Die ganze restliche Nacht, während sie unruhig schlief, beobachtete er sie. Es bedrängten ihn viele offene Fragen, wo zum Beispiel ihre Wurzeln lagen und was sie mitten im Winter allein und halbnackt durch die Berge trieb und er beschloss, dies herausfinden zu wollen. Gegen Morgen dachte er, sie vorerst mitzunehmen, wenn sie es denn wollte. Nur so würde er, wie er sich erhoffte, Antworten auf seine Fragen erhalten. Sie machte auf ihn einen hilflosen, einen zurückgelassenen Eindruck, doch sie schien freundlich und entgegenkommend zu sein und, bei den alten Göttern, sie war wunderschön.
Am anderen Morgen betrachtete er sie, nochmals überlegend, und fragte sie schließlich ob sie ihn begleiten wolle. Raven wunderte sich ein wenig über seine erfreute Reaktion als sie, nach langer Überlegung ihrerseits, ihn anblickte und schließlich nur kurz nickte. Nachdem sie den Rest des Fleisches gegessen hatten, reichte er ihr seine Wechselkleidung und verließ dann die kleine Höhle, damit sie sich anziehen konnte.
Er stand draußen auf dem kleinen Plateau vor der Höhle, und sog die frische, kalte Luft tief in seine Lungen. Der Morgen war wieder klar, der Sturm des Abends vorbei und die ersten Sonnenstrahlen glänzten hell auf dem neuen Schnee, der das ganze Tal unter ihm bedeckte. Er fühlte sich stark und lebendig und freute sich seid langem wieder auf den weiten Flug nach Süden. Kurze Zeit nach ihm trat sie aus der Höhle und als Raven sich umwandte, musste er laut Auflachen, ihres Anblicks wegen. Sie erschrak, wich zurück und sah ihn sehr misstrauisch an.
„Nein, nein, du musst keine Angst haben,“ er hob beschwichtigend seine Hände und unterdrückte einen erneuten Anfall, „aber, wenn du dich sehen könntest.......,“ wieder musste er Lachen und sie sah mit Unverständnis im Blick zu ihm auf. Sie war so klein und verschwand dabei völlig in seiner Kleidung. Die Hose, die Weste, der Fellüberwurf, alles schlotterte an ihr, war ihr viel zu groß.
„Warte,“ meinte er, immer noch lachend, „ich werde dir helfen.“
Er betrat erneut die Höhle und kramte in seinen Taschen nach Lederbändern und seinem Messer, um ihr, wieder draußen, seine Kleidung zu kürzen und ihr mit den Bändern etwas mehr halt zu geben. Die Reste des Fellüberwurfs band er um ihre kleinen, weißen Füße und als er sich wieder erhob, er war mit dem Ergebnis seiner Arbeit sehr zufrieden, lächelte sie ihn zum ersten Mal freundlich an.
„So, fertig,“ Raven sah erstaunt zu ihr herab, sie schien zu Leuchten, wenn sie so lächelte, „bist du bereit, kann es losgehen?“ Sie sah zu ihm auf, nickte und begann dann schnell und geschickt ihr langes Haar zu einem dicken Zopf zu drehen, der ihr anschließend, mit den Resten der Bänder zusammengehalten, bis zur schmalen Hüfte fiel. Anschließend packten beide ihre Habseeligkeiten zusammen, löschten das Feuer und traten zum letzten Mal auf das Plateau. Er würde mit ihr fliegen müssen, wie Leute seines Volkes mit ihren Kindern flogen, und er überlegte kurz, ob sie dies wohl zulassen würde.
„Warte,“ Raven löste seinen dicken, schweren Gürtel von seiner Taille, „du wirst dich in der Luft sonst nicht lange halten können. Dafür ist es zu kalt, und ich muss meine Hände freibehalten. Möchtest du nach oben sehen oder die Landschaft betrachten?“
Er sah sie hoffend und abwartend an. Sie überlegte nur kurz und trat dann so auf ihn zu, das sie sich gegenüberstanden.
„Gut,“ meinte er, ging freudig in die Knie und band sie mit dem Gürtel fest an sich. Ihre Nähe, ihr Geruch, sie machte ihn nervös und er versuchte, sich auf den bevorstehenden Flug zu konzentrieren. Als er sich wiederaufrichtete, hing sie, wie seine Taschen auch, fest an ihm verschnürt und er ging zum Rand des Plateaus.
„Halte dich fest und habe Vertrauen,“ flüsterte er ihr zu, jetzt ihre Angst fühlend, breitete danach seine großen, ledernen Schwingen aus und stürzte sich dann mit ihr in die Tiefe. Er fing sich mühelos ab, sie wog fast nichts, und rauschte mit ihr erst segelnd über die Wipfel der schneebedeckten Bäume, um danach mit mächtigen Flügelschlägen langsam an Höhe zu gewinnen. Sie klammerte sich ängstlich zitternd an ihn, und er fürchtete dadurch schon um seine Fassung.
„Sieh mich an, kleine Fee.“ Langsam hob sie den Kopf und öffnete die Augen.
„Es wird dir nichts passieren, das verspreche ich dir, aber bitte, klammere dich nicht so fest.“ Daraufhin entspannte sie sich ein wenig und auch Raven ging es nun etwas besser, obwohl ihr Zauber ihn immer weiter gefangen nahm. Um sich etwas von ihr abzulenken, hielt er den Blick stur nach unten, um nach Leuten, Häusern oder Vieh Ausschau zu halten, denn irgendwo her musste sie schließlich kommen. Doch nichts dergleichen bekam er zu sehen, und gegen Mittag gab es er auf.
Die schneebedeckte Landschaft unter ihnen war Atemberaubend, doch nichts deutete auf Menschen oder anderes Leben hin, außer einigen mageren Rehen, von denen er eines im Flug packte und schnell in der Luft tötete. Sie flogen den ganzen Tag hindurch, und er begann am Nachmittag wieder nach einem Lagerplatz für die Nacht zu suchen und fand später eine kleine Lichtung im Wald. Keine Höhle, aber besser als nichts. Raven landete sehr vorsichtig da sie jetzt schon seid geraumer Zeit fest schlief. Er legte sie sanft zu Boden und bereitete so schnell er konnte das Lager, um sie dann in die wärmenden Felle zu betten. Sie schlief unter seinem wachen Blick bis zum Abend und als sie dann erwachte, brannte ein Feuer und darüber hing das magere Reh. Er saß am Feuer und schnitzte, als sie sich schlaftrunken die Augen rieb. Erfreut blickte er sie an.
„Du hast lange geschlafen, kleine Fee, bist du hungrig?“ Sie gähnte, streckte sich ausgiebig und nickte ihm danach immer noch etwas müde zu.
„Das ist gut, denn dieser prächtige Braten wäre für einen allein sowieso viel zuviel,“ meinte er grinsend und sie lächelte verschlafen zurück. Er erhob sich, ging zum Feuer und gab ihr danach ein großes Stück vom Reh. Sie aßen schweigend, und er fühlte sich seid sehr langer Zeit wieder wohl. Normalerweise banden sich die Männer seines Volkes nicht an eine Frau. Aber ja, sie hatten Frauen, und wo immer sich die Gelegenheit bot, teilten sie mit ihnen die Wonnen, was bei Menschenweibern oft deren Tot zur Folge hatte. Sein Volk war in vielerlei Beziehung mächtig und einige waren dieser Macht eben nicht Gewachsen, was bedauerlich war, sich aber nicht ändern ließ. Doch sie übte eine besondere Faszination auf ihn aus, und er war neugierig, ob es nur ihm so ging oder auch andere Männer seines Volkes betreffen konnte.
Sie war so klein, so jung und wunderschön. Er unterdrückte nur mit Mühe den Drang sie zu berühren und schwor sich, so lange zu warten, bis sie auf ihn zukommen würde. Doch es würde hart werden, das wusste er. Nach dem gemeinsamen Mahl reinigte sie ihre Hände mit Schnee und begann danach ihren, jetzt unordentlichen Zopf zu lösen und einige Kletten im langen Haar zu entwirren. Er erhob sich, ging ums Feuer und reichte ihr seine Schnitzerei.
„Hier, kleine Fee, bis du einen neuen hast wird dieser es auch tun.“ Damit reichte er ihr einen kleinen Holzkamm, an dem er schon den ganzen Nachmittag lang gearbeitet hatte. Erstaunt sah sie zu ihm auf, nahm ihm den Kamm dann auch aus der Hand, aber betrachtete ihn danach nur fragend. Schließlich legte sie ihn in ihren Schoß und bearbeitete ihr langes Haar weiter mit den Händen. Raven sah sie völlig verblüfft an und so langsam dämmerte ihm, in was er da hineingeraten war. Sie kannte keinen Kamm? Jede Frau, absolut jede, egal ob stolze Königin oder arme Bäuerin, ob Elfenprinzessin oder Zwergin nannte einen Kamm ihren Besitz. Wenn sie die Funktion eines solchen nicht kannte, hatte sie nie unter Menschen oder anderen Völkern gelebt. Er beugte sich herunter, nahm ihr den Kamm aus dem Schoß, setzte sich hinter sie und begann vorsichtig ihr langes, schönes Haar zu kämmen. Zuerst zappelte sie dabei ein wenig herum, doch als er mit ihr sprach, beruhigte sie sich und saß dann still.
„Du hast schönes Haar, kleine Fee, und um es zu pflegen habe ich dir diesen Kamm gemacht. Du kennst keine Kämme, das heißt, du kennst auch die anderen Dinge der Völker nicht. Keine Häuser, keine Städte, keine Länder. Gut, die dreckigen Orte der Menschen muss man auch nicht kennen. Aber es gibt auch sehr schöne Dinge, unsere Schlösser zum Beispiel sind so schön wie du. Oder Schmuck, oder schöne Kleider, oh es gibt so viel, was ich dir zeigen könnte. Aber ich habe die Vermutung, dass du ein Wolfskind bist, du mich darum nicht richtig verstehen kannst..........“
Wütend warf sie sich plötzlich herum und überraschte Raven mit ihrem Angriff total. Sie sprang ihn an und durch die Wucht wurden beide nach hinten geworfen. Sie landete auf ihm und bearbeitete fast augenblicklich seinen Oberkörper mit ihren kleinen Fäusten. Raven, noch immer vom plötzlichen Angriff verwirrt, brauchte etwas Zeit um ihre Arme zufassen zu kriegen, doch dann hielt er mit eiserner Kraft fest.
„Gut, es ist gut,“ rief er sie an, „hörst du mich, es tut mir leid.“
Ihr Wutanfall ließ langsam nach und er lockerte augenblicklich seinen festen Griff.
„Beruhige dich, bitte, es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen, glaub mir, ich wollte dir nicht weh tun.“ Er sah in ihre, vor Tränen schimmernden Augen, ließ einen ihrer Arme los und streichelte ihr dann nur kurz, aber zärtlich über die erhitze Wange.
„Du verstehst alles, was ich sage, richtig?“ Sie nickte und ihre Tränen liefen jetzt.
„Was bin ich für ein Narr, bei den Göttern, was für ein Narr. Ich habe noch niemals im Leben ein Wesen wie dich getroffen und ich weiß absolut nichts von dir......... es tut mir leid....... Bitte, kleine Fee, verzeihst du mir?“ Sie ließ sich Zeit, doch dann nickte wieder und ihn durchströmte ein so starkes Gefühl für sie, das er sie in seine Arme zog, sich mit ihr zurücksinken ließ und sie einfach nur festhielt. Er bemerkte mit Verwunderung, das er dabei war sich zu verändern. Was berührte dieses kleine Ding in ihm, zumal nach so kurzer Zeit, dass er sich für etwas Gesagtes Entschuldigte. Er, Raven, einer der Könige der Lüfte und Herrscher seines großen, fernen Reiches wurde beherrscht von diesem kleinen Mädchen. Und doch, merkte er, es gefiel ihm.
Diese Gefühle, die er jetzt empfand, waren ihm zwar fremd, aber er genoss sie dennoch. Noch nie hatte er so für ein Wesen gefühlt. Noch niemals etwas wie sie erblickt. Er streichelte über ihr jetzt gekämmtes Haar und fühlte seine Weichheit, spürte ihr Gewicht, ihre Wärme auf seinem Körper und die dadurch beginnende Hitze in seinen Lenden. Doch er wollte diesen Moment nicht von seinen Treiben stören lassen und unterdrückte diese rasch.
„Wer bist du, kleine Fee,“ flüsterte er sanft, „wer bist du bloß.“
Sie erwachte wieder lautlos schreiend aus dem immer wiederkehrenden Traum. Sich umschauend erhob sie sich und sah den großen, geflügelten Mann dicht bei ihr am Feuer schlafen und langsam kehrte die Erinnerung zurück. Stimmt, dachte sie, ich habe ihn begleitet, als er mich gefragt hatte. Doch er war so sonderbar. Mutter hatte ihr zwar viel von den Anderen erzählt, wie sie lebten, was sie taten, aber auf dies hatte sie Alina nicht vorbereitet. Mutter, wo war sie bloß, ging es ihr gut?
Alina erinnerte sich an den Traum, der sie bis jetzt in jeder Nacht verfolgt hatte. Mutter, die plötzlich fortging und sie zurückließ, an den vielen Schnee, wie sie nach ihr rief, sie suchte, Stunde um Stunde, Tag um Tag. An die freundlichen Wölfe, und wie sie dann überraschend empor und in die Luft gerissen wurde. Sie dachte an den vergangenen Abend, an die Worte, die er gesprochen hatte. Dass alles verwirrte sie so sehr, und vieles von dem, was er redete, verstand sie auch nicht richtig. Doch Mutter hatte ihr einmal erzählt, was es bedeutete, wenn sie jemand ein `Wolfskind´ nannte, nur, weil sie nicht sprechen konnte. Für viele Völker waren Wesen ohne Worte entweder tumb oder vom Teufel besessen, wer immer das auch sein mag. Deshalb tat es ihr sehr weh, als er sie so nannte. Mutter sagte immer, man müsse sich vor den Anderen in Acht nehmen, doch sie fühlte sich so einsam, so allein, nachdem Mutter fort war. Deshalb war sie doch nur mit ihm gegangen und hatte ihre Wälder verlassen. Die Wälder, die ihr Heim waren. Die Wälder, in denen sie aufgewachsen war. Mutter würde sehr böse mit ihr sein. Doch er war so gut zu ihr gewesen und als sie in seinen Armen gelegen hatte war da plötzlich etwas Neues, etwas Aufregendes tief in ihr. Sie mochte diesen großen, hübschen Riesen wirklich, beschloss aber vorerst, etwas vorsichtiger zu sein und nicht zuviel von sich preiszugeben. Sie setzte sich aufrecht hin und begann, wie schon einige Male zuvor, mit geschlossenen Augen und offenem Geist nach ihrer Mutter zu rufen.
Sie irrte wieder durch die schneedurchtoste Dunkelheit. Sie weinte und rief in den heulenden Wind nach ihrer Mutter. Fühlte nur Einsamkeit in sich und den harschen Schnee im Gesicht.
„Mutter, bitte, Mutter, wo bist du, lass mich doch hier nicht alleine, bitte.“ Sie lief Barfuss durch den zwielichtigen Wald, fror und fühlte dabei heiße Tränen über ihre Wangen laufen.
„Alina.“ Der Ruf wurde vom heulenden Wind wie von weit hergetragen, und erstarb fast durch diesen. Doch sie hörte ihn mehr in sich, als mit den Ohren.
„Mutter, ich höre dich. Warte, ich komme zu dir,“ rief sie in den heulenden Wind und stapfte entschlossen durch den tiefen Schnee in Richtung der fernen Stimme.
„Alina,“ erklang es wieder aus weiter Ferne zu ihr, „bleib bei ihm. Es ist sehr wichtig, das du mit ihm gehst. Er ist deine, er ist unser aller Zukunft. Folge ihm. Folge ihm in seine Welt.“ Die Stimme ihrer Mutter verhalte langsam in der Ferne und ließ sie einsam und frierend inmitten des Schneesturms zurück.
Sie erwachte langsam aus ihrer Trance und fand sich im Lager neben dem schlafenden Mann wieder. Mutter war nicht böse, das sie ihn begleitet hatte. Mutter hatte ihr sogar zugerufen, dass sie bei diesem Mann bleiben solle. Er, der ihrer aller Zukunft darstellen sollte. Aber was hatte das alles zu bedeuten. Sie überlegte dies gründlich, fand aber vorerst keine Antwort auf ihre Fragen. Nun, sie vertraute ihrer Mutter von ganzem Herzen und würde sich ihrem Wunsch gemäß fügen. Dennoch fühlte sie sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, Mutter und ihre Heimat jetzt verlassen zu müssen. Diese verwunschenen Wälder des Nordens, in denen sie geboren war, stellten ihr Reich da. Hier lebte sie bisher, kannte die Pflanzen und Tiere und fühlte sich auch ohne Mutter geborgen. Und nun sollte sie ihre Welt vielleicht für immer verlassen?
Sie fühlte sich sehr einsam, klein und traurig am nächsten Morgen, und obwohl der große Mann später viel unternahm um sie aufzuheitern, gelang es ihm nicht. Als sie schließlich ihre Reise fortsetzten stellte sie sich dieses mal mit dem Rücken zu ihm. Sie nahm mit dem Blick auf ihre verschneiten Wälder, still Abschied von ihnen und ihrer Mutter, die irgendwo dort unten war. Gegen Mittag, ihre Tränen waren langsam versiegt, begann sie doch noch gefallen am Fliegen zu finden. Es berauschte sie, dass alles unter ihr nur so vorbeirauschte. Er musste wohl eine Veränderung bei ihr bemerkt haben, denn er verlangsamte sein Tempo, und segelte dann ruhig mit ihr über die dicht bewaldeten, verschneiten Berge und Täler dahin. Von Gefühlen überwältigt, streckte sie ihre kleinen Arme aus und stellte sich vor, sie sei ein kleiner Vogel der frei und ohne Sorgen durch die Lüfte glitt. Er ergriff behutsam ihre kleinen Hände.
„Ja, kleine Fee, fliege mit mir,“ flüsterte er leise, und so glitten sie durch die Kälte dahin, jeder in seinen eigenen starken Gefühlen gefangen. Die Sonne glitzerte auf dem dicken Schnee, und mehr als ein Ast brach unter ihnen unter dessen Gewicht. Die sanften Wolken zogen über ihnen hinweg Richtung Süden, und sie würden ihnen folgen.