Читать книгу Kind des Lichtes - Kerstin Wandtke - Страница 8

Avalla

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Sie flogen über einen langen, hohen Felsgrad und der sonderbare Geruch, den Alina schon seit geraumer Zeit in der Nase hatte, wurde immer stärker. Salzig und würzig lag er schwer in der sanft vom Wind bewegten Luft. Dann plötzlich fiel der Felsgrad steil in die Tiefe ab und unter ihnen erstreckte sich die dunkle, in der Abendsonne glitzernde See, die kraftvoll gegen die schroffe Küste brandete. Hoch türmten sich die Felsen über den dünnen streifen Strand, der vor ihm lag und der mächtig von der Brandung überspült wurde. Noch ganz verzaubert vom Anblick der sich ihr hier bot, hörte sie Ravens Stimme kaum.

„Sieh nach oben, kleine Fee, dort liegt Avalla.“ Sie tat wie geheißen und hielt unwillkürlich die Luft an. Avalla trohnte hoch auf der Spitze einer schmalen Landzunge, die ständig vom Meer umtost wurde. Es war ein Schloss wie kein anderes. Es hatte viele schmale, hohe Türme an denen bunte Fahnen fröhlich im Wind flatterten. Der Schlosshof wurde von vielen Gebäuden eingerahmt, die sich wie schutzsuchend an die dicken, das ganze Schloss umgebenden Mauern schmiegten. Das Haupthaus stand zentral hinter dem Hof, und dahinter konnte Alina kleine Gärten ausmachen, die aber, wie auch der Rest des Gemäuers, von hohen Mauern umgeben waren. Alle Gebäude waren mit breiten, ebenfalls bunten Stoffen geschmückt und die Dächer glänzten matt und rot in der untergehenden Sonne. Das ganze Schloss leuchtete in dieser wie in ein strahlendes Gold getaucht. So etwas Schönes hatte Alina noch niemals gesehen. Dann erklang noch ein tiefer, hohlklingender Ton, dem sich noch viele weitere anschlossen und Alina versank förmlich im gesehenem.

„Das sind Rinderhörner, in die sie blasen und so diese Töne erzeugen,“ erklärte Raven ihr, „sie begrüßen uns. Es ist wunderschön, nicht war?“ Sie nickte, völlig ergriffen. Raven sah schon aus weiter Entfernung die vielen Geflügelten, die den Schlosshof jetzt belebten, Männer, Frauen und viele Kinder erwarteten voller Ungeduld und Freude die Heimkehrer. Alina bekam wieder etwas Angst, es waren so viele und sie waren dabei auch noch so laut. Sie kannte das alles nicht und klammerte sich verzweifelt an Raven. Langsam glitt die Gruppe näher und Raven hielt Alina fest in seinen Armen. Sie landeten in mitten dieser und wurden sofort von einem lärmenden Pulk umschlossen. Alina hielt sich mit beiden Händen krampfhaft ihre Ohren zu und versuchte verzweifelt sich unter Ravens Arm zu verstecken. Dieser hielt sie fest und beruhigend an sich gedrückt. Ihm war nach seiner langen Einsamkeit auch nicht ganz wohl in dieser Menge. Doch dann erhob sich wieder des Dragons kräftige Stimme und die Menge verstummte langsam.

„Bitte, habt doch noch etwas Geduld.“ Seine Stimme erklang tief und volltönend.

„Wir sind wieder hier und haben auch liebe Gäste mitgebracht. Mein Neffe Raven wird einigen von euch sicher noch bekannt sein, doch seiner kleinen Gefährtin sind solche Versammlungen fremd und deshalb möchte ich euch bitten, jetzt die Vorbereitungen für unser gemeinsames Mahl zu treffen. Ich bin mir sicher, das Raven uns danach von seinen Reisen berichten wird.“ Die Menge wurde ruhig, aber zerstreute sich nur langsam. Neugierige Blicke wurden zu ihm und Alina geworfen, doch der Dragon blickte sich nur böse um und wandte sich danach wieder ihnen zu.

„Kommt, Freunde, begleitet mich in mein Haus, das nun auch euer ist.“ Sagte dieser nun ruhig und mit einer einladenden Geste zum Haupthaus und sie folgten den Dragon ins innere, begleitet vom hasserfüllten Blick Karaks, der etwas abseitsstand.

„Ich, Bruder, würde nicht einmal daran denken,“ meinte Ramahl im vorbeigehen zu diesem, „sie ist deinen Tot nicht wert, oder?“ Doch dieser schnaubte nur verächtlich und ging rasch fort.

Jamihl, ein fröhlicher, rotgelockter Bursche führte beide in ein großes, prunkvolles Zimmer.

„So, da sind wir,“ er lachte und deutete auf eine Tür am Ende des großen Raumes, „dahinter ist euer Schlafgemach. Vater meinte, es wäre besser ihr teilt euch die beiden Zimmer. Ihr könnt euch jetzt noch etwas ausruhen bis ihr zum Essen angekleidet werdet.“ Raven fasste sich aufstöhnend an den Kopf, wie konnte er diesen überflüssigen Brauch nur vergessen haben. Alina sah neugierig zu ihm auf. Raven blickte Jamihl grinsend an, und dieser lachte jetzt frech zurück.

„Besteht dein Vater immer noch auf diese alte Sitte?“ Fragte er, übertrieben Verzweifelt, aber immer noch grinsend den Knaben.

„Ja sicher, aber die Familie bleibt zum Glück jetzt davon verschont. Es betrifft nur noch die lieben Besucher.“ Lachend ließ der Junge sie allein, und Alina sah ihm fragend nach. Raven verspürte keine große Lust sich von einer Horde kichernder, alberner Mädchen waschen und danach ankleiden zu lassen. Außerdem, was wäre in dieser Zeit mit seiner kleinen Fee. Im Zimmer konnte sie nicht bleiben, sie hatte ihn noch nie ohne seine derbe Kleidung gesehen. Er konnte sich schönere Anlässe vorstellen, sich ihr zu offenbaren als von dummen, sich zuzwinkernden Mädchen umringt.

Doch, als der Augenblick gekommen war, musste er zugeben, das der Dragon an alles gedacht hatte. Es klopfte leise an ihrer Tür und als Raven sie hereinrief, betrat eine Gruppe älterer Frauen still ihre Gemächer. Sie wurden von seiner Tante Sonja angeführt, deren Blick, als sie den Raum betrat, sofort auf Alina fiel. Sie ging jedoch zuerst zu Raven und umarmte diesen herzlich.

„Raven, wie schön, dass du seid so langer Zeit mal wieder den Weg zu uns gefunden hast, sei Willkommen auf Avalla.“ Glücklich betrachtete sie ihn. „Du bist sehr stattlich geworden, junger Mann, aber nicht zu stattlich um deiner alten Tante nicht noch einen Kuss zu geben,“ lachte sie und ließ sich von Raven zart auf die Wange küssen.

„Sonja, ich freue mich auch, mal wieder einige Zeit hier verbringen zu dürfen,“ erwiderte er erfreut und führte sie danach zu Alina.

„Mein Gemahl erwähnte ihre Schönheit, aber das hätte ich nicht erwartet.“ Sonja blickte entzückt auf Alina herunter. Auch Sonja war groß und ihre Haltung entsprach der einer Schlossherrin. Ihre Haltung war stolz und erhaben, ihr Gesicht trotz ihres Alters noch schön, und ihre Züge klar. Nur ihre wilde, rote Mähne und die verschmitzt funkelnden, blauen Augen standen da im Wiederspruch zu ihrer Haltung. Diese ließen einen starken Willen, und ein ebensolches Temperament erwarten.

„Lieber Neffe, bitte verzeih mir, dass ich bei eurer Ankunft im Hof nicht zugegen war, aber meine jüngste, Sassa, liegt im Fieber und wir erwarteten ja keinen so lieben Besuch.“ Sie ergriff wieder kurz seine Hände um sie zu drücken. Dann sah sie wieder zu Alina.

„Na, Schatz, möchtest du heut Abend nicht besonders schön für den da sein?“ Sie zwinkerte Raven vergnügt zu, und während die anderen Frauen mit ihrer Arbeit begannen, einen Bettler in einen Fürsten zu verwandeln, führte die große, rothaarige Sonja Alina ruhig aus dem Raum. Diese blickte sich mehrmals ängstlich zu Raven um, und verstand nicht, was hier mit ihr geschehen sollte.

„Hab keine Angst, mein Kind, wir werden dich so schönmachen, das dir nachher alle Männer in der Halle zu Füßen liegen werden.“ Alina dachte kurz und mit einem schaudern an Karaks Worte, doch als Sonja sie entkleidete, sie ordentlich wusch, ihr das Unterkleid überstreifte und ihr anschließend das lange Haar aufsteckte, begann es ihr langsam doch zu gefallen.

„Mein Gemahl tat gut daran, mich zu bitten eines der Kinderkleider zu nehmen.“ Sie zog Alina schließlich das kleine, helle Kleid über den Kopf, verschnürte es danach sorgfältig an deren Rücken und drehte sie dann langsam zu sich herum.

„Du bist wunderschön,“ sagte die Ältere ergriffen, „wie eine kleine Elfenprinzessin. Möchtest du dich jetzt betrachten?“ Alina nickte schüchtern und Sonja führte sie zum hohen Spiegel des Ankleidezimmers. Verblüfft sah Alina in ihn hinein. Das Bild von ihr war so klar und deutlich, ganz anders als die Bilder von ihr im See, die sie sonst nur kannte. Ihr Haar war jetzt kunstvoll Aufgesteckt und nur eine dicke Strähne fiel ihr in sanftem Schwung auf den Rücken herab. Auf ihrer Stirn lag ein kleiner, blauglänzender Stein, der über eine dünne Kette mit ihrer Frisur verbunden war. Um den Hals und an jedem Handgelenk trug sie jeweils noch einen. Doch am meisten beeindruckte sie das Kleid, das sie nun trug. Es hatte die gleiche Farbe wie ihre Augen, irgendwie zwischen blau und grün, doch seine Farbe war blasser. Seine weißen Säume waren breit und aus kunstvoll gearbeiteter Spitze. Es war zudem überall mit diesen glitzernden Steinen besetzt, doch diese waren sehr viel kleiner als der auf ihrer Stirn. Alina betrachtete sich hingebungsvoll, und nur ganz leicht berührte sie ihr Spiegelbild, als würde es sich unter ihrer Berührung wie flüchtig auflösen. Sie konnte es kaum fassen, was die große Sonja aus ihr gemacht hatte.

„Oh,“ meinte diese noch, „ich habe noch etwas vergessen.“ Sie verschwand kurz im Nebenzimmer, tauchte aber bald wieder auf und hielt noch etwas in den Händen.

„Das sind Schuhe, sieh, man zieht sie über die Füße, Augenblick, ich helfe dir,“ sie zog Alina die kunstvoll gearbeiteten Schuhe an, „so, jetzt bist du fertig.“ Sie sah Alina liebevoll lächelnd an.

„Nun geh zur großen Halle und verdrehe allen meinen Söhnen die Köpfe.“ Alina nickte nur scheu und verließ still das Zimmer. Sie fand den Weg zur Halle allein, hatte aber ihre liebe Not mit den Schuhen, diese drückten sie und taten ihr schnell weh. Als sie sich einen Moment im Flur alleine wähnte, zog sie diese schnell aus und stellte sie in eine kleine Nische in der Wand, um sie später wieder holen zu kommen. Barfuss und ihr schönes Kleid vorn hochhaltend, wie Sonja es ihr gezeigt hatte, setzte sie rasch ihren Weg fort.

Als Raven die große Halle betrat, konnte er seine kleine Fee noch nirgends entdecken. Der große Raum war festlich mit Tüchern und Wandteppichen geschmückt und fast alle Familienmitglieder konnte er schon entdecken. Unter diesen auch Karak, wie er jetzt und erleichtert feststellte. Der Dragon winkte ihn zur langen Tafel, an der die meisten bereits saßen und ungeduldig auf den Beginn der Essen warteten.

„Komm, mein Sohn,“ meinte der Dragon grinsend, „setz dich zu mir. Deine Kleine ist noch nicht hier. Wahrscheinlich putzt meine gute Sonja sie heraus wie einen dieser kleinen, bunten Vögel deines Reiches. Nun, wir wissen ja, wie die Frauen sind.“ Raven sah den Älteren nun ebenfalls grinsend an und konnte es nicht bestreiten.

„Nach unserem gemeinsamen Mahl werden wir alle zum Jagdsaal gehen, um dort am Kamin deine Geschichten zu hören. Also, überlege schon mal gründlich, was du uns zum Besten geben wirst.“

Da betrat Alina leise und, wie sie gehofft hatte, möglichst unauffällig die große, hellerleuchtete Halle. Doch alle Gesichter wandten sich zu ihr um und die Blicke der Anwesenden blieben auf ihr haften. Ein leises Raunen ging durch die Anwesenden. Ihre Schönheit war an diesem Abend so blendend, so rein und strahlend, das alle Geflügelten, die hier beisammensaßen, sich immer an sie und diesen Abend erinnern würden. Raven blieb von ihrem Anblick wie verzaubert sitzen, während der Dragon sich lächelnd erhob und ihr ruhig entgegenging.

„Bei den alten Göttern, Sonja, du hast dich selbst übertroffen,“ raunte er. Als er sie erreichte, bot er ihr seinen Arm, den sie dankbar ergriff und führte sie durch die zurückweichende Menge.

„Komm, mein Kind, du musst hungrig sein und mein Neffe ist schon ganz verrückt vor Sehnsucht nach dir.“ Mit seinen Worten zauberte er ihr ein süßes Lächeln ins Gesicht und er dachte bei sich,

wenn die Götter mich über Nacht nur verjüngen könnten, Raven hätte eine ernsthafte Konkurrenz um ihre Gunst. Doch dann sah er den Blick, mit dem sie seinen Neffen ansah und begriff, dass sie wegen keinem Mann seines Volkes, egal ob jung oder alt, ihre Entscheidung überdenken würde.

Sie gehörten zueinander, egal, was die alten Legenden sagten.

Er brachte sie zur Tafel, übergab sie an Raven, nicht ohne dem leise zu bekunden, dass dieser mit offenem Mund einem gähnenden Schaf glich. Dann klatsche er laut in deine mächtigen Hände und rief dann, breit grinsend, dass jene, die jetzt noch nicht an der Tafel weilten wohl hungrig ins Bett müssten. Daraufhin begann das üppige Festmahl und die Speisen wurden der Reihe nach Aufgetragen. Alina war etwas verwirrt wegen der Vielfalt und dem ganzen Silberzeug, Essgeschirr, wie Raven ihr leise sagte. Das meiste kannte sie nicht und sie schaute während des ganzen Essens immer wieder zu Raven und tat es ihm gleich. Das Mahl dauerte lang und war sehr umfangreich. Angefangen von Fasan, über Schwein bis zum Rind, sowie viel Obst und Gemüse, eben alles, was der Stall und der frühe Garten jetzt schon hergaben. Männer wie Frauen unterhielten sich vergnügt und es wurde viel gelacht und gescherzt. Doch auch das längste Essen nimmt irgendwann ein Ende und so begab es sich, dass sich die Gesellschaft anschließend geschlossen und gesättigt ins Jagdzimmer begab.

Das Jagdzimmer war ein ebenfalls großer Raum, aber durch die ganzen Felle, welche die Wände und den Boden schmückten, sehr gemütlich und von dem Feuer im Kamin sanft erhellt. Im Feuerschein glänzten Waffen an den Wänden, und viele Gemälde, meist Darstellungen von Löwen, Wölfen oder Bären zierten diese zusätzlich. Alina fühlte sich hier, nach dem ganzen Trubel der vergangenen Stunden, wirklich wohl. Auf den dicken Fellen am Boden sitzend, wollten sie jetzt alle Ravens Geschichten lauschen. Dieser setzte sich nah ans Feuer, und Alina auf seinem Schoß haltend begann er langsam und ruhig zu erzählen. Angefangen damit, warum er sein Reich einst verlassen hatte um zu suchen was er lange nicht fand. Er sprach sehr leise, so das hier jetzt Stille herrschte, aber auch sehr ausführlich von den Dingen im Norden. Von den Menschen, die er dort überall vorfand. Von Veränderung, von Einsamkeit und Verfolgung und von der Ausrottung ganzer Volksstämme. Er berichtete von Plünderungen ganzer Dörfer und den Feuern, in denen die Menschen die Bewohner verbrannten, derer sie habhaft wurden. Er sprach auch von Alina und wie er sie fand. Es herrschte eine tiefe Stille im diffusen Licht des Saales, und alle lauschten seiner ruhigen, traurigen Stimme. Doch als er zu der Stelle seiner Geschichte kam, an der er und Alina auf die alte Burgruine und deren Inhalt gestoßen waren, ging ein entsetztes Raunen durch den Saal. Er schilderte ihr Erleben danach in allen Einzelheiten und wenig später herrschte bedrückende Stille im Raum. Der Dragon sah Raven ernst an und fragte diesen ruhig,

„Und du bist dir sicher, dass über dem Kamin zwei steinerne Figuren saßen die Männer unseres Volkes darstellten?“ Alina antwortete statt Raven mit einem nicken.

„Warum fragst du?“ Wollte Raven von ihm wissen.

„Nun,“ erwiderte der, „es gibt da eine alte Legende, nach der die Aufstände dort, in Ranguhl begonnen haben sollen. Es heißt in ihr, dass die Menschen sich erhoben, jedes Leben dort töteten und danach den schlimmsten aller Flüche über sie verhängten. Sie sollten tot, aber deren Seelen dennoch gefangene ihrer Körper bleiben. So sollten sie, ewig auf Erlösung hoffend, dort unberührt bis zum Ende der Welt ausharren.“ Der Dragon räusperte sich und schluckte die Trauer herunter.

„Es wurden auch die beiden Statuen erwähnt. Laut der Legende stellen sie die Wächter der Toten dar. Und erst, wenn sie fallen, finden auch die Seelen der Gemeuchelten ihren Frieden,“ der Dragon seufzte tief. „Nun, es mag auch nicht immer alles stimmen, aber es ist gut zu wissen, dass ihre verlorenen Seelen jetzt, nach so langer Zeit, von euch befreit wurden.“

Raven sah die Trauer in den Augen des Älteren und begann, den Rest seines Berichtes zu erzählen.

Nachdem er geendet hatte, senkte sich wieder tiefes Schweigen über die Anwesenden, von denen sich nach und nach einige erhoben und langsam die Halle verließen. Alina verstand die plötzliche Trauer nicht und dachte, sie sollten sich doch Freuen, der Befreiung der Seelen wegen. Doch, auch Raven hielt sie nur ruhig in seinen Armen und sah den Anderen mitfühlend nach. Alina wusste nicht um die Menschen, und wie weit diese jetzt schon vorgerückt waren. Wie eng der Platz jetzt für die alten Völker unter den Kreuzen wurde, und wenn nichts dagegen geschah, diese entgültig von der Welt verschwinden würden. Der Dragon erhob sich jetzt ebenfalls und trat auf beide zu.

„Kommt mit, ich möchte euch jetzt etwas zeigen.“

Er nahm eine der Fackeln von der Wand, führte sie aus dem Raum durch dunkle Gänge und eine gewundene, steile Treppe hinauf. In einem engen Korridor blieb er vor einer kleinen Tür stehen.

„Ich komme nicht mehr oft hier herauf, war wohl das letzte Mal vor Jahren hier, aber als ich dich sah, kleines Mädchen, fiel es mir sofort wieder ein. Ich möchte, das du es dir ansiehst.“

Damit schloss er die Tür auf und trat gebückt ein. Nachdem ein kleines Feuer im Kamin brannte sahen sich beide neugierig in der engen Kammer um. Sie stand voller alter Möbel, alter Gemälde, kaputtem Spielzeug, alten Kleidern und ähnlichem. Eben all den Sachen, die man irgendwann als überflüssig befunden und hier heraufgebracht hatte. Der Dragon ging zu einer der hinteren Ecken und zog einen großen, mit einem alten Tuch verhüllten Gegenstand hervor. Allem Anschein nach handelte es sich dabei um ein großes Bild.

„Komm, mein Kind, setz dich ans Feuer,“ bat er sie, und als sie saß stellte er es vor ihr nieder.

„Raven, ich sagte dir ich hätte diese Augen schon einmal gesehen. Ich war damals noch ein Knabe und spielte allein am Wald oben auf den Klippen, als eines dieser Wesen aus ihm hervortrat. Ich sah sie nur kurz, denn sie sind auch uns gegenüber sehr scheu. Dieses Bild ist aus meiner Erinnerung entstanden und ich sah nie wieder ein Wesen wie sie. Doch du, mein Kind, du hast ihre Augen.“ Danach zog er langsam das schmutzige Tuch fort.

Alina sah neugierig auf das langsam enthüllte Bild und blickte schließlich erstaunt in das schöne Anglitz ihrer Mutter. Der Dragon besah sich sehr genau ihre Reaktion und bemerkte bei ihr einen Ausdruck des Erkennens und des Schmerzes. Ja, sie kannte solche Wesen. War vielleicht sogar unter ihnen Aufgewachsen. Doch wie nahe er mit seiner Vermutung der Wahrheit kam, sollte er jetzt noch nicht erfahren. Auch Raven betrachtete das ungewöhnlich schöne Bild, doch auch ihm entging Alinas Blick nicht.

Das Bild war sehr gelungen und ausdrucksstark. Es zeigte ihnen den Waldrand mit der Wiese davor, so wie der Knabe sie einst sah. Auf der Wiese stand eine vom Sonnenschein umspielte, prachtvolle, leuchtend weiße Stute, auf deren Stirn ein kurzes, goldenes Horn prangte. Ihre lange, weiße Mähne wehte in einer ewigen Briese und ihre sonderbar blaugrün gefärbten Augen blickten ihnen voller Stolz und Erhabenheit aus dem Bild entgegen. Jetzt erst bemerkte Alina ihren Irrtum, dies war nicht ihre Mutter, aber zweifellos eine Schwester aus deren Volk. Mit Tränen in den Augen berührte sie ganz zart den gemalten Kopf des Einhorns und fragte sich wieder, warum Mutter sie verlassen hatte. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte lautlos auf. Sofort war Raven bei ihr und schloss sie fest in die Arme.

„Warum tust du das, Dragon, warum quälst du sie so?“ Raven sah aufgebracht zum Älteren auf, doch dieser ignorierte ihn und wandte sich stattdessen an Alina.

„Es gibt eine alte Legende in der von einem Kind erzählt wird, einem kleinen, weißen Mädchen, das unter den Gehörnten aufwächst und später zur Führerin der Völker wird. Bist du dieses Kind?“ Er beugte sich zu beiden nieder, hob ihr Gesicht und sah ihr dann tief in die leuchtenden Augen, „ich muss es wissen, bist du dieses Mädchen?“ Sie sah wütend und mit tränennassem Gesicht zu ihm auf. Erst Mutter, dann der alte Drache und jetzt auch noch der Dragon. Alle erzählten ihr immer das gleiche, ob sie es hören wollte oder nicht. Warum sie? Sie verstand es nicht und auch wenn ihr Herz ihr sagte, das es alles stimmte, auch wenn sie tief in sich fühlte, dass sie alle recht hatten, gefiel es ihr nicht. Sie riss sich heftig von Raven los und stürzte aus der Kammer.

Sie floh durch die dunklen Gänge, fort von den Legenden, fort von ihrer Aufgabe, dem Versprechen, das sie ihrer Mutter einst gab, fort von alle dem. Verzweifelt fragte sie sich warum, warum sie, warum konnte sie nicht leben wie alle anderen auch, in Frieden und Glück? Wer hatte sie zur Führerin der Völker erkoren und immer wieder warum, warum. Sie liebte Raven, das wusste sie jetzt ganz tief in ihrem Herzen, doch durfte sie jemals mit ihm in Frieden leben, durfte sie jemals

mit ihm Glücklich sein? Sie bezweifelte dies und rannte weinend weiter durch die dunklen Flure. Schließlich erreichte sie atemlos ihre gemeinsamen Räume, durchquerte sie erschöpft und ließ sich müde und immer noch schluchzend auf das große Bett fallen. Raven traf kurze Zeit nach ihr ein und legte sich gleich ruhig zu ihr.

„Ist es wahr?“ Sie sah zu ihm auf und es lag soviel Qual, soviel Verzweiflung in ihrem Blick, das er spürte, irgendwie einfach wusste, das es stimmte. Seufzend zog er sie an sich, und sie barg ihren kleinen Kopf an seine Brust und weinte still weiter.

„Gut, du bist also die Führerin, du bist das Kind der alten Völker, das Kind des Lichtes. Aber welche Legende, welcher Zauber, welche Aufgabe soll uns je trennen können? Nichts und niemand wird uns daran hindern können, zusammen zu bleiben.“ Er streichelte ihr langsam und versonnen über das lange, weiche Haar.

„Du wirst mich zu meinem Reich begleiten und alle, die dir folgen, werden dort auch mit Freude aufgenommen. Dort wird für alle ein Platz zum Leben sein.“ Sie sah ihn nicht mehr ganz so verzweifelt an, doch immer noch glitzerten Tränen in ihren Augen.

„Ein Platz ohne Menschen.“

Kind des Lichtes

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