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Kapitel 4

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"Sie ist WAS?!!" brüllte Edwin der Cholerische. Der Diener vor ihm wich mit angstverzerrtem Gesicht zurck. Zahlreiche Narben an ihm zeugten von seiner langjährigen Tätigkeit als Überbringer schlechter Nachrichten. Da aber auch die Wachen hinter ihm ihren normalen Platz gegen einen viel weiter hinten im Saal eingetauscht hatten, konnte er sich hinter niemandem verstecken. Allein auf weiter Flur blieb er gottergeben stehen und hoffte wider besseres Wissen das Beste.

"Sie ist... ähm, weg, Herr, wenn Euer Durchlaucht erlauben...", stotterte er.

"Ich erlaube NICHT!", donnerte Edwin ihn an. "Wie ist sie überhaupt hier herausgekommen?"

Gequält blickte der Diener zur Seite.

"Sie... sie hat Welpe mitgenommen, Hoheit, und ist mit ihm über die Palastwachen gesprungen."

Bei Welpe handelte es sich um das beste Jagdpferd des Königs. Zu seinem Namen und seiner Schnelligkeit war es gekommen, weil es von einer Jagdhündin großgezogen worden und die ersten Jahre über auf der Jagd bei der Meute mitgelaufen war. Dann war irgendeinem Freigeist - die Leute auf Glandor gewöhnten sich nur schwer an Veränderungen - aufgefallen, dass es sich bei Welpe um ein Pferd handelte, und es war auf dessen nachdrücklichen Wunsch hin als Kuriosität an des Königs Hof gekommen.

Edwin sprang auf, stieß den Diener beiseite und brüllte nach seinem ergebenen Hauptmann, der Sekunden später eifrig erschien. Sein Name war Brontus, und genau so sah er auch aus.

"Sie ist also weg, ja? Nimm ein paar Männer und bring sie mir zurück! Und Welpe auch!"

Brontus' kleine Augen bekamen einen freudigen Glanz. Er salutierte zackig und verließ den Saal, während Edwin noch etwas einfiel.

"Brontus", rief er dem Davoneilenden nach. "Bring sie unverletzt zurück!"

*

Helge stolperte durch die Küche, öffnete die Tür und erstarrte.

Dann schloss er sie wieder, um sie erneut zu öffnen, vorsichtig diesmal.

Nein, es war keine Sinnestäuschung gewesen.

Im Mondschein vor ihm stand ein Mädchen.

Mehr als das.

Sie war ein fleischgewordenes Gedicht. Ein sehr energisch aussehendes Gedicht. Glänzende Locken kringelten sich unter einem Kriegerhelm hervor, die Bergseen-Augen blickten gebieterisch, eine Rüstung - halb Leder, halb Stahl - umhüllte die schlanke Gestalt. In der einen Hand hielt sie die Zügel eines mächtigen Pferdes, die andere ruhte locker auf dem Heft ihres Schwerts.

Helge öffnete den Mund, um zu sagen: "Nun weiß ich, warum die Sonne nicht mehr scheint: Sie schämt sich, denn ihre Schönheit verblasst neben der deinen!" Leider war seine Zunge noch zu überrascht, und was er tatsächlich sagte, klang eher nach "grllnng".

"Ja, sicher", erwiderte das Gedicht mit einer Stimme, die Helge einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. "Ich wollte fragen, ob du uns beiden ein Obdach für die Nacht bieten kannst? Mein Pferd und ich sind müde."

"Nein, das kann er nicht", erklang Salomos wütende Stimme. Den Daumen im Mund, erschien er hinter seinem Neffen, erblickte das Gedicht und erstarrte. Langsam ließ er die Hand sinken, und in seine Augen trat ein etwas dümmlicher Ausdruck.

"Ich, äh, ich wollte sagen, dass er das nicht entscheiden kann, da es sich hier um mein Haus handelt. Tritt doch ein! Helge, kümmere dich um das Pferd, bring es zu Hengst und Stute in den Stall!" Salomos Pferde hießen tatsächlich so. Kreativität war nun einmal nicht seine Stärke.

Das Gedicht drückte Helge die Zügel in die Hand und schenkte ihm ein dankbares Lächeln, ehe sie sich Salomo zuwandte. "Das ist sehr nett von dir, danke. Gestattet, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Hera, und ich bin Krieger und Abenteurer." Meister und Lehrling schwiegen verwirrt und versuchten, das Gehörte mit der energischen kleinen Person gegenüber in Einklang zu bringen. Schließlich platzte Helge heraus: "Aber... aber du bist ein Mädchen!" Hera fuhr zu ihm herum, in ihren blauen Augen blitzte es kriegerisch auf, als sie die Hände in die Hüften stemmte. "Ich bin eine Frau, ja. Und es ist albern, dass nur Männer gewisse Berufe ergreifen dürfen. Nebenbei, wer bist du?"

"Helge", sagte Helge und kam sich blöd vor.

Ein versöhnliches Lächeln erschien auf Heras Gesicht. "Ach, du bist auch emanzipiert?"

Sie tätschelte den Hals des Riesenrosses. "Das hier ist Welpe. Er hat Durst!" Helge sagte: "Oh, ja, sicher, hätte ich auch, ich meine, hab ich auch, kann ich verstehen, echt..." und führte Welpe in den Stall. Als er ihn versorgt und sich vergewissert hatte, dass Hengst und Stute ihn freundlich anschnaubten, lief er schnell zurück zum Haus.

In der Küche saß Hera Salomo gegenber und ließ sich das Mahl schmecken, das er ihr bereitet hatte. Helm, Schwert, Brustharnisch und Beinschienen hatte sie abgelegt und sah nun aus wie der schönste Engel, der jemals braune Lederkleidung getragen hatte. Sie mochte wie Helge etwa sechzehn Jahre alt sein, doch war sie es auf völlig andere Art und Weise. Man kann mit sechzehn sehr kindlich sein oder sehr erwachsen. Wärend Helge sich irgendwo zwischen "kindlich" und "nicht mehr ganz so kindlich" befand, hatte Hera offenbar alle unschlüssigen Stufen des Sechzehnseins im Sturmschritt genommen und thronte nun bei "Wehe, du nennst mich Kind!" Augenscheinlich hatte sie Salomo gerade den Zweck ihrer Reise erklärt, denn er starrte sie offenen Mundes an.

"Was hast du vor?" fragte er verstört.

Hera schluckte einen Bissen herunter und wiederholte mit ruhiger Stimme: "Ich will herausfinden, warum die Sonne nicht mehr scheint, und etwas dagegen unternehmen. Die Dunkelheit stört mich."

Helge tat es seinem Onkel nach und ließ die Kinnlade sinken. Schließlich räusperte Salomo sich und fragte behutsam, wie man mit Verrückten zu sprechen pflegt: "Nun, was hast du denn vor? Ich meine, du kannst doch nicht einfach so ins Blaue... äh, Schwarze hinein reiten, oder? Wo willst du denn anfangen?"

"Ich habe einige Anhaltspunkte, und ich bin zuversichtlich, auf meiner Reise noch weitere zu finden. Wenn es euch recht ist, würde ich gern bald schlafen. Ich muss früh weiter, sonst holen sie mich noch ein."

"Wer, sie?" fragte Helge aufgeregt. Er fand bisher alles recht undurchsichtig, aber auch immens spannend. Hier bahnte sich offenbar ein Abenteuer an, und das Mädchen hatte es ganz allein begonnen. Woher nahm sie bloß den Mut? Also, nicht zum Abenteuer an sich, sondern zum Losreiten? Was sagten ihre Eltern dazu? Wer kümmerte sich um dieses entzückende Geschöpf? Ob sie ihn vielleicht mögen könnte? Und wer sind diese "sie"?

Gespannt lehnte er sich vor, um die abenteuerliche Geschichte zu erfahren und um einen besseren Ausblick zu bekommen.

"Ach, nur ein paar Leute, denen mein Vorhaben nicht zusagt."

Heras Stimme klan betont desinteressiert. Sie gähnte ganz bezaubernd, worauf Salomo seinen Neffen nach Decken und Kissen schickte.

Als es im Haus schließlich ruhig wurde, lag Helge lange wach und starrte in die Dunkelheit. Seine wild kreisenden Gedanken und sein seltsam laut klopfendes Herz hinderten ihn am Einschlafen.

Schein oder Nichtschein

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