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Die Kindheit

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Jill entwickelte sich prächtig. Und mit zunehmendem Alter häuften sich die Situationen, in denen Jill sich freute, lachte oder auch weinte, bevor etwas passierte.

Ma fiel beim Geschirreinräumen ein Stapel Teller aus der Hand. Minuten vorher hatte Jill sich schon kreischend auf die Schenkel geschlagen.

Eine Spielkameradin fiel von der Schaukel und Jill war bereits ins Haus gerannt und kam mit einer Packung Pflaster heraus. Manchmal war das schon beängstigend. Aber wir waren uns zunehmend sicher, dass Jill eben etwas ganz Besonderes sei.

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Eines Sonntagmorgens saßen wir mit Ma und Pa am Frühstückstisch und plötzlich fing Jill an zu sprechen.

Insgeheim hatte ich ja die ganze Zeit gehofft, dass ich einen Vorteil hätte, und dass ihm Annika leichter über die Lippen käme als Chiòcciola. Ma hatte bestimmt auf ein erstes ‘Oma’ gehofft. ‘Ma’ hätte bei Chiòcciola und mir ja lediglich ein Unentschieden bedeutet. Naike wäre aber bestimmt ebenfalls froh gewesen und hatte mit ihrem Namen ja gute Chancen.

Es sollte aber anders kommen. Jill öffnete den Mund und rief: “A-U-I-O!”, sah uns an, nahm Weintrauben aus der Obstschale und ordnete sie paarweise an. Vor uns lagen 16 Zweierpaare säuberlich aufgereiht.

“A-U-I-O” rief Jill freudestrahlend, nahm die Weintrauben an sich und legte sie erneut in Zweierpärchen auf dem Tisch verstreut ab. “A-U-I-O!” Und Dann folgte ein “Schschtt”, das entfernt so klang, als ob eine E-Mail versendet wurde.

Wir sahen uns ratlos an.

Jill fing erneut an: “A-U-I-O, Schschtt”. Dann kam die Prozedur mit den Weintrauben. Fein säuberlich lagen sie wieder in Zweiergrüppchen auf dem Tisch verteilt.

“Ich glaube Jill will uns eine Botschaft zukommen lassen”, meinte Ma. “Das sehe ich auch so. Wenigstens begehen wir gerade nicht denselben Fehler wie bei Lassie und Flipper!”, war mein Kommentar.

Jetzt sehen mich alle ratlos an. Naike schaltete als erste: “Na, alle wissen, dass Lassie und Flipper unheimlich klug sind. Aber immer, wenn sie etwas Wichtiges mitzuteilen haben, stellen sich alle dumm und ignorieren, wie oft schon Menschenleben davon abhingen, dass man ihnen zuletzt vertraut hat. Immer und immer wieder ist die Welt am Anfang einer jeden Folge zuerst bodenlos dumm, um dann gegen Ende in letzter Sekunde zumindest halbwegs klug zu werden und auf den letzten Drücker die Bedrohten zu retten. In der nächsten Folge fängt das wieder von vorn an.”

“Klingt für mich wie Politik”, kam Pas sarkastischer Kommentar.

Naike nahm eine Weintraube und steckte sich diese in den Mund. Sofort wurde die fehlende Traube von Jill durch eine neue ersetzt.

Dann nahm sie eine aus einer Zweiergruppe und platzierte sie bei einer anderen, so dass diese eine Dreiergruppe bildete.

Sofort rief Jill wütend “A-U-I-O” und korrigierte den Fehler.

“Das sind immer Zweierpärchen. Insgesamt 32 Weintrauben. Für mich wirkt das irgendwie digital”, meinte Ma. “Könnte das eine Botschaft von Dennis sein?”

“A-U-I-O - mich erinnert das daran, dass meine Klassenkameraden in den Pausen immer von Raspberry Pi und Arduino reden. Das sind wohl so billige Mini-Computer, mit denen man Roboter bauen kann und so ‘n Zeug. Mehr weiß ich leider auch nicht, ist aber gerade bei den Jungs total angesagt. Könnte Jill versuchen ‘Arduino’ zu sagen?” “Du meinst, Dennis gibt gerade eine Online-Bestellung über 32 Arduinos auf. Geht er jetzt unter die Roboterbauer?”, führte ich den Gedanken weiter. “Wenn es das ist, dann fällt ja auf, dass diese 32 Arduinos paarweise angeordnet sind. Das muss doch etwas bedeuten.” Jill schlug sich vor Freude auf die Schenkel und rieft erfreut “Schschtt”. “Mich erinnert dieses ‘Schschtt’ irgendwie an das Geräusch, wenn man eine E-Mail bekommt oder versendet.”, meinte Ma. “Sechzehn Paare, E-Mail, Mini-Computer - könnte es sein, dass Dennis plant, eine E-Mail-Verbindung durch die Galaxie aufzubauen? Aber die Nachricht wäre doch 90.000 Jahre unterwegs, oder?”, überlegte ich laut. “Nicht wenn man die Falten benutzt”, korrigierte mich Chiòcciola. “Du meinst, er will am Anfang und am Ende jeder Falte einen Arduino platzieren, so dass sie als Pärchen die Nachricht durch die Falte senden und so die Zeit abkürzen, so wie ihr das mit den Weltraum-Eiern macht?”, überlegte Naike. “Das klingt nach Dennis”, meinte Ma. “Dann braucht man bestimmt außer diesen Arduinos noch eine Menge anderes Zeug”, wandte Pa ein. “Antennen, Stromversorgung. Macht euch doch mal schlau, was Dennis wohl alles gebrauchen könnte. Ich sagte doch, er ist ein talentierter Brückenbauer.” Damit war der gemütliche Teil des Sonntagsfrühstücks dann aber auch vorbei. Es hielt einfach niemanden mehr auf den Stühlen. Jill steckte sich eine Weintraube nach der anderen in den Mund und wirkte glücklich.

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‘Ob der Begriff Arduino zu schwer war für Jill?’, überlegte Dennis. ‘Ich finde deine Idee sehr klug! Du hast einen komplexen Gedanken so reduziert, dass ihn auch Jill übermitteln kann, das gefällt mir’, antwortete Ashley. ‘Aber jetzt, wo du deinen Wunschzettel übermittelt hast, sollten wir unser Weihnachtsgeschenk auf den Weg bringen.’ Und dann ließen sie gemeinsam eine rote, metallisch glänzende Kugel, etwa in der Größe einer Weihnachtsbaumkugel, in den Himmel steigen. ‘Erzählst du mir noch von dem Fest, das ihr in ein paar Tagen feiern werdet? Es scheint mir so geheimnisvoll und auch so widersprüchlich!’ ‘Gern! Und ja, widersprüchlich ist es in der Tat.’

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“Ist Jill ein Mädchen oder ein Junge?”, hatte Naike einmal vor einiger Zeit gefragt. Irgendwie hatten wir uns um die Frage gedrückt. Die Strampler hatten wir ja in unterschiedlichen Farben. Und nachdem Jill anfing zu krabbeln, versuchten wir, die Bekleidung möglichst geschlechtsneutral zu halten.

Selbst auf die immer wieder gehörte Frage “Junge oder Mädchen?” hatten wir uns angewöhnt zu antworten “Wir lassen uns überraschen!”, obwohl wir insgeheim wussten, dass wir irgendwann mal würden ‘Stellung beziehen’ müssen. Doch im Moment schien es uns klug, die Frage einfach offen zu lassen.

Dennoch ertappten wir uns oft dabei, dass wir, sofern wir von Jill redeten, sie zum Mädchen machten, indem wir gedankenlos von ‘ihr’ redeten. War das eine Beeinflussung, oder lag es lediglich an unserem frauenlastigen Haushalt, bei dem Pa wirklich in der Minderheit war und seit Dennis in der anderen Welt lebte, noch mehr auf verlorenem Posten stand. Zumal sich ja die Welt auch ohne ihn weiterentwickelte, so selten, wie er zuhause war.

Nur wie erkennt man bei einem Kind im Krabbelalter, ob es eher ein Junge, oder eher ein Mädchen ist? Und ist es wirklich zwingend, dass unser Alien diese Zweiteilung mitmacht. Chiòcciola war da auch nicht wirklich hilfreich. Als ich sie fragte, ob Jungen und Mädchen in ihrer Welt unterschiedliches Spielzeug haben, meinte sie nur gelangweilt: “Wir haben nur Kinder, die beides sind. Und sie spielen. - Meist miteinander.” Das war natürlich alles keine Hilfe. Und wenn man aufmerksam durch die Spielwarenabteilungen ging? Welche Schlüsse wollte man wirklich daraus ziehen? Bei einem unserer Test-Käufe, die Jill natürlich immer großen Spaß machten, landete ein rotes Feuerwehrauto neben einem Teddy und einem pink-farbenen Sport-Cabrio aus der Kollektion der überproportionierten Anziehpuppe in unserem Einkaufswagen. Das Cabrio wurde eingepackt mit den Worten “Oma-Auto”. Das Auto von Ma war leuchtend blau! War Jill etwa farbenblind? Machte ich mir zu viele Gedanken? Wieder zuhause angekommen, schnappte sich Jill eine von Naikes alten Puppen und versuchte sie den ganzen Nachmittag zu füttern. Ich war ratlos und brach den Versuch ab.

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Ich hatte beim Abi einen Klassenkameraden, Fridolin, der lange Zeit sehr intensiv mit Dennis zusammenhing. Dennis hatte, soweit ich mich erinnerte, immer mit Respekt von ihm gesprochen. Daraus folgerte ich, dass er wohl von Computern ebenfalls eine Menge Ahnung haben müsste. Vielleicht tickte er ja sogar auf einer ähnlichen Wellenlänge wie Dennis und konnte mir mit dem Arduino-Projekt helfen. Zu viel wollte ich natürlich nicht verraten. Also brauchte ich einen Plan. Und noch mehr benötigte ich zuvor natürlich eine Adresse oder Kontaktmöglichkeit. Aber jemand mit dem Vornamen Fridolin musste sich doch im Großraum Berlin finden lassen?

Ich versuchte es im Internet mit einer Telefonbuchabfrage. Vergeblich. Nun, vielleicht war Fridolin ja gar nicht mehr im Raum Berlin? Also spannte ich die sozialen Netzwerke ein. Und richtig. Ich fand einen Fridolin mit dem passenden Nachnamen in San Franzisco. Die E-Mail-Adresse gehörte zu einem recht bekannten Technologie-Unternehmen. Das konnte ja vielleicht passen. Ein Bild war nicht dabei, schade! Also versuchte ich mein Glück mit einer Mail, die nicht zu viel verriet.

“Hallo Fridolin,

Wenn Du der Fridolin bist, den ich hoffe zu erreichen, dann kannst Du mit den Namen Annika und Dennis aus Brandenburg etwas anfangen.

Ich habe ein Problem mit Arduinos. Dennis wollte für ein Projekt mehrere Arduinos zugeschickt bekommen. Ich habe aber noch Fragen zur Konfiguration und kann ihn aber dummer Weise nicht erreichen. Leider habe ich nur ein recht geringes Zeitfenster, um ihm die Sendung zukommen zu lassen. Und ich möchte ihm ungern etwas Falsches schicken.

Vielleicht kannst Du mir ja kurz helfen.

Ciao

Annika”

Dann war Warten angesagt...

“Hallo Annika,

Schön, von Dir zu hören. Dennis ist in Geheimprojekten unterwegs, der Schlingel? Arduino passt zu ihm. Vom RasPi hat er nie viel gehalten.

Ja, mich hat es an die Stanford verschlagen. Überraschendes Stipendium. Kann man nicht ‘nein’ zu sagen. Allerdings bin ich mindestens die Hälfte meiner Zeit bei der Firma, die Du in meiner Mail-Adresse siehst. Wir arbeiten hier an dem nächsten großen Ding. Und was für ein Ding! Hat was mit Kommunikation und Mobilität zu tun. Mehr darf ich leider nicht sagen.

Wozu braucht Dennis denn die Arduinos?

Cheers,

Fridolin”

Ich hatte offensichtlich den richtigen Fridolin erwischt. Nur wie sollte ich das Problem am besten beschreiben? Ich durfte ja nicht zu viel verraten. Also versuchte ich Folgendes:

“Hallo Fridolin,

Schön dass Du so schnell geantwortet hast. Ja, zu dem Projekt von Dennis darf ich leider auch nicht viel sagen. Außer vielleicht: Es ist auf einer Insel und benötigt 16 Arduino-Paare. Wenn ich seinen Hinweis richtig lese, dann soll mit den Paaren ein Kommunikationsnetzwerk aufgebaut werden. Es geht wohl um eine Kombination von größeren und kleineren Distanzen. Kannst Du mit diesen Informationen etwas anfangen?

Ciao

Annika”

Und dann wartete ich - aber gar nicht so lange, wie ich befürchtet hatte.

“Hallo Annika,

Also - Kommunikationsnetze mit dem Arduino, das sollte gehen. Zumindest würde man das so ohne allzu viel Stromverbrauch schaffen.

Im Anhang findest Du eine Liste mit den Vorschlägen mit den entsprechenden Bestellnummern bei Conrad. In Kreuzberg gibt es eine riesige Filiale, in Steglitz eine kleinere, die aber auch gut sortiert ist. Wenn es nicht so zeitkritisch ist, kann man das auch alles Online bekommen.

Es gibt Boards mit einem oder mit zwei Prozessoren. Die sind teurer, benötigen etwas mehr Strom, können aber auch zwei Kommunikationsstränge gleichzeitig verarbeiten. Ich würde die nehmen.

Die Erweiterungen werden ‘Shields’ genannt. Hier benötigt man dann eventuell welche für Funkverkehr, wenn man nicht alles per Kabel anschließen will. Ich habe Dir mal drei rausgesucht, die verschiedene Standards unterstützen. Ich würde bei denen zum Teuersten greifen. Ist einfach leistungsfähiger.

Wenn die Insel kein eigenes Kraftwerk hat, könnten vielleicht Solarmodule hilfreich sein. Ich habe mal zwei Typen auf die Liste gesetzt. Das teurere erzeugt dreimal so viel Strom.

Und die Protokolle über den Programmablauf werden oft auf SD-Karten gespeichert, wie Du sie auch im Fotoapparat hast. Ist eigentlich Standard-Ware, aber vielleicht kann man die auf der Insel schlecht besorgen. Pack ihm einfach 32 von den Dingern ins Paket.

Ach, ja, wer funken will, benötigt eine Antenne. Ich habe die, mit der ich die besten Ergebnisse erzielt habe, mit auf die Liste gesetzt.

Cheers,

Fridolin”

Klasse, ich hatte eine Einkaufsliste! Ich bin dann gleich in den besagten Online-Shop gegangen. Nachdem ich die Liste zusammengeklickt hatte, staunte ich nicht schlecht. Es kamen dann doch über 1.000 Euro zusammen. Da musste der Familienrat tagen.

Pa traf ich als ersten. Als ich ihm den Gedanken mit dem Familienrat unterbreiten wollte, hielt er mich gleich zurück. “Bei dem Betrag entscheide ich eigenmächtig, hätte ich früher viel häufiger machen sollen. Die Idee mit den Solarmodulen ist gut. Wer weiß, ob die da Strom haben. Pack’ noch ein großes Solar-Modul hinzu, dass ausreicht, seinen Laptop mit Strom zu versorgen. Und wenn du ihm ohnehin Datenträger schickst, dann könnten wir da vielleicht noch eine Videobotschaft drauf sprechen? Was meinst du?”

Und damit war der Drops gelutscht. Die Bestellung wurde aufgegeben. Wir reichten mein Smartphone im Kreis herum und sprachen für Ashley und Dennis eine nette Videobotschaft, die wir auf die Karten kopierten.

Dann holte ich eine der Kugeln hervor, die Ashley zurückgelassen hatte, Chiòcciola ließ sie wachsen und wir verstauten alles in ihrem Inneren.

Ma hatte noch die Eingebung, dass Dennis ja so gern Pizza aß. Also kam sie mit einem Korb prall gefüllt mit 550er Mehl, Trockenhefe, Tomatenmark, und ihrer neuesten Errungenschaft - Soja-Mozzarella - aus dem Keller zurück. Sie wusste ja, dass Ashley sich vegetarisch ernährte und alles wurde vorsichtig oben auf den Arduino-Berg gepackt. Gemüse werden sie dort ja hoffentlich haben, war ihre Hoffnung, dass der Junge sich halbwegs gesund ernährte.

Dann ließen wir die Kugel gegen Mitternacht in unserem Garten in den Weltraum aufsteigen. Wie wenig dramatisch das wirkte! Wie ein riesiger Luftballon, der langsam in den Himmel stieg und dann immer schneller wurde.

Alien, Mutter, Kind

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