Читать книгу Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft - Kim Kestner - Страница 8
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28. August 2015, Mill Valley
Ich bin nicht vorbereitet. Nicht annähernd!
Seit 2 Wochen trage ich Tag und Nacht den schwarzen Isovantage-Anzug. Er ist wie eine zweite Haut für mich. Ich will ihn unbedingt anhaben, sobald sie mich in ihre Zeit reißen. So werde ich in großer Hitze oder Kälte länger überleben. Inzwischen besitze ich drei davon. Meine einzige tragbare Kleidung. Der Rest passt nicht mehr, schlottert nur um meinen Körper, so sehr habe ich abgenommen.
Nervös knabbere ich an meinen Fingernägeln, horche wieder in mich hinein, suche nach Anzeichen dafür, dass sie mich holen, nach Schwindel oder Übelkeit, die bei jedem Zeitsprung auftreten. Das einzig Abnormale aber ist mein Herz. Es wummert einem Trommelwirbel gleich in viel zu schnellen Schlägen, gebärdet sich wie eine Flipperkugel, wenn ich an Kay denke, was ich quasi ständig tue.
In 3 Tagen, um genau 08:02 Uhr, sind für mich 2 Jahre seit der ersten Show vergangen, das Warten wird ein Ende haben und ich werde Kay wiedersehen! Irgendwie werde ich die Zeit bis dahin totschlagen.
Heute ist es heiß, wie gewöhnlich für einen Augusttag in Kalifornien. Durch das geöffnete Fenster höre ich Jeremy mit Freunden Bälle schlagen. Mein Bruder überragt mich inzwischen um einen Kopf, obwohl er gerade erst zwölf geworden ist. Kurz vor den Ferien hat man ihn in die Baseball-Schulmannschaft aufgenommen, jetzt trainiert er, bis Mum ihn abends zum Essen ruft.
Ich gehe zum Kalender und streiche den 28. August durch. In 3 Tagen werde ich Jeremy für lange Zeit nicht mehr sehen.
Mit einem Seufzer lasse ich mich auf das Bett fallen und greife nach der kalt gewordenen Tasse Kakao. Er schmeckt ekelhaft süß. Ich trinke ihn trotzdem. Seit 3 Wochen esse ich so viel Zucker und Fett, wie ich kann, ohne brechen zu müssen, versuche, mir ein kleines Polster anzufuttern, um später davon zehren zu können. Auch das Training habe ich eingestellt. In den letzten Wochen hätte ich sowieso nichts gelernt, was ich in 2 Jahren nicht geschafft habe.
Ich ziehe die Kladde unter dem Kopfkissen hervor und streiche mit dem Daumen über die untere Ecke, sodass sich die Seiten flatternd durchblättern. Sie sind abgegriffen und einige haben sich gelöst, aber auf den Inhalt kommt es an: Fotos und Zeichnungen von Heilkräutern, Listen mit essbaren Pilzen und Beeren, anatomische Abbildungen des Knochenaufbaus, seitenweise Skizzen von Kleidung verschiedener Epochen, geschichtliche Daten, Jahreszahlen.
Eine Weile versuche ich, mit geschlossenen Augen Daten der amerikanischen Geschichte von der Kolonialzeit bis zum Bürgerkrieg aufzusagen. Alles gerät durcheinander, nichts scheint hängen geblieben zu sein. Vielleicht ist mein Gehirn überladen und hat sich neu formatiert – außer gähnender Leere und Kays tiefdunklen Augen finde ich nichts darin.
Frustriert stopfe ich eine halbe Tüte Chips in mich hinein und starre auf meine fettige Handinnenfläche, an der paprikagewürzte Krümel kleben. Inzwischen ist es leicht, den Marker anzusteuern. Ich muss nicht mal mehr die Augen dafür schließen, nur den Nervenbahnen folgen und schon tritt das klar umrissene Rechteck hervor. Wie jetzt.
Mit den Lippen streiche ich über die silbernen Linien, lecke die Chipsreste herunter und lausche den vielfältigen Tonfolgen des Vogelgezwitschers. Ich höre, wie Jeremy die Verandatür hinter sich zuschlägt und über den Rasen zu seinen Freunden läuft.
»Gab nur noch Dr Pepper, Coke ist aus!«, kiekst er und ich muss lachen. Immer wieder verirrt sich Jeremys Stimme in viel zu hohe Lagen oder rutscht mitten im Satz in den Keller. Er ist im Stimmbruch und bald wird er seine erste Freundin mit nach Hause bringen. Morgen fährt Jeremy für einige Tage in ein Feriencamp: zelten, angeln, Feuer machen – nur so zum Spaß. Wie unbeschwert doch das Leben für ihn ist.
»Komm schon, Jeremy! Jetzt wirf halt!« Die Stimme seines Freundes, Steve, glaube ich. »Wie lange soll ich den Schläger noch halten? Mir fällt bald der Arm ab.«
»Hier, deine Pepper, fang!« Das war Jeremy.
»Und die Dose fliegt und fliegt. Was für ein Wurf!«, kommentiert ein anderer Junge. »Und Schlag!«
Au!
Mein Kopf fliegt nach hinten, schmettert gegen die Wand. Stechender Schmerz schießt in meinen Nacken. Die Dose hat mich mit Wucht an der Stirn getroffen, direkt über dem linken Auge. Als ich sie berühre, fühlt sie sich taub an.
Einen fassungslosen Moment starre ich das Wurfgeschoss auf meinem Schoß an, dann springe ich auf, schnappe mir die Dose und schleudere sie zurück aus dem Fenster.
»Seid ihr total verrückt geworden? Was soll der Scheiß?«
»Ist etwa eins deiner schlauen Bücher zu Bruch gegangen?«, fragt Jeremy großspurig.
»Stell dir vor, das Teil hat mich am Kopf getroffen, Idiot!«
»Echt?«
»Ja, ganz echt! Du könntest mal ’nen Gang runterschalten und dich entschuldigen.«
»Tut mir leid«, murmelt Jeremy mit gesenktem Kopf.
»Das sollte es auch. Und jetzt zischt ab! Ich hab zu tun.«
Jeremy mault irgendwas, ich lasse mich wieder aufs Bett fallen und reibe mir die Stirn. Was für ein Scheißtag.
Wieder versuche ich, den Marker anzusteuern, bekomme die doofe Dr-Pepper-Dose aber nicht aus dem Kopf und dann wird mir auch noch übel. Vielleicht eine Gehirnerschütterung … Oh Gott und das 3 Tage vor …
Aber plötzlich ist der Schmerz weg. Dafür rauschen meine Ohren, Speichel zieht sich sauer in meinem Mund zusammen, ich würge. Im gleichen Moment trifft mich ein Schlag, genau an derselben Stelle wie eben, mein Kopf fliegt nach hinten. Aaah! Verdammt, tut das weh!
Ich fasse mir an die Stirn, sie fühlt sich immer noch taub an, der Nacken schmerzt, auf meinem Schoß liegt die Dose Dr Pepper.
Wütend bis in die Haarspitzen, springe ich vom Bett und schleudere das Geschoss zurück, diesmal genau auf Jeremy. Ich treffe ihn am Bein.
Er fährt herum. »Spinnst du?«, kiekst er.
»Ich? Du bist doch total bekloppt! Noch einmal und ich sperr dich zu deinen Eichhörnchen in den Käfig. Ist das klar?«
Jeremy sieht zu seinen Freunden und grinst. »Was denn, ist etwa eins deiner schlauen Bücher zu Bruch gegangen?«
Das ist ja wohl die Höhe! »Sieh zu, dass du verschwindest, Jeremy. Ich mein es todernst!«
Ich löse die Haken der Fensterflügel, reiße sie mit lautem Knall zu und werfe mich wieder aufs Bett. Tief durchatmen, runterkommen … Ich muss mich beruhigen, bevor ich mich wieder auf den Marker konzentrieren kann.
Die Dr-Pepper-Dose schwebt vor meinem geistigen Auge statt der neuronalen Bahnen. Nach kurzer Zeit jedoch gelingt es mir, sie zu verscheuchen, mich zu konzentrieren. Das Rechteck erscheint, sonst aber nichts, keine leuchtende Anzeige. Keine Ahnung, wie ich den Marker nutzen kann, um durch die Zeit zu springen.
Plötzlich ein Luftzug, ich sehe die Dose kommen, kann mich nicht mehr ducken. Sie trifft mich am Kopf, knapp über dem linken Auge, und landet in meinem Schoß.
Was …? Das Fenster ist ja weit aufgesperrt! Ich hatte es doch geschlossen. Ganz sicher!
»Du meine Güte …« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Mit weichen Knien wanke ich zum Fenster, prüfe die Haken, die beide Flügel fest in der Öse halten. Wie ist das möglich?
Ein ungeheurer Verdacht jagt einen Schauer über meinen Rücken. Was ist, wenn … Die Dose ist auf den Teppich gekugelt. Wie in Trance hebe ich sie auf, halte sie aus dem Fenster, sodass mein Bruder sie sehen kann.
»Jeremy! Die Dose. Wie oft hast du sie geworfen?«
»Was denn, ist etwa eins deiner schlauen Bücher zu Bruch gegangen?«
»Wie oft?«
»Einmal. Was ’n das für ’ne Frage? Krieg ich sie wieder?«
»Oh Gott! Das heißt, ich hab’s geschafft! Es hat funktioniert! Ich liebe dich, Jeremy! Ich liebe Dr Pepper! Ich liebe Baseball!«
»Ja, alles klar. Krieg ich jetzt die Pepper wieder?«
»Sooft du willst.« Ich lache laut. »Hier, fang!«