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Kapitel 3

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Etwa einen Tagesritt von Druht entfernt befand sich die Hauptstadt des Reiches, zu dem das Dorf gehörte. Sie trug den klangvollen Namen Glista, und Hauptstadt war sie aus zwei Gründen: Zum einen war sie die größte Stadt im Reich, und zum anderen residierte der König dort. Er hieß Edwin der Cholerische und gereichte Glista nicht eben zur Zierde. Natürlich war es ganz schön, wenn eine große und einflussreiche Stadt sich auf die Fahnen schreiben konnte, den König zu beherbergen, aber den meisten Glistanern wäre es lieber gewesen, wenn es sich nicht um Edwin gehandelt hätte. Der Mann war einfach indiskutabel: Von schlechtem Stil und unmöglichem Benehmen. Allerdings hatte er auch eine äußerst schlagkräftige Truppe um sich geschart, und seine Skrupel, was Gewaltanwendung betraf, waren so derartig gering, dass keine Kritik je sein Ohr erreichte.

Momentan war Edwin wütend. So stinkwütend sogar, dass er seit dem Frühstück drei Folterungen und zwei Enteignungen angeordnet hatte, die ihn aber nicht hatten erheitern können. Sein gesamter Hofstaat war entsprechend aufgebracht und verängstigt. Stets war jeder einzelne bemüht, dem König keinen Grund für einen Zornesausbruch zu geben, und nun kam die Sonne - bzw. sie kam nicht - und dachte, sie könne quer schießen.

Da der König seine Launen an seinen Untergebenen auszulassen pflegte, taten eben diese Untergebenen ihr Möglichstes, seiner Stimmung gerecht zu werden: Die Damen fielen reihenweise in Ohnmacht, die Hofnarren machten bösartige Späße über die Sonne und bluteten so leise wie möglich, als Edwin nicht darüber lachen konnte, die Soldaten diskutierten über einen Blitzkrieg gegen die Sonne - jeder nach seinen Möglichkeiten. Dass sie sich dabei alle völlig kopflos verhielten und niemandes Tun dazu angetan war, die Situation an sich zu verändern, fiel bei soviel Hingabe weder auf noch ins Gewicht.

Allein ein einziger Mensch dachte angestrengt nach, wälzte Bücher, unterhielt sich mit verschiedenen Gelehrten, fügte alle Puzzleteilchen zusammen, bekam einen Geistesblitz, traf alle nötigen Vorbereitungen und stahl ein Pferd.

Der Gott Der Omnipräsenz lehnte lächelnd an der Schlossmauer und blickte der kleiner werdenden Staubwolke nach. Damit hatte er nicht gerechnet, aber die Geschichte hatte gerade eine weitere Facette hinzugewonnen. Wie vergnüglich!

*

In Druht brach ein weiterer Tag an, der der Nacht glich: Mild schien der Mond auf die karge Ebene, die das stille Dorf umschloss. Dann und wann verschwand er hinter einer Wolke, aber das war auch schon alles an Abwechslung. Leise fragend tschilpten einige Vögel in den wenigen Bäumen, ehe ihnen die andauernde Finsternis wieder befahl, den Kopf unter den Flügel zu stecken. Nur die Eulen waren nach wie vor unterwegs, übermüdet und überfressen, und fragten sich träge, wann denn endlich Schlafenszeit sei.

Helge und Salomo saßen nach dem üblichen morgendlichen Ritual im flackernden Schein der Petroleumlampe in der Werkstatt und besohlten in friedlichem Schweigen Schuhe, während ihre Gedanken auf vollkommen unterschiedlichen Pfaden wandelten.

Salomo durchdachte selig all die Neuerungen, die der Spezialleim ihm ermöglichen würde, den er gerade entwickelte: Man stelle sich nur vor, vielleicht würden bald gar keine Nägel mehr nötig sein! Und er hatte schon überlegt, ob man dem Leim nicht eine besondere Geruchsnote beimischen könnte, eine, die den Kunden den wundervollen Geruch der Schuhmacherwerkstatt mit nach Hause gibt, damit sie alle sich daran ergötzen könnten. Sein Umsatz würde sich sicherlich verdreifachen!

Während Salomo sich dergestalt eine wundervolle Zukunft ausmalte, durchstreiften Helges Gedanken einmal mehr völlig schuhmacheruntypische Gefilde. Die Abwesenheit der Sonne... dachte er begeistert. Was kann man als Poet daraus nicht alles machen? Genau, ein großes Epos würde es werden, ein Epos, in dem er seine Auserwählte mit der Sonne vergleichen könnte, und am Ende hätte er nicht nur herausgefunden, was es mit der Sonne auf sich hatte, sondern auch das Herz des Mädchens gewonnen. Er seufzte leise. Das wäre richtig große Kunst! Sofort begann er, gedanklich mit Worten zu experimentieren:

- So wie das Rad der Sonne

aus seiner Bahn gerollt,

so fehlt mir dein Antlitz,

selbst wenn es... äh... schmollt? -

Nein, neinneinnein, ganz schlecht.

Helge schüttelte sich ärgerlich, schämte sich kurz vor sich selbst und versuchte es noch einmal:

- Nicht fehlt mir die Sonne,

seit sie nicht mehr scheint,

doch als du mich verlassen,

da hab ich geweint.-

Hm, schon besser. Nicht wirklich gut, aber besser. Natürlich hatte das noch nichts von einem großen Epos, aber immerhin war es ein Anfang.

Nur war Helge noch nie von einer Frau verlassen worden, jedenfalls nicht im Sinne seines Gedichtes. Zwar könnte man im Falle seiner Mutter von einer Art des Verlassens sprechen, aber erstens hatte er sie gar nicht gekannt, und zweitens schwebte ihm da auch ein weibliches Wesen vor, an das ihn keine Blutsverwandtschaft band. Und einer solchen Frau war er nie zuvor so nahe gekommen, dass sie ihn auf die im Gedicht angedeutete Art und Weise hätte verlassen können. Um genau zu sein, hatte er nur sehr verschwommene Vorstellungen davon, wie ein derartig gutes Kennen auszusehen hatte. Demnach konnten die Zeilen, die er über dieses Thema verfasste, einfach nicht gut werden: Es lag nicht der richtige Schmerz darin.

Er dichtete noch etwas weiter, war aber nie wirklich zufrieden. Schließlich ließ er es ganz bleiben und wandte sich anderen wichtigen Überlegungen zu. Seit einiger Zeit hatte er die Existenz von Mädchen wahrgenommen. Natürlich hatte er vorher gewusst, dass es sie gibt: Sie traten meist in Rudeln auf und waren offenbar ganz mit Kichern angefüllt. Lange Zeit hatte er sie kaum beachtet, doch nun nahm er sie plötzlich in aller Deutlichkeit wahr, wenn sie kamen, um Schuhe zu bringen oder abzuholen.

Die Mutter des Schmieds hatte Helge einmal heimlich ein Buch zugesteckt, in dem Gedichte standen. Sie hatte Mitleid mit dem Knaben, der offenbar eine lyrische Ader hatte, und sie hatte keine Ahnung, was sie damit anrichtete. Sie stellte Helges Welt völlig auf den Kopf, unwiederbringlich und komplett. Es waren wundervolle Gedichte in dem Band, die Helges Gedankenwelt und seinen Blick auf das Leben für immer verändert hatten. In ihnen wurden jede Menge Mädchen beschrieben, eines bezaubernder als das andere, und Helge hatte die Verse allesamt auswendig gelernt.

Von dem Bild, das Helge aus diesen Gedichten von jungen Frauen gewonnen hatte, wichen die Dorfmädchen zwar ab (keine besaß Haare wie gesponnenes Gold, Augen wie Bergseen, eine Figur wie ein Reh oder die Schönheit des Morgensterns - dabei stand es so und nicht anders überall in dem Buch), doch es waren unleugbar Mädchen. Mädchen mit Grübchen und langen Haaren und lachenden Augen und schlanken Fingern und, hm, Rundungen, wo er selbst keine hatte. Was ihn an diesen Geschöpfen beunruhigte, war die Tatsache, dass ihm immer mehr aufging, dass sie so ganz anders waren als Jungs. Nicht, dass er das nicht von jeher gewusst hätte, nein, nur befielen ihn mit einem Male Zweifel, ob eine große, unerfüllte, keusche Liebe tatsächlich so erstrebenswert wäre.

Vorsichtig blickte er zu Salomo hinüber. Der wäre sicherlich nicht eben der geeignete Ansprechpartner für sein Anliegen, aber es war nun einmal niemand anderes hier. Helge räusperte sich.

"Onkel, was weißt du von Frauen?"

Der Angesprochene blickte überrascht und missmutig auf. "Frauen? Sieh lieber zu, dass du dich um deine Schuhe kümmerst", knurrte er brüsk. Doch manchmal konnte Helge, ohne es zu wissen, wie ein bettelnder Welpe gucken. Salomo war völlig außerstande, diesem Blick zu widerstehen, und er dankte im Stillen den Göttern dafür, dass dem Jungen das nie aufgegangen war, sodass er den Gesichtsausdruck nicht manipulativ einsetzen konnte. In diesem Augenblick aber, als sich die Enttäuschung über die rüde Antwort auf dem jungen, schmalen Gesicht abzeichnete, wurde Salomo sofort wieder weich, und er lenkte ein, obwohl er genau wusste, dass das eine wirklich dumme Idee war.

"Nun gut, ich erzähle dir etwas über Frauen, aber du machst dabei weiter, klar?"

Helge nickte eifrig, und Salomo begann zu sprechen, den Blick in die Vergangenheit gerichtet. "Frauen sind seltsam, sehr seltsam. Du findest eine hübsch und möchtest sie fragen, ob sie dich auf das nächste Dorffest begleiten will? Du wirst Qualen durchstehen, bis du den richtigen Zeitpunkt findest, weil sie immer von ihren kichernden Freundinnen umgeben ist. Schließlich fasst du dir ein Herz und fragst sie trotzdem. Wenn sie nein sagt, kichern alle noch lauter, und zwar über dich. Und wenn sie ja sagt - so weit, so gut, aber das war der einfachste Teil.

Am Tag des Festes stehst du zur vereinbarten Zeit vor ihrer Tür. Sie ruft dir zu, sie bräuchte noch einen Moment - und etwa eineinhalb Stunden später kommt sie heraus. Wenn du zwischendurch geschlafen hast oder mal eben einen trinken warst, hast du sowieso verloren, wenn nicht, folgt der verwirrende nächste Teil: Sie ist ein vollkommen anderer Mensch geworden! Unangenehm blasses Gesicht, hektisch-rote Flecken auf beiden Wangen, und ihre Lippen sehen aus, als habe sie draufgebissen. Um ihre Augen liegen dunkle Schatten, wie du sie sonst bisher nur bei deinem alten Nachbarn gesehen hast, der ein Magengeschwür hat. Und erst die Haare... du bist sehr versucht, nachzuschauen, ob ein Vogel sein Ei in dieses Gebilde gelegt hat."

Salomo hieb nachdrücklich einen neuen Nagel in die Sohle des Schuhes, den er gerade bearbeitete.

"Dann bist du erst geschockt, doch es kommt noch schlimmer. Sie benimmt sich nicht so halbwegs vernünftig wie sonst, nein, sie kichert blöd, hebt den Saum ihres unpraktischen Kleides ein Stückchen, dreht sich um sich selbst und fragt: 'Wie sehe ich aus?' Und hier, mein Junge, darfst du nie, nie, niemals die Wahrheit sagen! Glaube mir, ich habe es einmal getan."

Wie in schmerzhafter Erinnerung hob er die linke Hand an die Wange.

„Ich bin dann allein zum Dorffest gegangen.“

Helge hob erstaunt den Kopf. Sein Onkel hatte einmal eine Frau gekannt, eine ganz richtige Frau? Das war ihm neu. Salomo bemerkte den Blick und knurrte: "Mach weiter, Junge!"

Erst dachte Helge, das Gespräch sei beendet, doch nach einer Weile fuhr sein Meister fort: "Das Schlimmste an ihnen ist, dass sie nicht logisch sind. Man kann sie einfach nicht verstehen. Lass dir erzählen, Junge, was einst... ähm... einem Freund von mir passiert ist: Er war ein junger Mann, sah ganz passabel aus und war mit einer Frau verabredet. Er wusste inzwischen recht gut, in welchen Situationen man lügen muss, und so dachte er sich nichts Böses, als er an die Tür der Frau klopfte und sich auf eine längere Wartezeit einrichtete. Er hatte die Blumen sogar in einer Vase mitgebracht. Doch diesmal kam alles anders. Anstatt zu rufen, riss die Frau die Tür auf (sie sah aus wie immer, nur wütender), quietschte mit blitzenden Augen: 'Ihr seid doch alle gleich', gab m... meinem Freund eine schallende Ohrfeige und warf die Tür wieder zu.

Später stellte sich heraus, dass ein paar Stunden vor der Verabredung eine Freundin diese Frau aufgesucht hatte, um ihr von den Missetaten eines Bekannten meines Freundes zu berichten. Die Frau war so ergriffen, dass sie meinem Freund aus Solidarität auch den Laufpass gab, aber nur," hier meinte Helge leises Zähneknirschen zu vernehmen, "um einige Wochen später mit eben jenem Mann auf ein Fest im Nachbardorf zu gehen, über den ihre Freundin sich beklagt hatte." Salomos Hammerschläge wurden fester. "Mein Freund hat danach den Frauen ganz abgeschworen, und ich rate dir, nimm dir ein Beispiel an ihm. Frauen machen bloß Ärgauu!"

Salomos sonst so sichere Hand war abgerutscht und der Hammer auf seinem Daumen gelandet. Helge war zutiefst beeindruckt. Frauen mussten tatsächlich schlimm sein, wenn allein die Erinnerung an die Leiden anderer Salomo so aus der Bahn werfen konnte. Und wer, fragte er sich, war dieser mysteriöse Freund, dessen Schicksal seinen Onkel so sehr beschäftigte?

Vorsichtig warf er einen Blick in die Ecke, in der Salomo kauerte und leise fluchend seinen Daumen untersuchte. Er zuckte zusammen, als der Verwundete den Blick hob und polterte: "Nie wieder sprichst du mich auf dieses Thema an, hast du verstanden?"

Es klopfte an der Haustür - für Helge die Rettung aus einer unangenehmen Situation. Er sprang auf und wich zur Tür zurück.

"Verstanden? Ja, sicher, Onkel, nein, ich spreche dich nie mehr darauf an... es hat geklopft!" Und er floh aus der Werkstatt, mitten hinein in das Abenteuer seines Lebens.

Schein oder Nichtschein

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