Читать книгу Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft - Kim Kestner - Страница 5
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15. Dezember 2013, Mill Valley
Das Messer in meiner Hand ist leicht. Ein schwereres wäre besser. Viel einfacher, damit zu töten. Vor allem aus der Distanz. Noch weiß ich nicht, ob es ein Küchenmesser oder eine Axt sein wird, mit der ich meine Beute erlege, falls ich überhaupt eine Waffe besitzen werde. Aber dass ich wieder töten muss, weiß ich. Mit viel Glück wird es nur ein Tier sein.
Der Baum ist zehn Schritte entfernt. Ich ziehe meinen Arm nach hinten, das Messer liegt locker in der Hand, so wird es nicht zur bewussten Entscheidung, es loszulassen, sondern gleitet einfach hinaus, sobald ich den Arm nach vorn reiße. Also los: zielen, einatmen, schleudern!
Das Messer rotiert durch die Luft, fliegt auf den Baum zu – und segelt wenig elegant auf den aufgeweichten Blätterboden. »Verdammt!«
Vier, fünf … sieben. Ganze drei Schritte vor dem Baum ist es zu Boden gegangen. Verärgert hebe ich es auf, stapfe mit nackten Füßen zurück, werfe wieder.
Diesmal landet es noch nicht mal in der Nähe meines Ziels. Dabei ist es ein Redwood, keine schlanke Tanne. Ein gigantischer Baum, den nur drei oder vier Menschen gemeinsam umfassen können. Was bedeutet, dass ich sogar einen Elefanten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht treffen würde.
Als am Nachmittag die Sonne untergeht, habe ich zwei Mal die Rinde des Baumes angekratzt. Hätte eine Fliege an genau der Stelle gesessen, hätte es sie wohl erwischt, aber Fliegen machen nicht satt und Fische leben nicht auf Bäumen. Im Fischefangen mit bloßen Händen bin ich nämlich gut.
Inzwischen sind meine Füße aufgeweicht, sie fühlen sich taub an. Obwohl es in dieser Gegend Kaliforniens fast nie richtig kalt wird, regnet es im Dezember unablässig. Mum weiß nicht, dass ich meine Schuhe ausziehe, sobald ich von unserem Holzhäuschen aus in den Wald gehe, um zu trainieren. Sie würde mich für verrückt halten, aber es härtet ab. Das Immunsystem wird gestärkt und ich muss stark sein, wenn sie mich in anderthalb Jahren ab heute gerechnet holen werden.
Die Zeit erscheint mir viel zu knapp, um all das zu lernen, was ich zum Überleben brauchen werde. Ich trainiere hart. Jede freie Minute. Selbst während der Highschool, die ich in fünf Monaten beenden werde.
In Mathematik, Biologie, Geografie und Geschichte bin ich inzwischen Klassenbeste, denn dieses Wissen ist wertvoll für mich. Englisch, Kunst und Musik nutze ich, um unter dem Tisch Bücher über amerikanische Geschichte zu verschlingen. Einordnen zu können, in welcher Zeit ich mich befinde, ist eine der ersten und wichtigsten Informationen, sobald ich in der Vergangenheit ankomme. Über die Zukunft gibt es leider noch keine Bücher, da werde ich dann improvisieren müssen.
In diesen Tagen geht die Sonne bereits um halb fünf unter und das Restlicht ist zu schwach zum Trainieren. Die Baumstämme verschmelzen bereits zu einer grauen Masse. Ich ziehe meine Stiefel wieder an und gehe zurück zu unserem Haus. Ich bin frustriert, gebe dem blöden Messer die Schuld an meinem Versagen.
Nach 20 Minuten stehe ich in unserer Küche, wasche das Messer schnell ab und feuere das Ding zurück in die pink gestrichene Schublade. Inzwischen hat Dad Mum verziehen, dass sie die Fronten bunt bemalt hat, und ihr sogar zum Hochzeitstag einen Tisch gezimmert und ihn knallblau lackiert.
Mein Magen verlangt knurrend nach Nahrung. Der Kühlschrank hat nicht viel zu bieten: eine angebrochene Flasche Orangensaft, einige Bagels, die Reste des Sonntagsbratens und eine Packung Milch. Ich entscheide mich für Braten und Milch.
Oh Mann, die Tüte Milch ist leer! Jeremy! In den letzten Monaten ist er mir über den Kopf gewachsen, obwohl er erst elf wird, und verschlingt noch mehr als früher, was kaum möglich sein dürfte.
Ich werfe die Milchtüte in den Müll, stürze den Orangensaft hinunter und beiße in das kalte Fleisch. Es schmeckt trocken und faserig. Das stört mich nicht. Hauptsache, es macht satt.
Als ich Mums Schritte höre, schnappe ich mir schnell einen Teller und Besteck und schneide fein säuberlich die angebissene Bratenecke ab.
»Bunny!«
»Hi, Mum. Musst du schon los?«
»Ach, diese verdammten Nachtschichten und jetzt wird es schon so früh dunkel. Hat Jeremy sich gemeldet?«
Ich zucke mit den Schultern. »Weiß nicht.«
»Er sollte mich anrufen, wenn er über Nacht bei seinem Freund bleibt.« Mum drückt auf dem Telefon herum. »Keine Nachricht. Dieser Junge! Und was ist mit dir? Du siehst aus, als hättest du im Dreck gewühlt. Warst du schon wieder den ganzen Tag im Wald?«
Ich nicke kauend.
»Was machst du da nur? Ich verstehe das nicht. Triff dich doch wieder mal mit Carissa. Dauernd ruft sie hier an und ich muss ihr sagen, dass du lieber wie ein Wiesel durch den Wald streifst.«
»Mache ich, Mum. Keine Sor…«
»Oh, da ist dein Vater.« Mum späht durch die Verandatür den Waldweg hinunter, auf dem Dads senfgelber Pick-up zu unserem Haus rumpelt. »Du meine Güte. Er hat schon wieder die ganze Ladefläche voller Holz. Soll ich damit etwa zur Arbeit fahren? Robert!«
Mit schnellem Griff zieht meine Mutter ihren Mantel von einem violett gestrichenen Stuhl, schnappt sich ihre Handtasche und stößt die Verandatür auf. Ein kalter Windzug fegt durch die Küche. Ich schüttle mich und räume den Tisch ab.
Draußen sehe ich meine Mutter wild gestikulieren, woraufhin Dad mit eingezogenen Schultern die Bretter ablädt, die er bei seiner Arbeit im Sägewerk abgestaubt hat. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Typisch Dad. Es lagert so viel Holz hinter unserem Haus, wir könnten ein zweites damit errichten.
Bevor ich in mein Zimmer gehe, um für die Schule zu lernen, gebe ich Wasser in den Schnellkocher, um mir einen Tee zuzubereiten. Der einzige technische Luxus, den ich mir erlaube. Es wäre auch nicht ratsam, ein offenes Feuer in einem Holzhaus zu entfachen, nur um Wasser zu erwärmen. Außerdem würden mich meine Eltern für noch merkwürdiger halten, als sie es ohnehin schon tun.
Seit ich aus der Zukunft zurückgekehrt bin, Wum Randy und seine Zeitreiseshow hinter mir gelassen habe, kann ich ihnen ohnehin kaum begreiflich machen, warum ich entweder stundenlang durch den Wald streife oder mich hinter historischen Fachbüchern verkrieche. Sie haben es Gott sei Dank aufgegeben, mein Verhalten ständig zu hinterfragen.
Der Wasserkocher schaltet sich mit einem Klicken aus und ich gieße meinen Tee auf: getrockneter wilder Salbei aus dem Wald, kein Zucker. Ich will meinen Gaumen nicht zu sehr verwöhnen. Mein Körper muss auf karge Kost eingestellt sein. Dass ich dadurch sieben Pfund abgenommen habe und geradezu mager aussehe, spielt keine Rolle.
Mit kalten Fingern umklammere ich die herrlich warme Tasse und will in mein Zimmer gehen, als Mum zurück in die Küche kommt.
»Bunny! Das hätte ich fast vergessen. Ein Brief für dich.«
Erstaunt hebe ich die Brauen. »Von wem?«
»Keine Ahnung. Er ist ohne Absender.« Sie zieht einen cremefarbenen Umschlag aus einem offenen Fach und reicht ihn mir.
Fast lasse ich die Teetasse fallen, stelle sie klirrend auf den Tisch und starre auf das Papier. Mein Name und meine Adresse sind handgeschrieben, schwungvolle Linien in Schwarz. Plötzlich hämmert mein Herz wild gegen die Brust, denn ich bin mir sicher, der Brief ist von Kay. Wer sonst sollte mir solche Post schicken?
Den Tee lasse ich stehen. Meine Hände zittern zu sehr. Erst als ich in meinem Dachgeschosszimmer bin, öffne ich das Kuvert und ziehe ein gefaltetes Blatt und eine Karte heraus.
Die Karte ist beidseitig beschrieben und trägt dieselbe Handschrift wie das Kuvert. Die Schrift ist weiblich, die Karte mit Hillary unterzeichnet. Kays Haushaltshilfe.
Ich überfliege die Zeilen, schlucke hart und lese sie nochmals Wort für Wort.
Liebe Alison,
Kay bat mich, dir den beiliegenden Brief zu schicken, sobald er von uns gegangen ist.
Kurz schließe ich die Augen, dann zwinge ich mich, wieder auf die Karte zu sehen.
… von uns gegangen ist.
Das letzte Wort ist verschwommen, wahrscheinlich unter einer Träne.
Am 1. Dezember hat er zu atmen aufgehört. Es tut mir leid, aber ich hatte nicht die Kraft, dir früher zu schreiben. Wie es sein Wunsch war, habe ich seine Asche auf dem Waldboden vor seinem Haus verstreut. Er hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen. Es war eine einsame Zeremonie. Aber als ich wieder ins Haus ging, sah ich einen Schwarzbären aus dem Wald kommen. Er stand über Stunden an der Stelle, als hielte er Wache …
Ich bleibe in dem Häuschen, liebe Alison. Meine Schwester wird zu mir ziehen, allein ist es mir zu einsam, auch wenn ich die Natur nicht mehr missen möchte. Ich habe Kay gesagt, ich könnte das Haus nicht nehmen, es stände dir zu, aber er meinte, irgendwann würdet ihr ein gemeinsames haben, mit genug Platz für Kinder. Ich hoffe, du weißt, was er damit meinte.
Fühle dich umarmt.
Hillary
Langsam lasse ich meine Hände in den Schoß sinken, streiche mit dem Finger über die erste Zeile, spüre ein Ziehen in der Nasenwurzel. Rasch lege ich die Karte zur Seite, aber schon schwimmen Tränen in meinen Augen. Ich beiße mir auf die Lippe, verbiete mir zu trauern, gar zu weinen.
Verdammt! Kay lebt! Irgendwo – oder meinetwegen auch irgendwann – existiert eine Realität, in der wir ein gemeinsames Leben haben werden, ohne dass 87 Jahre Altersunterschied zwischen uns stehen. Ich muss diese Realität nur finden!
Entschlossen lege ich Hillarys Karte in meine Nachttischschublade und betrachte den gefalteten Brief. Dad höre ich in seinem Schuppen hämmern, Jeremy ist genau wie Mum nicht da, aber trotz der Ruhe fühle ich mich nicht in der Lage, Kays letzte Worte zu lesen.
Noch nicht.
Mit angezogenen Beinen lehne ich mich an die Wand, ziehe mir eine bunte Flickendecke bis ans Kinn, und während ich durch das Dachgeschossfenster in die anbrechende Nacht starre, denke ich an unsere erste Begegnung …
Nicht einmal 6 Monate ist es für mich her. Da war Kay 21, nur 4 Jahre älter als ich damals. Er stand mit hasserfüllten Augen neben Wum Randy, dem Moderator der Zeitreiseshow Top The Realities. Heute weiß ich, dass es alles andere als Zufall gewesen war, dass die Schweinehunde mich als ihre Kandidatin und Kay als meinen Scout gewählt hatten. Nur wegen unserer bedingungslosen Liebe, von der ich jedoch damals noch nichts wusste. Für die Zuschauer der Show war das jedoch ein Riesenkracher!
Alles fing mit Jeremy an. Ich weiß noch, wie ich erwachte und er war verschwunden. Mehr noch, er schien nie existiert zu haben. Nicht einmal unsere Eltern konnten sich an seine Geburt erinnern! Ich dachte, ich müsste durchdrehen!
Und nur einen Moment später befand ich mich auf einer Bühne, als Kandidatin dieser abartigen Show, über 400 Jahre in der Zukunft. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die selbstverliebte, glitzernde Gestalt des Showmasters, höre sein hämisches Lachen, als er sagte: »Einige der Realitäten spielen sich nun mal ohne deinen Bruder ab.«
Ich verstand nur, dass sie es gewesen waren, die in meinem Leben herumgepfuscht und Jeremys Dasein verhindert hatten.
Was das genau bedeutete, begriff ich erst, als sie mich tief in die Vergangenheit zurückschickten, um die richtigen Schlüsse zu ziehen, damit ich in den Lauf der Geschichte eingreifen und rückgängig machen konnte, was sie getan hatten. Kurz: Ich musste Jeremys Existenz wiederherstellen.
Kay hatten sie als meinen Scout mitgeschickt. Seine Aufgabe? Dafür zu sorgen, dass ich überlebe, denn die Show musste weitergehen. Eine tote Kandidatin war wenig interessant. Und sie hatten recht. Ohne Kay wäre ich mit Sicherheit gestorben. Wahrscheinlich verdurstet. Oder erfroren, verhungert, von einer Infektion dahingerafft. Ich hätte keine Woche in der Wüste des vorletzten Jahrhunderts überlebt, in dem wir schlussendlich gelandet waren. Erst dort hatte Kay mir gestanden, dass er mich liebt – schon lange.
Unbegreiflich!
Bei der Erinnerung schüttle ich den Kopf. Immer noch fällt es mir schwer, die zeitlichen Paradoxe zu verstehen. Aber ich weiß, in weniger als 2 Jahren seit meiner Rückkehr – linear gerechnet – werden sie mich wieder holen. Denn dann werde ich Kays Scout sein, mich an unsere Liebe klammern, aber er wird sich nicht an unsere gemeinsame Zeit erinnern können, mich nicht einmal kennen. Diesmal ist für ihn Zukunft, was für mich bereits Vergangenheit ist. Er wird nicht wissen, dass ich erst im Jahr 1996 auf die Welt kommen werde, fast 90 Jahre nach ihm.
Aber am schlimmsten ist: Von alldem werde ich ihm nichts erzählen dürfen. Es würde unsere Zukunft gefährden, neue Paradoxe entstehen lassen.
Das Klappen der Haustür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich höre die Kühlschranktür gegen die Wand schlagen, Dad grummelt irgendetwas, eine Minute später dringt die eintönige Stimme eines Nachrichtensprechers zu mir. Die nächsten Stunden wird Dad fernsehen.
Ich atme tief durch und entfalte den Briefbogen. Die Wörter wirken wie mit zittriger Hand geschrieben. Fast bin ich enttäuscht, als ich sehe, wie kurz der Brief ist.
Meine geliebte Alison,
wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich mich nicht an dich erinnern können und nicht der Mann sein, den du kennst. Denn erst durch das Geschehene wurde ich zu dem Menschen, der ich heute bin.
Deshalb, sei hart zu mir! Lass mir nichts durchgehen! Verschwende keine Zeit auf meine Mission. Vielleicht kannst du mir mein Verhalten irgendwann verzeihen, denn ich war ein Riesenidiot. So spät habe ich erkannt, dass das einzig Wichtige du bist. Nur du!
Du musst den Marker beherrschen lernen. Trainiere jede Sekunde. Du kannst es schaffen. Du musst es schaffen!
Irgendwo gibt es eine gemeinsame Realität für uns. Du musst sie nur finden. Auch wenn ich bereits tot bin, wenn du dies liest, ist es kein Abschiedsbrief, das weißt du.
Ich werde dich in jeder Realität lieben.
Kay
Ich lese den Brief nicht noch einmal. Es wäre zu gefährlich. Wum Randy könnte mich aus der Zukunft beobachten, vielleicht gerade diesen Moment an seine Zuschauer holoportieren. Solange ich den Marker trage, sind sie dazu zumindest in der Lage.
Dieses verfluchte Ding! Er ist mit meiner Handinnenfläche verwebt. Auch wenn er im Moment nicht sichtbar ist, können sie mich jederzeit durch ihn aufspüren, mich aus meiner Zeit reißen, mir sogar Schmerzen zufügen. Irgendwie ist das Ding mit meinem neuronalen Netz verbunden. Mein Gehirn würde gewissermaßen explodieren, würde ich den Marker gewaltsam entfernen.
Kay erzählte mir, es gelang ihm, den Marker so zu manipulieren, dass ihm kurze Zeitsprünge möglich waren, nur durch seine Willenskraft. Sollte die Spielleitung je davon erfahren, sie würde es zu verhindern wissen. Es wäre ein unkalkulierbares Risiko für sie.
Auch wenn es mir gleichzeitig das Herz zerreißt, das Einzige, was ich von Kay habe, zu vernichten: Zur Sicherheit reiße ich den Brief in winzige Schnipsel, greife nach einer Metallschale mit Räucherkegel und lasse die Papierfetzen hineinflattern. Streichhölzer … Wo? Ach da, hinter dem Stapel Geschichtsbücher. Ein Ratsch, kurz riecht es nach Schwefel, dann verbrennt Kays Botschaft in einer Wolke aus Kiefernnadelgeruch. Ein Geruch, den ich für immer mit Kay in Verbindung bringen werde, als ich ihn das letzte Mal in der Vergangenheit sah …
Vielleicht sollte ich auch meine Notizen verbrennen? Könnten sie mir gefährlich werden?
Unter meinem Kopfkissen ziehe ich eine karierte Kladde hervor, schlage sie auf. Erst wenige Seiten sind beschrieben und die Zeit drängt. Nein, sie sollen ruhig sehen, wie ich mich vorbereite auf das, was kommen kann. Sie können wissen, dass ich mein Schicksal nicht tatenlos abwarte.
Auf der ersten Seite der Kladde steht fett unterstrichen: Lernen!
Ich gleite mit dem Zeigefinger über die Liste, die ich einen Monat nach meiner Rückkehr aufgestellt habe, meinen Trainingsplan:
1. Wasser Wassergewinnung: Wasseradern aufspüren Wasser entsalzen Wasser filtern
2. Feuer machen Feuerbohrer Feuersteine Brennglas
Ich blättere um und seufze. Die Liste setzt sich über die nächsten Seiten fort. Verschiedene Arten, Unterkünfte zu errichten, zwölf Wege, Fallen zu stellen, Fischen auf unterschiedlichste Weise, Jagdtechniken, Orientierung bei Tag und Nacht, Verteidigungsmöglichkeiten mit und ohne Waffen, Behandlung von Wunden und Brüchen, Heilpflanzen, essbare Kräuter, Pilze und Beeren, Tarnung, amerikanische Geschichte, Weltgeschichte, Geografie und Vegetation aller Gebiete der Vereinigten Staaten.
Nur der Feuerbohrer und eine Fischtechnik sind bisher abgehakt. Aber erst, wenn ich alles beherrsche, habe ich eine Chance, die nächste Show zu überleben!
Mit einem Kugelschreiber umkreise ich Orientierung bei Nacht, schiebe die Kladde zurück unter das Kissen und schalte das Licht aus.
Bis auf die Schuhe bleibe ich angezogen. Mehr als 5, maximal 6 Stunden Schlaf gönne ich mir ohnehin nie. Um Mitternacht werde ich in den Wald gehen. Der Himmel ist wolkenlos und die Sterne sind gut zu sehen. Bis zur ersten Schulstunde bleiben noch 13 Stunden … Ich werde mich mindestens 3 davon durch die Redwoods treiben lassen, den Blick auf den Boden geheftet. Wenn alles gut geht, finde ich meinen Weg zurück, bevor Mum aus der Nachtschicht kommt.
Ich denke an Kays Brief. Trainiere jede Sekunde, hat er geschrieben. Aber wie? Wie trainiert man etwas, das unbegreiflich erscheint?
Meine Augenlider sind schwer und flattern bei dem Versuch, im fahlen Mondlicht meine Handinnenfläche zu fixieren. Minutenlang suche ich nach einer Verbindung zwischen meinem Gehirn und dem Marker, stelle mir die feinen silbernen Linien vor, die meine Haut durchweben, die leuchtenden Ziffern des Countdowns, der mir zeigt, wie viele Tage, Stunden, Minuten mir während der Zeitreise-Challenge bleiben.
Vergeblich. Nichts tut sich! Der Marker scheint verschwunden. Dass er es nicht ist, weiß ich nur, weil ich mich erinnere. Ohne Marker hätte ich alle anderen Realitäten vergessen. Ich hätte Kay vergessen.