Читать книгу Alien, Mutter, Kind - Kiara Borini - Страница 4
Master
ОглавлениеIch komme nach Hause, keiner da. Dabei ist mir nach Feiern zumute, trotz der späten Stunde. Die Master-Prüfung ist wirklich sehr gut gelaufen. Ich war dann noch bei meinem Professor zum Abendessen eingeladen. Nette Leute, Stefan und seine Frau; aber das wusste ich ja. Schließlich habe ich bei ihm schon mein Praktikum als Schülerin absolviert. Er war dann auch der erste, der Jill untersuchen durfte. Und heute hat er mich gefragt, ob ich bei ihm promovieren will! Es läuft gerade richtig gut bei mir! Bei uns! Denn auch meine geliebte Chiòcciola hat sich in den letzten sechs Jahren richtig ins Zeug gelegt. Ich hätte nie gedacht, dass ein einzelner Mensch so viele Sprachen lernen kann. Ich meine nicht, in so kurzer Zeit, sondern überhaupt. Wobei Mensch ja nun auch wieder nicht ganz korrekt ist. Denn Chiòcciola ist ein Alien. Mein geliebtes Alien. Die Mutter, von Jill, meiner Tochter, die sicher oben schon schläft.
Ma hat sie wohl zu Bett gebracht, bevor sie zum Yoga gefahren ist. Naike, meine dreizehnjährige Schwester, ist heute bei ihrer Freundin und übernachtet dort. Vermutlich tobt dort gerade eine Pyjama-Party.
Pa ist mal wieder in Brüssel. Er hängt sich da richtig rein und ich würde ihm gönnen, wenn er den Posten als Kommissar, auf den er heimlich schon seit einiger Zeit spekuliert, wirklich bekommen würde. Verdient hätte er es. Seit er nicht mehr so verbissen an die Sache herangeht, ist er wohl noch erfolgreicher mit seiner ‘Arbeitsgruppe Asyl’. Aber das Ganze ist wohl auch ein großes Politikum. Wer welchen Posten aus welchem Land bekommt. Deshalb ist alles noch immer ein Geheimnis. Ihn belastet es, glaube ich, schon sehr. Er mag klare Verhältnisse. Doch hat er sich in letzter Zeit überraschend lernfähig gezeigt.
Eigentlich seit damals: Ein schwangeres Alien, das vor gut sechs Jahren bei uns aufgeschlagen ist und seine Tochter - mich - überraschend und ohne Vorwarnung zur Auch-Mutter gemacht hat! Das hat ihn sicherlich etwas nachdenklich werden lassen, ob die von ihm so geliebten geraden Wege immer die geeignetsten sind, für das, was das Leben für einen bereithält. Als dann Dennis, mein Zwillingsbruder, mit Chiòcciolas Cousine, Ashley, in den Weltraum aufgebrochen ist, um zu ergründen, ob ihre Liebe tragfähig genug ist, deren Welt zu retten, hat er sie sogar unterstützt. Nun, das alles hat ihn sicherlich seine Arbeit und die Ursachen von Flucht und Migration in einem neuen Licht sehen lassen und ihn - glaube ich - auch menschlicher und sicher auch kreativer gemacht. Er ist seitdem, wenn er mal da ist, irgendwie auch zugänglicher.
Die Welt von Ashley und Chiòcciola liegt ebenfalls in unserer Milchstraße, das ist verhältnismäßig nah, ist aber dennoch etwa 90.000 Lichtjahre von unserer entfernt. Für das Licht eine irre lange Reise. Man kommt dort aber schneller hin, weil man, sofern man weiß, was man tut, durch Falten im Raum fallen kann, und dann quasi eine Abkürzung nimmt.
Nun, ich bin zwar inzwischen staatlich geprüfte Molekularbiologin und kapiere auch so ungefähr, wie das funktioniert. Es hat was mit unterschiedlich dichter Materie im Weltall zu tun, und damit, dass bestimmte Partikel, die, immer wenn sie mit Materie zusammentreffen, für das Entstehen von Schwerkraft und Zeit verantwortlich sind. Dazu kommt, dass sie mit dieser unterschiedlich dichten Materie in unterschiedlicher Weise in Wechselwirkung treten, was dann unterschiedliche Schwerkraft und Zeit in dieser Region bedeutet. Diese Unterschiede ziehen sich wie ein Netz durch unsere Milchstraße und man kann sie gut zum Reisen benutzen. Eben ist man noch in einem Teil der Milchstraße, schwupps, schnellt man hinüber in eine andere Ecke. Und wenn man diese Raumfalten geschickt nutzt und kombiniert, dann kann man auch 90.000 Lichtjahre auf einen Katzen-Sprung verkürzen.
Dennis ist da besser drin in der Thematik. Er wollte Raumfahrtingenieur werden, eigentlich, bevor er kurz nach dem Abi Ashley kennen und lieben gelernt hat. Jetzt ist er in ihrer Welt und betreibt die erste Pizzeria auf der anderen Seite der Galaxis. Doch eigentlich ist er Politiker, wie Pa. Das hört er aber nicht so gern. Lieber sieht er sich als gesellschaftlichen Brückenbauer.
Und dann ist er noch der erste, der eine funktionierende E-Mail-Strecke quer durch die Galaxis errichtet hat. Auch eine Art Brücke; und irre praktisch. So können wir gut in Kontakt bleiben. Das war an unserem ersten Weihnachten noch ganz anders.
Ich schleiche die Treppe hinauf und schaue vorsichtig in Jills Zimmer. Alles ruhig. Sie schläft tief und fest. Sie hat das Shi’an-Tier in ihren Armen. Eine Art Plüsch-Katze aus der anderen Welt, die ihr Ashley vor ein paar Jahren in einer Raumkapsel geschickt hat. Ist natürlich kein Plüsch, sondern organisches Material, wie alles in Ashley und Chiòcciolas Welt. Und sieht irre lebendig aus!
Leise schleiche ich wieder nach unten und setze mich ins Wohnzimmer. Ich würde so gern mit Chiòcciola, Ma, Pa, oder Dennis und Ashley auf meinen Erfolg anstoßen. Auf unseren Erfolg! Denn kurz vor dem Abi-Ball sah es nicht so aus, als ob sich alles so gut zusammenfügen würde. Jill ist eine tolle Tochter geworden, Chiòcciola ergänzt mich bei ihrer Erziehung hervorragend und trotz unseres beruflichen Engagements gelingt es uns bislang sehr gut, beides unter einen Hut zu bringen. Und wenn nicht, dann ist Ma da und springt ein, obwohl sie am Anfang ziemlich deutlich gemacht hat, dass sie dieses nun unter Garantie nicht zu tun beabsichtige. Ach ja, Naike hilft natürlich ebenso, wann immer es ihre Schulaufgaben zulassen. Sie hatte an Jill von Anfang an einen Narren gefressen!
Chiòcciola hatte heute Morgen gesagt, dass sie nach der Konferenz der ‘al Maghrib’-Delegation, der Nord-West-Afrikanischen Länder, noch mit ihnen zu Abend essen wird und erst spät kommt. Ich habe natürlich gehofft, sie wäre bereits da. Schade! Und dann sehe ich den Brief, den wohl Ma auf den Wohnzimmertisch gelegt hat. Ich nehme und öffne ihn - und kann mir das Lachen kaum verkneifen.
Meike-Marie Meyer-Mayr, die Klassenlehrerin von Jill lädt zum Elternabend. Was die Leute sich freiwillig doch für Namen geben. Wenn man das hört, ist es ja schon merkwürdig genug - Meier-Meier, aber geschrieben: Meyer-Mayr, das ist doch irre komisch.
Wie wir wohl als Doppelname heißen würden? Glücklicherweise stand das bei unserer virtuellen Hochzeit nicht zur Debatte. Denn in Chiòcciolas Welt haben die Zahlensysteme als Namen. Ich will doch durch die Hochzeit nicht zur Nummer werden!
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Rìccio steht plötzlich in der Tür und schnaubt. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Chiòcciola war Rìccio als wir uns das erste Mal geküsst haben. Damals war Chiòcciola abwechselnd Junge und Mädchen. Mein Gott, wie lange ist das schon her. Seither war Chiòcciola eigentlich immer eine Frau.
Das kann man von Rìccio nun wirklich nicht sagen. Älter ist er geworden. Das braune lockige Haar etwas gelichtet. Geheimratsecken. Dreitagebart. Steht ihm. Sieht eigentlich ganz gut aus. Auch wenn er entsetzlich wütend ist.
“Und ich habe gedacht, die haben keine Autos. Was bin ich doch blöd. Nein, alles nur, weil ich eine Frau bin! Denen habe ich es aber gezeigt. Mit mir macht man das nicht!”
Gut, zumindest ist es besser, wenn er redet, als nur schnaubend in der Tür zu stehen. Auch wenn ich noch überhaupt keine Vorstellung davon habe, was bei der Maghreb-Delegation vorgefallen sein mag. Aber vielleicht kann ich ihm ja noch ein paar weitere Sätze zwischen den wütenden Atemstößen entlocken. Der Abend verläuft zumindest anders als erwartet.
“Als ich gesagt habe, dass ich nach Hause fahren will, haben meine Gesprächspartner mir gesagt, dass man das im arabischen nicht kann.”
Ich sehe Rìccio verständnislos an.
“Ich hatte natürlich gedacht, die haben gar keine Autos! Aber das war falsch. Die meinten lediglich, dass es in ihrem Sprachdialekt keine grammatisch korrekte Form dafür gibt, dass Frauen Autos fahren.”
Ich bin nun immer noch nicht wirklich schlauer.
“Das war mir eigentlich auch ziemlich egal. Ich wollte nicht über Diskriminierung durch Sprache diskutieren oder deren Weltanschauung verändern, ich war müde und wollte nach Hause.”
Irgendein Detail scheint mir noch zu fehlen.
“Dann stand einer aus der Delegation auf und meinte, er könne es nicht zulassen, dass deutsche Männer ihre Frauen so behandelten, dass sie selber fahren müssten. Natürlich würde er mich nach Hause fahren. Meinen Einwand, dass mein Auto in der Tiefgarage vom Hotel auf mich warte, ignorierte er völlig.
Dann trat er hinter mich, fasste mir von hinten an den Busen und grinste anzüglich. Bei der Gelegenheit könne er mir noch andere Dinge aufzeigen, wo deutsche Männer ihre Frauen nicht hinreichend respektierten.”
Ich schlucke.
“Als er dann seine Hüfte an mich presste, ist es passiert. Ich habe instinktiv reagiert und ihm eindeutig klar gemacht, wenn es zu gemeinsamen Nachwuchs kommen solle, woran derzeit gar kein Bedarf bestünde, dann sei er sicherlich derjenige, der in der Geschlechtsanpassung die Rolle übernehmen würde, den Nachwuchs auszutragen.”
Ich sehe Rìccio mit großen Augen an. Sein Ärger ist inzwischen offensichtlich zum größten Teil verraucht.
“Du kennst ja das Geflacker. Und ich muss sagen, du hast es weitaus besser verkraftet als dieser Nord-West-Afrikaner, der sich für einen Mann hielt. Seine Augen hättest du sehen sollen, als ich im Ergebnis als Rìccio vor ihm stand. Ich glaube, so schnell fasst der keiner Frau mehr ungefragt an den Busen.
Leider hat die Abstimmung ja keinen Einfluss auf seine Gestalt. In meiner Welt, hätte er als Ergebnis einer erzwungenen Geschlechtsabstimmung ja auch seine Gestalt verändert. Das hätte den Effekt bei ihm sicherlich noch gesteigert. Und wenn ich Ashleys Fähigkeit gehabt hätte, ihm neue Gedanken einzuimpfen, dann wäre es gar nicht so weit gekommen. Dann hätte er beim ersten Griff an meinen Busen den nachdrücklichen Wunsch verspürt, körperliche Nähe bei seinen Saufkumpanen zu suchen. Das hätte alle von ihnen auf einen Schlag kuriert.
So etwas macht man bei uns nicht, jemanden zur Geschlechtsabstimmung zu zwingen. Das weiß eigentlich jeder!”
“Bei uns sollte das auch nicht unter Zwang geschehen. Wir haben da auch Gesetze, die das verbieten.”
“Aber mein Vorgehen war zumindest wirkungsvoll.”
Da muss ich Rìccio zwar Recht geben, aber irgendwie beschäftigt mich die Frage dann doch, wie lange ich jetzt mit dem Ergebnis der erzwungenen Abstimmung zu leben habe. Und ob ich das will. Auch nach sechs Jahren Ehe überrascht mich diese Person immer noch und bringt mich dazu, dass ich mir über meine Gefühle immer wieder neu klarwerden muss.
Noch ehe ich etwas zu dem Thema sagen kann, ist Rìccio bereits ins Schlafzimmer gegangen und ich höre an seinen Atemgeräuschen, dass er offensichtlich eingeschlafen ist.
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“Oh, ich habe mal einen Schwiegersohn”, meinte Ma, als wir Samstagmorgen zum Frühstück herunterkamen. “Das ist ja auch mal etwas anderes. Mal sehen, wie lange es dauert. Ist vielleicht schon wieder jemand schwanger?”
“Passt schon”, antwortete Rìccio und schaufelte sich einen Berg Rührei auf seinen Teller.
Ich überlegte, ob ich mir ab jetzt Gedanken über seinen Cholesterinspiegel machen müsste, aber verwarf den Gedanken schnell wieder. Rìccio war ja genauso alt wie Chiòcciola, also gerade 154 geworden und damit nach den Maßstäben, die in seiner Welt galten, noch überhaupt nicht gefährdet. Ob die überhaupt Probleme mit den Herzkranzgefäßen haben? - Was soll das denn schon wieder? Da war ich inzwischen sechs Jahre mit einer Frau verheiratet, mit der ich eine gemeinsame Tochter hatte, und diese Frau saß unvermittelt als Mann neben mir und alles was mir einfiel, war mir Sorgen um seine Herzkranzgefäße zu machen, weil er wortlos einen Berg “Rühreier” vertilgte? War das alles schon so normal für mich?
Naike riss mich aus meinen Gedanken:
“So sieht also dieser Rìccio aus?! Ich dachte, dass er nach Annikas Beschreibung mehr Haare hätte. Zumindest oben - und weniger am Kinn.”
Rìccios ganzes Augenmerk galt dem Berg an Rührei.
“Als Schwiegertochter war er gesprächiger”, maulte Ma. Zumindest Pa musste sich einen Kommentar verkneifen, denn er war noch in Brüssel und würde erst morgen wieder hier sein.
Interessierte es eigentlich niemanden, dass ich vielleicht schon in wenigen Jahren mit Frau Doktor angeredet werden würde? Und war es wirklich so egal, ob neben mir meine Ehefrau oder mein Ehemann saß? War es mir egal? Nein, natürlich nicht. Zumindest mitreden hätte ich wollen. Wirklich? Wie hätte ich mich wohl in der Situation mit der Maghreb-Delegation gefühlt? Chiòcciola hatte einfach spontan reagiert, wie es bei ihnen Brauch ist. Dennoch wäre ich jetzt gern für sie da gewesen. Sie wohnte zwar nicht wieder als Flüssigkeit in meinem Papierkorb, wie damals, kurz nach der Geburt von Jill, aber irgendwie war sie als Rìccio hinter dem Berg an Rührei Kilometer weit entfernt.
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Am Vormittag überlegte ich, wie ich meine aktuelle Freizeit füllen könne. Das war ungewohnt, wenn man plötzlich keine Verpflichtung mehr hat. Eben noch voll der Prüfungsstress, und dann war das plötzlich zu Ende.
Mein Examen hatte bisher immer noch niemand so richtig interessiert. Aber andererseits hatte ich auch Chiòcciolas Erlebnisse gestern Nacht nicht thematisiert. Hätte sie, hätte er das überhaupt gewollt? War sie traumatisiert? Bestimmt! Ich wäre es gewesen! Na klar! Aber Rìccio ließ sich zumindest nichts anmerken. Zumindest wirkte er nicht so, als ob er darauf wartete, dass ich ihn ansprach. Er war einfach da. Ruhte in sich selbst und schien auf gar nichts zu warten oder sich einen Kopf über uns und die Zukunft zu machen. Auch, ob er für heute Übersetzungsaufträge hatte, oder, ob es ihm egal war. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was in seinem Kopf vorging.
Also schlug ich irgendwann vor, nach Berlin zu fahren, denn er benötigte ja schließlich neue Klamotten, wollte er nicht mit Dreitagebart, Kostüm und Pumps beim nächsten Termin auflaufen.
“OK”, war seine Antwort und wir setzten uns ins Auto und fuhren los. - Versuchten loszufahren. Denn kaum aus unserer Siedlung herausgefahren, hieß uns ein Schild wenden, denn ein geplatztes Wasserrohr verhinderte die Weiterfahrt. Wir änderten also die Richtung und fuhren über die Feldwege durch die Kirschplantagen, für die unser Ort berühmt war. Das war schön und romantisch, aber auch zeitaufwändig, denn auf diesen schmalen Straßen konnte man nicht wirklich schnell fahren.
Doch trotz all dieser Umleitungen, die Brandenburg an diesem Tag für uns bereit hielt, irgendwann kamen wir dennoch in Steglitz an.
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Wir parkten auf der Dachterrasse des Kaufhauses an der Schlossstraße, gingen an dem “Gourmet-”Selbstbedienungsrestaurant vorbei, das offensichtlich bei älteren Damen besonders beliebt ist, und fuhren die Rolltreppe hinunter in Richtung der diversen Konfektionsabteilungen. Rìccio steuerte ohne viele Worte sofort ein weiteres Stockwerk tiefer in die Damenabteilung. Ich versuchte zu folgen.
Als wir in der Unterwäscheabteilung vorbeikamen, stieß er einen lauten Schrei der Verzückung aus: “Genau der Blauton, den ich immer schon gesucht habe!” Und verschwand mit dem BH eines italienischen Herstellers samt Bügel in einer Umkleidekabine. Mir wurde ganz anders!
Als ich endlich die Umkleidekabinen erreicht hatte, sah ich, wie eine ältere Verkäuferin bereits zum Telefon griff und offensichtlich die Hausleitung informierte.
Kurze Zeit später hörte ich aus den Lautsprechern eine Ansage, etwa in der Art:
“23. Bitte 4-4-3. 23 bitte.”
Offensichtlich wussten die Mitarbeiter, wer gemeint war. Es erschien ein unscheinbarer älterer Mann, der wohl nicht mehr sonderlich viele Arbeitswochen bis zu seiner Pensionierung benötigte. Er trug einen grauen Anzug, der offensichtlich ebenfalls am Einsatzende angelangt war. Und ein überaus leger gekleideter Mann in den mittleren Jahren; ‘leger’, wenn man seinen Kleidungsstil höflich kommentieren wollte. Der Pflegezustand seiner Haare verdiente zumindest den Begriff Frisur nicht. Wenn er nicht der Kaufhausdetektiv gewesen wäre, hätte man ihn bestimmt vor die Tür gesetzt, überlegte ich.
Der ältere war wohl der Geschäftsführer? Nein, er wirkte wie zweite Garde. Bestimmt stellvertretender Geschäftsführer. Oder Abteilungsleiter? Er schien wichtig genug, uns Ärger bereiten zu können, aber im Großen und Ganzen verzichtbar für das Kaufhaus. Auch keine schöne Vorstellung kurz vor dem Ruhestand, oder?
Dann waren da noch die ältere Verkäuferin und eine deutlich jüngere, vielleicht eine Praktikantin. Sie alle hatten sich vor dem Vorhang aufgebaut, hinter dem Rìccio verschwunden war.
“Kennen Sie den Mann?”, fragte der ältere Herr.
“Welchen Mann?”, entgegnete ich, auch um Zeit zu gewinnen.
Der Detektiv wollte sich nicht mit Konversation aufhalten lassen und es schien ihm eine willkommene Gelegenheit, endlich die Tatkraft unter Beweis stellen zu können, die ihm seine Vorgesetzten wiederholt in Frage gestellt hatten.
“Kommen Sie bitte heraus, sonst wird es für alle Beteiligten noch unangenehmer!”
Keine Reaktion.
“Können wir das nicht bitte mit weniger Aufmerksamkeit lösen?”, flehte der Mann im grauen Anzug.
“Ich öffne jetzt den Vorhang!”, erregte sich der durch seine Aufgebrachtheit noch unappetitlicher wirkende Detektiv. Sein Gebaren hatte nun dazu geführt, dass aus den anderen Kabinen mehrere Damenköpfe hervorlugten. Einige Frauen standen mit Dingen, die sie eigentlich anprobieren wollten, im Gang und fanden das Schauspiel offensichtlich weitaus spannender, als die Garderobe in den Farben der Saison, die auf Bügeln über ihren Armen baumelte.
Und ohne auch nur eine angemessene Reaktionszeit abzuwarten, riss der auf einen Karrieresprung hoffende Detektiv den Vorhang beiseite.
Chiòcciola war gerade dabei, die Haken eines ganz offensichtlich zu klein geratenen BHs mit nach hinten verschränkten Armen wieder zu öffnen, als mehr als ein Dutzend Augenpaare sie anstarrten.
Die ältere Verkäuferin fasste sich zuerst und meinte nach einigen Atemzügen:
“Ich denke, wir sollten den in einer anderen Körbchengröße probieren. Warten Sie bitte, ich hole ihnen das passende Modell” und verschwand.
Die beiden Herren absolvierten derweil einen Wettbewerb in Schnappatmung. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Detektiv unter dem Blickkontakt des älteren Herrn verdampft. Statt ihn zu vaporisieren sagte er jedoch: “Meine Damen, bei der Gelegenheit darf ich sie darauf hinweisen, dass wir heute auf alle italienischen Dessous einen einmaligen Rabatt von 25% gewähren. Bitte zögern sie nicht zu lange, wir haben wunderschöne frische Farben, wie sie hier sehen können.”
Und zu Chiòcciola gewandt meinte er: “Ihnen werden wir die gewünschten Modelle natürlich nicht in Rechnung stellen, nach ihrer unfreiwilligen Modenschau. Ich hoffe, Sie akzeptieren diese kleine Geste unserer Entschuldigung.”
Die Verkäuferin hatte ein geübtes Auge. Sie kam mit einer Variante mit größerer Körbchengröße und einer mit kürzerem Unterbrustband und noch größerem Körbchen zurück. Die letzte Variante schien der veränderten Situation zu Chiòcciolas und meiner Überraschung besser gerecht zu werden. Ich war froh, dass sich die Situation wieder geklärt hatte, sowohl die in der Umkleidekabine, als auch die Schwiegersohn-/Schwiegertochter-Thematik künftig am Frühstückstisch.
Was mich aber dennoch wurmte, zumindest ein wenig, war, dass ich keine Gelegenheit gehabt hatte, mit Rìccio ein paar Worte zu wechseln. Schon damals hatte sich mein geliebtes Alien als Mann sehr wortkarg erwiesen.
Dafür redete Chiòcciola auf dem Rückweg wie ein Wasserfall. Von den drei BHs, die sie in verschiedenen Farben so überraschend günstig erstanden hatte. Darüber, dass sie nicht im Entferntesten daran gedacht hatte, dass ihr diese BH-Größe überhaupt passen würde! Was ich ganz allgemein von ‘Bra-Fitting’ hielte, da ginge der Trend ja auch zu kleinerer Unterbrustbandweite und größerem Körbchen! Oder ob sie wohl zugenommen hätte? Und ob sie jemals wieder einen Übersetzungsauftrag in arabischer Sprache annehmen solle?
Ich kam natürlich nicht dazu ihr zu antworten. Ihr zu sagen, dass ich mein Examen so gut gemacht hätte, dass ich von Stefan gefragt wurde, ob ich promovieren möchte. Dass ich schon fand, dass sie oben rum kurviger war, seit sie wieder Chiòcciola war. Dass sie aber nur dort runder war. Und dass ich ganz, ganz froh war, sie wieder zu haben, weil ich sie doch ganz doll lieb habe.
Aber ich kam nicht dazu, denn sie redete ununterbrochen weiter.
Was das ‘Bra-Fitting’ anbelangte, überlegte ich, sei es bei jemandem, der seinen Körper so ideal dem BH anpassen konnte, wie es Chiòcciola gerade bewiesen hatte, eigentlich völlig unnötig. Was sollte man da extra aufwändig vermessen, wenn Chiòcciola das gewünschte Modell einfach und verführerisch ausfüllen konnte. Einfach so!
‘Das ist schön, dass du das so siehst. Verführerisch! Das höre ich wirklich gern von dir.’
Mist! Sie hatte das seit Jahren nicht mehr getan. Sie hatte sich so auf unsere gesprochenen Sprachen konzentriert, dass ich völlig vergessen hatte, dass sie problemlos in meinem Gedankenflur wildern konnte.
‘Ich habe es wohl auch selbst ein wenig verlernt. Wenn ich meine Fähigkeiten benutzt hätte, wäre ich am Freitag ja nie in Bedrängnis gekommen, weil ich es vorher erkannt hätte.’
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Am Sonntagmorgen wurde ich durch Gedanken geweckt: ‘Es tut mir leid, dass ich dir deinen Freitagabend verdorben habe. Ich war einfach nur mit mir beschäftigt. Die Nord-West-Afrikaner haben mich total überrumpelt und dann habe ich einfach nur noch reagiert. Für dich war dann keine Kapazität mehr da. Das tut mir leid, weil ich sehr stolz auf dich bin, was du in den letzten sechs Jahren geleistet hast. Mit Jill und mit deinem Studium. Und was du mir an Freiheiten ermöglicht hast, eure Sprachen und Kulturen zu lernen und zu verstehen. Ich bin stolz auf dich!’
Das tat gut. Und dann gab ich Chiòcciola über meinen Gedankenflur zu verstehen, dass ich froh war, dass sie Teil meines Lebens geworden waren - sie und Jill. Und dass ich es um nicht in der Welt anders haben wolle. Keinen Rìccio, sondern sie. (Obwohl, einmal richtig mit ihm unterhalten hätte ich mich schon mal wollen.)
Chiòcciola sah mich an und lächelte. Wir kamen dann recht spät zum Frühstück nach unten.
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Alle saßen bereits an ihren Plätzen, als wir herunterkamen. Heute war es dann Pa, der sich schweigsam hinter einem Berg an Rührei verbarrikadiert hatte. Alle anderen am Tisch sahen uns gespannt an. Insbesondere Naike und Jill schienen auf irgendeine Reaktion von uns zu warten. Nur welche?
Erst, als Ma mir ein Brötchen reichte, und ich es aufschneiden und schmieren wollte, fiel mir auf, dass auf meinem und Chiòcciolas Teller jeweils ein Schlüssel lag. Gab es ein neues Schloss? War das ein dezenter Hinweis, dass wir ausziehen sollten? Ich blickte sie ratlos an.
Ma meinte nach einer Weile schmunzelnd, dass Pa uns etwas Wichtiges zu sagen hätte. Aber das Rührei hielt ihn vorerst noch davon ab.
“Wie ihr wisst”, räusperte er sich nach einer Weile, “sind unsere Hausnachbarn vor ein paar Monaten nach Hamburg in die Nähe ihrer Kinder gezogen. Die andere Hälfte vom Doppelhaus stand seitdem leer, und ich habe mit Herrn Hagedorn, dem Vermieter, Kontakt aufgenommen, zu welchem Preis wir es erwerben können. Das wollte ich allerdings nicht an die große Glocke hängen, denn wir wussten ja nicht, wie du dich nach deinem Examen entscheiden würdest und wollten dich nicht beeinflussen. Aber, nachdem du ja hier, wie Professor Schlesinger meint, in der Region bleiben und zunächst promovieren wirst, was ich sehr begrüße, und worüber ich mich bei euch dreien sehr freue, schien es wirklich ein guter Plan zu sein, und ich habe letzte Woche die Papiere fertiggemacht. Ihr habt also ab jetzt ein eigenes Reich, und Naike kann endlich wieder ihr eigenes Zimmer haben. Denn es ist doch recht beengt, alle unter einem Dach. Jetzt, wo ich wieder öfter hier bin.”
Das waren wirklich zu viele Informationen auf einen Schlag.
“Du bist jetzt wieder hier?”, fragte ich als erstes.
Ma nickte und antwortete: “Euer Vater hat leider den Posten als Kommissar für Flüchtlingsfragen nicht bekommen.”
“Stattdessen hat man mir signalisiert, dass meine Arbeit in Brüssel nicht weiter benötigt wird. Ich habe wohl mit meiner Überzeugung nicht den Zeitgeist, oder die aktuelle Mehrheitsmeinung hinter mir gehabt.”
Er trank einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
“Wenigstens”, fuhr er fort, “konnten wir den Kauf nun ohne erneute Hypothek realisieren. Denn als politischen Spitzenbeamten können sie mich zwar ohne Fristen von meinen Aufgaben entbinden, aber nicht ohne Überbrückungsgelder und Abfindungen zu zahlen. Auch an Überstunden und nicht genommenem Urlaub kommt noch einiges hinzu.
“Aber was machst du jetzt. Die Arbeit hat dir doch Spaß gemacht. Und jetzt bist du traurig”, vertraute Chiòcciola auf ihre Gedanken-Lesefähigkeiten.
“Papperlapapp! Ich finde was Neues. Wichtig ist jetzt erst mal, dass wir nach vorne sehen. Annika hat ein richtig gutes Ergebnis erreicht. Wir sind sehr stolz auf dich, Annika. Und auch du, Chiòcciola, hast in den letzten sechs Jahren eine enorme Entwicklung durchgemacht. Gibt es überhaupt noch eine Sprachfamilie auf diesem Planeten, in der du nicht zumindest im Restaurant eine Bestellung aufgeben könntest? Ich bin immer wieder beeindruckt.”
“Wenn euer Pa redet, bleibt eigentlich - wie immer - nichts, was ich hinzufügen könnte. Außer vielleicht, dass mir eine Schwiegertochter am Frühstückstisch allemal lieber ist als ein unrasierter Schwiegersohn. Wer hätte das noch vor ein paar Jahren gedacht? Chiòcciola, du bist ein unverzichtbarer Teil unser Familie geworden, ich hoffe, dass du das weißt. Und ich hoffe, dass Dennis in deiner Welt genauso herzlich und innig aufgenommen ist, wie du.
Ihr müsst aber jetzt nicht gleich packen. Erst wollen wir noch in Ruhe frühstücken. Und dann überlegen wir uns einen Plan. Wenigstens bleibt ihr ja in unserer Nachbarschaft.
Und Jill, Du wirst doch deine Großmutter oft besuchen, oder?”
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