Читать книгу Alien, Mutter, Kind - Kiara Borini - Страница 6
Kleinkind Jill
Оглавление“Wir sollten das erste Befeuchten durchführen”, meinte Chiòcciola nach einiger Zeit, als wir mit Jill im Kinderwagen unsere Runden durch die Siedlung gingen. Wir fingen gerade an, uns die neuen Aufgaben, die Jill über unser Leben gestülpt hatte, gemeinsam aufzuteilen. Mitunter gab es noch Reibereien und Zuständigkeitsprobleme, aber im Großen und Ganzen klappte es mit Chiòcciola und mir ganz gut. Natürlich war Chiòcciola immer noch gelegentlich traurig, dass sie Jill nicht stillen konnte, aber diese Zeit neigte sich ja absehbar dem Ende entgegen. Jill signalisierte immer öfter, dass das, was wir aßen, auch für sie interessant war. Ich sah Chiòcciola verständnislos an. “Habt ihr kein Ritual, um euren Nachwuchs in euer Gruppe willkommen zu heißen und ihm alles erdenkliche Glück für seinen Lebensweg zu wünschen? Spontan fiel mir natürlich unsere Taufe ein, die sich ja auch irgendwie als erstes Befeuchten beschreiben ließe. Aber ich war doch neugierig und wollte mehr über die Welt von Chiòcciola wissen. Insgeheim beneidete ich Dennis, der ja schon zum zweiten Mal die Welt von Ashley und Chiòcciola besuchte. Wie es ihm wohl dort gerade erging? “Unsere Welt ist meist sehr trocken. Deshalb ist es immer willkommen, wenn wir unsere Oberflächen befeuchten. Also ist das erste Befeuchten sowohl etwas sehr Angenehmes für alle Beteiligten, als auch ein gemeinsames Versprechen aller Beteiligten, dafür zu sorgen, dass es dem neuen Mitglied der Gruppe möglichst lange gut und überhaupt so gut wie möglich geht. Wenn Eltern neues Leben schaffen, dann durchschreiten sie damit so etwas wie eine Tür. Ihr Leben verläuft auf einmal anders. Eine weitere Person gehört untrennbar zu ihnen. Deshalb ist es sehr hilfreich, wenn man aus der Gruppe die Unterstützung erfährt und durch etwas Erlebnisreiches vermittelt bekommt, dass man nicht allein ist. Dass die Gedanken und Wünsche von allen bei einem sind. Und dass etwas sehr Schönes, so wie es Wasser für uns ist, dieses Gefühl steigert.” “Ist es etwas Religiöses?”, wollte ich wissen. “Habt ihr überhaupt einen Gott?” “Wir leben auf einem Planeten, auf dem es viele Hinweise gibt, dass lange vor uns, sehr, sehr lange vor uns, Wesen gelebt haben, die wohl unsere Fähigkeiten bei weitem übertroffen haben. Noch immer profitieren wir von Dingen, die sie für uns hinterlassen haben.” “Sind das eure Götter?” “Nun, sie haben den Planeten wohl nicht erschaffen, auch das Universum mit unserer Galaxie ist nicht ihre Schöpfung. Deswegen sind auch sie geschaffen. Und dass sie nicht mehr da sind, ist wohl auch ein Zeichen, dass es keine Götter sind, so wie ihr euren Gott definiert. Aber wir respektieren sie zutiefst und sind der Meinung, dass wir ebenso wie die anderen Kreaturen auf unserem Planeten in ihnen weiterleben. Deswegen auch unser tiefer Respekt vor allem Lebenden. Das Universum selbst ist aber so alt, dass wir bei all unseren Reisen keine Hinweise gefunden haben, die auf ein Wesen deuteten, dass es aus eigener Kraft geschaffen hat. Wohl aber viele alte und weise Gesellschaften, die kenntnisreich und wissend lange vor unserer Zeit existierten. Ob wir aber die, die das Universum vor ewigen Zeiten einst geschaffen haben, überhaupt auf unserer Seite der Zeit finden, bezweifeln inzwischen unsere klügsten Denker.” Ich war irritiert: Diese Seite der Zeit. Gab es eine andere? War das wie bei Zahlen, dass Zeit positiv und negativ sein konnte? Meinte Chiòcciola das vielleicht? Ich musste sie gelegentlich danach fragen. Fürs erste wollte ich aber den Faden nicht verlieren. “Und was passiert bei dem ersten Befeuchten?”, wollte ich wissen. “Man wird nass”, meinte Chiòcciola trocken. Ich sah sie verwundert an. “Es ist nicht wie bei euren Sakramenten, dass etwas vom Wesen anderes durch die Handlung ins Dasein tritt. So wie bei euch Wein plötzlich Blut ist. Das Wasser bei uns bleibt Wasser. Es macht nass, ist angenehm und ein sehr wahrnehmbares Zeichen von Gemeinsamkeit, weil alle nass werden. Aber auch, wenn es Wasser bleibt, trotzdem ist es uns wichtig, und wir sollten es mit Jill machen.” “Und wenn wir Jill einfach taufen lassen?” “Auch das ist gut, ihr macht das auch mit Wasser und die Gruppe, eure Familie, ist ja auch dabei. Ihr habt sogar ein paar, die ihr speziell dafür aussucht, auf die, die ihr tauft, besonders aufzupassen. Ihr nennt sie - glaube ich - Paten. Das ist ein gutes Konzept. Auch wenn ihr euch dabei wenig natürlich verhaltet und extra herausputzt und gute Sachen anzieht.” “Du weißt sehr viel über unsere Welt”, stellte ich fest. “Ja, ich finde es faszinierend, neue Konzepte und Gedanken in mich aufzunehmen. Und ihr habt Bücher, die so viel Wissen enthalten. Das ist wirklich eine gute Erfindung.” “Ihr habt keine Bücher?”, stellte ich verwundert fest. “Nein, das Wissen in unserer Welt wird im direkten Gedankenaustausch vermittelt. Dadurch gibt es aber nur das Wissen derer, die gerade leben. Alles Wissen, derer, die nicht mehr leben, ist nur noch indirekt in den Erinnerungen von denen, die sie kannten, vorhanden. Auch wenn wir eine sehr lange Lebensspanne haben, in unserer Familie sind manche über tausend Jahre alt, ist es faszinierend, etwa die ureigenen Gedanken von Julius Caesar zu lesen, die er selbst direkt aufgeschrieben hat. Also ohne Umwege über andere Köpfe, also Leute, die einen kannten, der ihn kannte. Zweitausend Jahre altes Wissen, direkt von seinem in meinen Kopf. Das ist toll!” “Du hast den De Bello Gallico gelesen?”, wunderte ich mich. “Ja, warum nicht. Ist recht ansprechendes Latein und hat mir beim Lernen der Sprache geholfen.” “Wow, du sprichst Latein!” “Nein, ich spreche es leider nicht. Bisher habe ich noch keinen gefunden, der mir Genaueres zur Aussprache sagen konnte. Da ist Französisch und Italienisch einfacher. Die Leute leben noch.” Ich war bass erstaunt, mit welchem Eifer Chiòcciola sich in die Sprachen unserer Welt stürzte und dabei war ich so ignorant, was ihre Welt und Kultur anbelangte. Aber das mit dem ersten Befeuchten, nahm ich mir vor, wollte ich mit Ma und Pa möglichst bald besprechen.
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Bisher hatte sich Stefan um die Gesundheit von Jill gekümmert. Ihm konnte ich vertrauen, das wusste ich! Aber er war zunehmend weniger sicher, ob nicht ein richtiger Kinderarzt deutlich geeigneter wäre für diese Aufgabe. Stefan meinte, Gunther wäre der richtige. Er kannte ihn seit seiner Schulzeit und vertraute ihm. Konnte ich das ebenfalls? Stefan wollte ihn vorab über alles Wichtige informieren und versuchen, einen Abendtermin in seiner Praxis zu bekommen, wenn mit weniger Publikumsverkehr zu rechnen wäre.
Mir war dennoch mulmig zumute, als wir uns zu seiner Praxis aufmachten. Sie lag in der Nähe des Wittenberger Platzes in einer Seitenstraße; eine Querstraße vom Tauentzien. Jill und ich standen an der Ecke Nürnberger Straße an einer Ampel zusammen mit anderen Passanten, die mit uns auf grün warteten.
Unvermittelt fing Jill an zu schreien und wurde krebsrot im Gesicht. Ich wusste ja von der Zeit des Stillens, dass die Geräuschkulisse, für die Jill verantwortlich zeichnen konnte, für menschliche Ohren schlicht nicht zum Aushalten war. So verwunderte es auch nicht, dass sich augenblicklich alle Passanten nach uns umdrehten und Jill mit großen Augen ansahen. Niemand hatte im Moment auch nur im Entferntesten daran gedacht, die Grünphase zu nutzen und die Kreuzung zu überqueren. Und es sollte sich gleich herausstellen, dass dieses wirklich ein glücklicher Zufall war.
Denn mit einem ohrenbetäubenden Donner schossen zwei extrem schnelle Sportwagen über die für Fahrzeuge rote Ampel, lieferten sich ein Rennen und versuchten sich auf dem Fußgängerüberweg zu überholen.
Dabei verlor einer der beiden Fahrer wohl die Kontrolle über sein Fahrzeug, berührte den Randstreifen, und bei dem Versuch die Spur zu halten, schoss er auf den Mittelstreifen zu, der beide Richtungsfahrbahnen mit einem Hochbeet mit Betoneinfassung trennte.
In dem Moment, wo sein viel zu schnelles Fahrzeug die Betoneinfassung berührte, zeigte sich, wie viel Leichtbau in solchen Sportwagen steckte, denn in alle Richtungen flogen Fahrzeugteile davon. Glücklicher Weise standen in diesem Bereich keine Passanten und ein noch glücklicherer Zufall war es, dass alle an der Kreuzung durch Jill abgelenkt worden waren und trotz der Grünphase niemand den Fußgängerüberweg betreten hatte.
In der Praxis kamen wir viel später an, denn wir mussten natürlich als Zeugen alle unsere Personalien angeben. Gunther jedoch hatte geduldig in seiner Praxis gewartet und hörte sich noch geduldiger die Geschichte von Chiòcciola, Jill und mir an. Dann überlegten wir, welche Impfungen trotz der ungewöhnlichen Situation wohl unverzichtbar schienen, welche wir zunächst als riskant einstufen sollten und vor allem: nach welchen Kriterien wir künftig Jill als gesund einstufen sollten, damit wir umgekehrt eine Krankheit rechtzeitig erkennen konnten.
Besonders gefiel mir, dass er zunächst beobachtete, mich in seine Überlegungen einbezog und nicht gleich mit einer Lösung daherkam. In diesem Zusammenhang weckte es bei mir Vertrauen, wenn er gestand, dass er auch noch keine Erklärung für etwas hatte, dass er sich aber Gedanken machen wolle. Mal ehrlich: Es ist doch unglaubwürdig, wenn mir ein Arzt sagt, er habe mehr Erfahrung mit Alien-Mensch-Hybriden als ich, oder? Schließlich habe ich Jill mehrere Monate gestillt, habe ihr beim Windeln-Wechseln länger und intensiver zwischen die Beine geschaut und mir meine Gedanken gemacht. Und ja, ich kenne auch Jills Mutter recht gut.
Gunther war glücklicher Weise nicht so schnell dabei, zum Skalpell greifen zu wollen. Er hat zunächst einmal alles genau angeschaut, dann hat er sich mit mir besprochen und überlegt, dass wir das zunächst intensiver beobachten sollten, bevor wir irgendwelche irreversiblen Entscheidungen treffen. Und dann hat er vorgeschlagen, dass wir ein Datenblatt anlegen, in dem wir alles sorgfältig notieren, was jetzt ist, was sich künftig verändern sollte, um so eventuell rechtzeitig erkennen zu können, wenn sich etwas zum Schlechten verändert. Dann wäre es sinnvoll zu reagieren, nicht jetzt in vorauseilendem Gehorsam.
Mir gefiel diese wissenschaftliche Herangehensweise.
Als ich abends Chiòcciola davon erzählte, seufzte sie tief und meinte: “Ich habe es ja fast befürchtet, nach den Erlebnissen um den Brüsseler Flughafen damals.”
“Was?”, wollte ich wissen.
“Asynchrone Empathie. Das kommt bei uns sehr selten vor. Viele von uns halten es für eine Form der Behinderung, denn es schließt meist die Fähigkeit aus, Gedanken zu senden und zu empfangen. Wenige andere halten es für eine besondere Gabe: Die Personen können sich meist sehr gut in Situationen, Ereignisse und andere Personen hineinversetzen.”
“Und asynchron?”, hakte ich nach.
“Ja, wie bei Jill. Eben nicht, wenn es passiert, sondern bereits vorher. So ausgeprägt wie bei Jill ist es aber selten”, ergänzte Chiòcciola.
“Du meintest eben ‘viele halten es für eine Behinderung’? Was meinen die anderen?”
“Es gibt einige wenige Gelehrte bei uns, die davon ausgehen, dass es ein uraltes Gen ist, das von unseren unbekannten Vorfahren in unserem Gen-Pool schlummert. Dafür sprechen ja auch die besonderen Fähigkeiten von Ashley, die ganz tief in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer hineinblicken kann, ohne ihre Fähigkeiten, Gedanken zu lesen, einzubüßen. Im Gegenteil! Beide Fähigkeiten schließen sich also nicht grundsätzlich aus, werden aber nur sehr selten gemeinsam vererbt. Und das asynchrone Merkmal scheint das zu begünstigen.”
“Dann ist Jill also auch in deiner Welt etwas ganz Besonderes?”, versuchte ich dem eine positive Wendung zu geben.
“Wenn du so willst, ja, etwas ganz Besonderes. Ja! Und wer weiß schon, was du noch alles an Besonderheiten beigesteuert hast.”
“Du meinst, auch ich habe etwas Besonderes in meinen Genen?”, wollte ich wissen.
“Die, die wir als besonders klug ansehen in meiner Welt, behaupten, dass unsere Vorfahren das, was sie vom Wesen ausgemacht hat, in all den Welten verteilt haben, in denen wir auf unseren Reisen Leben fanden. Wir haben nur keinerlei Erklärung, warum sie es taten.”
“Wie ein großes Puzzle?”
“Wie ein großes Puzzle.”