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Irgendwann 2415, Sky-Lounge

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht Roboter, die futuristische Drinks zum Empfang reichen, oder Autos, die am Fenster vorbei durch Wolken fliegen, aber sicher nicht das!

Bewegungslos stehe ich im Cube und versuche, Kay in den Massen der augenscheinlich kostümierten Menschen auszumachen. Sie stehen dicht gedrängt in einem Raum mit weiß verputzten Wänden, zwiebelförmigen Torbögen und kleinen Caféhaustischchen, auf denen stoffbezogene Lampen stehen. An der Decke hängen orientalische Laternen, ein Klavier steht mitten im Raum, auf dem ein dunkelhäutiger Pianist sanfte Töne anschlägt, rechts von mir ist ein blank polierter Tresen, fransenbesetzte Barhocker stehen davor, Tabletts mit leise klirrenden Whiskygläsern, Menschen im Smoking mit Fliege oder in Uniform mit Orden behängt, sogar Frauen in arabischen Gewändern.

Himmel! Was soll das? Und wo ist Kay?

Langsam trete ich aus dem Cube heraus und blicke mich um. Niemand nimmt Notiz von mir, dabei müssen über 100 Menschen in dieser irrwitzigen Lounge sein. Ich stelle mich auf die nackten Zehenspitzen, kann aber nicht weiter blicken als bis zu einem breiten Rücken im weißen Smoking. In Gedanken verfluche ich meine 1,62 m.

»Mr Oscar, Mr Oscar!« Eine umwerfend aussehende Frau mit rostbraunem Haar und eng anliegendem Abendkleid flattert an mir vorbei. »Mr Oscar!«, ruft sie wieder. »Bitte stellen Sie mich Mr Raymond vor. Man lässt mich einfach nicht zu ihm.«

Mein Herz setzt kurz aus. Kay ist also hier. Wo? Schnell dränge ich mich an einem Kellner vorbei, der anscheinend hinter mir aus einem weiteren Cube getreten ist und eine fünfstöckige Torte vor sich herschiebt, schlängle mich zwischen eng stehenden Grüppchen hindurch, bis ich die Schönheit und Sam Oscar erreiche, der sich als Scheich mit Turban verkleidet hat.

»Mr Oscar!« Meine Stimme klingt atemlos, geradezu gehetzt.

»Oh, Miss Hill. Wie schön.«

»Wo ist Kay?«, platze ich heraus. Ich kann nicht mehr warten. 2 Jahre waren unerträglich, die letzten Sekunden aber werden zur Höllenqual, jetzt, da er in so greifbarer Nähe ist.

Ich bemerke, wie mich die Schönheit von oben bis unten mustert, und komme mir plötzlich furchtbar hässlich neben ihr vor, mit meinen nackten Füßen, die zwischen den Zehen dreckig sind, meinem locker zurückgebundenen Pferdeschwanz und dem schlichten Isovantage-Anzug. Aber Sam Oscar kommentiert meinen Aufzug mit keinem Wort. Vermutlich ist es ihm noch nicht mal aufgefallen.

»Wie gefällt Ihnen Rick’s Café?«, fragt er mich stattdessen.

»Was?«

»Casablanca! Der bekannteste Film Ihrer Zeit, oder? Meine …« Oscar räuspert sich. »Unsere bezaubernde Jill hier hat jedes Detail nacherschaffen lassen, damit Sie sich wie zu Hause fühlen.«

»Sie müssen wirklich besser recherchieren«, murmele ich, kaum bei der Sache, denn jetzt habe ich Kay entdeckt. Nur wenige Meter entfernt hat sich für einen Augenblick eine Tür geöffnet, um den Kellner mit der Torte einzulassen. Der kurze Blick hat genügt, damit ich mir sicher bin.

»Bringen Sie mich zu ihm.« Fordernd sehe ich Sam Oscar an.

»Das hatte ich sowieso vor«, antwortet er lächelnd und stellt sein quadratisches Whiskyglas auf eines der Tischchen. »Dann ist jetzt wohl der Moment gekommen, in dem Sie Ihren Schützling kennenlernen. Hat Cleo Ihnen die …?«

Ich höre gar nicht zu. Wir haben die Tür erreicht. Ein breitschultriger Mann tritt zur Seite, nickt dem Wissenschaftler zu und legt seine Hand auf die Markierung, sodass die Tür wieder aufgleitet. Mit tauben Beinen stakse ich in den kleineren Raum, merke gerade noch, wie Jill an mir vorbeischlüpft, dann verschwimmt alles zu einer unwichtigen Masse, aus der nur Kay heraussticht.

Wie gut er aussieht! Ach was – fantastisch! Noch viel besser, als ich ihn in Erinnerung habe.

Er überragt die Umstehenden um Kopflänge, steht, locker gelehnt, an der holzvertäfelten Wand. Man hat ihn in einen Smoking gesteckt, was seine breite Statur betont. Sein ebenmäßiges Gesicht wirkt verändert … Natürlich, die Tätowierung fehlt.

Noch hat er mich nicht bemerkt.

Sein bronzefarbenes Haar fällt ihm weich auf die Schultern. Wie gern möchte ich mit meinen Fingern hindurchfahren, ihm in seine unendlich dunklen Augen sehen, um die sich eben kleine Lachfältchen zeigen.

Endlich.

Kay lächelt in meine Richtung. Ein umwerfendes Lächeln, das jeden in seinen Bann zieht. Auch jetzt drängen sich die Anwesenden um ihn, in respektvollem Abstand noch. Kay ist unumstrittener Mittelpunkt. Wie in Zeitlupe sehe ich ihn die Lippen öffnen. Mein Herz schlägt wie wild, Freudentränen schießen mir in die Augen. Alles in mir schreit danach, ihn zu berühren.

»Ich liebe dich so, so sehr.« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, aber Jill muss meine Worte gehört haben. Sie sieht mich mit kraus gezogener Stirn an und schüttelt verächtlich den Kopf. Soll sie doch denken, was sie will. Denn jetzt hebt Kay seine Hand, winkt mir zu.

Sam Oscar schiebt sich mit vorgestrecktem Arm zwischen die Smokings und Abendkleider und ergreift Kays Handgelenk. »Kommen Sie, Mr Raymond, ich möchte Ihnen Ihre Begleiterin vorstellen. Sie sollten sich kennenlernen, bevor Sie gemeinsam das Abenteuer Ihres Lebens bestreiten.«

Kay lächelt zwei Damen entschuldigend an, die ihm mit schmachtendem Blick nachsehen, während er auf mich zukommt.

»Das ist Alison Hill. Sie werden die nächste Zeit miteinander verbringen.«

»Alison Hill?« Irritiert sucht Kay Oscars Blick. »Aber das ist der Name meiner Frau.«

Aha! Jetzt spätestens weiß Jill, Kay ist verheiratet. Ich beobachte ihre Reaktion aus den Augenwinkeln, doch Jill macht sich nur noch ein bisschen gerader und sieht mit schräg gelegtem Kopf zu Kay hoch, der auf Oscars Erklärung wartet.

»Ach so?« Der Wissenschaftler zuckt mit den Schultern. »Ein bemerkenswerter Zufall, wie es scheint. Nun zumindest, dies ist Ihr Scout.«

Ich würde Kay am liebsten um den Hals fallen, ihn küssen, mich an ihn schmiegen. Jede Faser in mir sehnt sich nach ihm. Aber er kennt mich noch nicht einmal. Was für ein Irrsinn! Ich sehe zu Kay hoch, die Hände hinter dem Rücken verkrampft.

»Ich hatte gehofft, eine hübsche Begleiterin zu haben, aber nicht gewagt, mir so viel Anmut und Schönheit vorzustellen«, schnarrt Kay und verbeugt sich leicht … vor Jill! Mit keinem Blick beachtet er mich und ich meine, eine Faust hätte mich in den Magen gerammt, so speiübel ist mir plötzlich.

Jill lacht glockenhell. Ich könnte ihr den hübschen Kopf abreißen! »Sie glauben nicht, wie gern –«

Oscar unterbricht Jill hüstelnd. »Mr Raymond …«

»Ja?«

Kay hört einfach nicht auf, Jill anzulächeln!

»Eine Verwechslung. Das ist Alison Hill«, sagt der Wissenschaftler und legt seine Hand auf meine Schulter.

Ich spüre, wie das Blut heiß in mein Gesicht schießt, und mag Kay, der ziemlich verwirrt wirkt, kaum ansehen.

»Wirklich?« Kays Frage richtet sich an Jill, die bedauernd nickt. »Oh, also dann. Dieses Mädchen soll mich begleiten … Nun, was soll ich sagen … Sind Sie sicher, Mr Oscar?«

»Vollidiot!« Am liebsten hätte ich Kay meine Fingernägel durch sein glattes Gesicht gezogen, hätte ich sie nicht bereits vor lauter Nervosität abgeknabbert.

Kay lacht belustigt auf, zuckt mit den Schultern. »Nun, machen wir das Beste draus. Kannst du wenigstens –«

Ein lauter Gong schneidet ihm das Wort ab und alle drehen sich zu der Tür, in der jetzt Wum Randy steht. Oscar tätschelt meine Schulter, schreitet zu dem Showmaster, schüttelt seine Hand und dreht sich zu den leise tuschelnden Gästen.

»Liebe Top-The-Realities-Familie. Sie kennen ihn alle. Und jetzt gehört der beliebteste Showmaster aller Zeiten zu unserem Team: Wum Randy!«

Anerkennende Pfiffe, lautes Klatschen, fröhliche Hallo-Rufe um mich herum, nur in mir zerbrechen all die Hoffnungen und Vorfreuden der letzten 2 Jahre. Aber was habe ich auch erwartet? Liebe auf den ersten Blick? Ja verdammt!

Als die Umstehenden zu Randy drängen, der, im weißen Smoking gekleidet, Hände schüttelt, merke ich, dass Kay nicht mehr bei mir ist. Wenige Meter weiter steht er an die Kante einer festlich gedeckten Tafel gelehnt und plaudert mit Jill.

Ich fasse es nicht, wie wenig verängstigt oder eingeschüchtert er wirkt. Ganz im Gegenteil. Kay scheint sich prächtig zu amüsieren. Hat er denn nicht mitbekommen, wo er ist? Weiß er nicht, was ihn erwartet? Überhaupt, dieses ganze freundliche Getue, der Empfang … was soll das?

Als ich sehe, wie Kay Jill irgendetwas von ihrem Kleidchen zupft, möchte ich mich am liebsten auf ihn stürzen, fragen, was zum Teufel das soll, aber ein Glas erklingt dreifach mit hellem Ping. Sam Oscar bittet alle Anwesenden zu Tisch und bietet mir den Arm.

Natürlich hat man mich neben Kay platziert, der über meinen Rücken hinweg unablässig mit Jill plaudert. Sein Arm liegt zeitweise auf meiner Stuhllehne und ich schwanke, zwischen mich an ihn zu kuscheln oder ihm meinen Ellenbogen in die Rippen zu stoßen. Beherrsch dich, Alison! Er hat dich doch schon für sein Verhalten um Verzeihung gebeten. Ja, hat er. Aber leicht fällt es mir trotzdem nicht.

Wum Randy und Sam Oscar sitzen an den Stirnseiten der Tafel, den Rest des Teams kenne ich nicht. Oscar stellt mir den Produktionsleiter vor, ich vergesse seinen Namen sofort wieder, dann wird das Glas auf Kay und mich erhoben, Unmengen hochgetürmte Speisen hereingetragen, Sektflaschen geöffnet …

Ich verlange nach einem Glas Wasser und versuche, meine Tränen zurückzuhalten. Bittere Enttäuschung, die sich mit ohnmächtiger Wut mischt. Erst als mein namenloses Gegenüber, ein junger Mann mit blauschwarzen Haaren und silbern glitzernder Haut, mich auf den Gewinn anspricht, komme ich wieder zu mir.

»Entschuldigung. Welcher Gewinn?«

»Na ja, sobald Sie die Challenge bestanden haben. Ihre verbesserte Gegenwart. Hat man Sie im Unklaren gelassen?«

»Ähm, nein. Ich bin nur … alles ist etwas verwirrend.«

»Wenn ich den Vorschlag machen darf, ruhen Sie sich noch etwas aus vor Ihrer Challenge und lassen Sie sich die Spielregeln nochmals erklären. Hier wird wohl niemand mehr nüchtern genug dafür sein.«

Ich lächle dem Unbekannten dankbar zu. Mein Teller bleibt unangetastet, ich habe anderes im Kopf, und als ich sehe, wie in diesem Moment die fünfstöckige Torte angeschnitten wird, über der unsere Gesichter als dreidimensionales Hologramm prangen, brauche ich dringend frische Luft.

Ich schiebe den Stuhl zurück. Notgedrungen muss Kay seine Unterhaltung mit Jill unterbrechen. Ohne ihn anzusehen, stehe ich auf, stürze fast zum Ausgang, was niemanden interessiert. Als ich die Hand auf die Markierung neben der Tür lege, die sich wider Erwarten öffnet, vernehme ich Kays Stimme, zu laut und leicht gedehnt vom Champagner: »Ach, kommen Sie, Sie scherzen doch …«

Ich drehe mich um. Kay ist auf meinen Platz gerückt und sitzt nun direkt neben Jill, die ihm etwas hinter vorgehaltener Hand zuraunt. Kay schenkt ihr und sich Champagner nach, wobei er laut lacht. »Warum und vor allen Dingen wie sollte so ein Mädchen mir denn helfen? Mein Scout … also wirklich. Vielleicht kann sie meine Socken stopfen oder etwas –«

»Socken stopfen?«, platze ich heraus und werfe Kay einen Blick zu, bei dem er gefrieren sollte.

Schlagartig ist es still.

Jill lässt ihre Gabel zurück auf den Teller sinken, auch die anderen Gäste haben aufgehört zu essen, sogar der Mann mit dem Tortenmesser verharrt mitten in der Bewegung. Alle sehen erwartungsvoll zu Kay.

Der hat einen Arm lässig über Jills Schulter gelegt, das Champagnerglas in der anderen Hand, wobei seine Finger mit ihren Haaren spielen. Belustigt lächelt er mich an. »Keine Socken also … vielleicht Knöpfe annähen?«

»Du!« Ich schreie, den ausgestreckten Zeigefinger auf ihn gerichtet. »Du hast keine Ahnung –«

»… vom Sockenstopfen, richtig«, fällt Kay mir ins Wort.

Jill kichert blöde.

Ohne nachzudenken, entreiße ich dem Tortenmann das lange Messer, hole aus und schleudere es mit Wucht nach vorn. Sirrend fliegt es über die Tafel, ein spitzer Schrei, in der gleichen Sekunde schlägt es mit einem Fong in Jills hohe Stuhllehne, Kays Smoking-Ärmel in das Holz genagelt. Klirrend zerbricht sein Champagnerglas auf dem Boden.

Kay starrt mich mit offenem Mund an.

»Ich sollte dir etwas anderes als deine Socken stopfen!«, schleudere ich ihm entgegen, drehe mich um, schaffe es gerade noch mit durchgestrecktem Kreuz in den Cube, presse meine Markerhand auf die Markierung, die Tür schließt sich, dann breche ich zusammen.

Der Cube kennt seinen Weg, alles ist vorprogrammiert, nur mein Leben mit Kay nicht.

Als sich die Tür wieder öffnet, renne ich zur Dusche, reiße meinen Anzug herunter, schlage willkürlich auf irgendwelche Knöpfe, bis rosafarbenes Wasser über meinen Körper läuft und alles um mich herum im Dampf versinkt.

Niemand hört mein lautes Schluchzen, niemand sieht, wie sich mein abgemagerter Körper schüttelt. Wofür habe ich trainiert? Wofür entbehrt? Worauf gehofft? Was habe ich bloß erwartet?

Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft

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