Читать книгу Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft - Kim Kestner - Страница 9
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31. August 2015, 00:01 Uhr, in meinem Zimmer
Noch 8 Stunden! Jede Minute davon zieht sich unerträglich in die Länge. Seit gestern steht wieder eine digitale Uhr in meinem Zimmer. Ich starre die Ziffern an. Es wird noch dauern, bis sie endlich auf 08:02 springen. An Schlaf ist nicht zu denken. Stattdessen tigere ich durch den Raum, warte, horche in mich hinein, versuche, irgendetwas zu essen, ein Grundstock für die nächsten Tage.
Aber allein der Gedanke, Kay endlich wiederzusehen, verursacht einen Tumult in meiner Magengegend …
06:34 Uhr.
Ich bin schweißgebadet, überlege, einen frischen Isovantage-Anzug anzuziehen. Aber wenn sie mich im falschen Moment holen, stehe ich in Unterwäsche auf der Bühne. Eine schreckliche Blamage. Vor allem vor Kay. Er soll doch hingerissen von mir sein, sich am besten sofort in mich verlieben. Ich kann nicht noch länger warten, will ihn endlich wieder küssen, seine Lippen spüren, in seine starken Arme sinken. Allein bei dem Gedanken entweicht mir ein leises Stöhnen …
08:04 Uhr.
Worauf warten die noch? Ich bin immer noch in meinem Zimmer. Bin völlig übermüdet, mir ist übel vor lauter Aufregung, alles dreht sich. Ich muss mich setzen, die Augen schließen. Nur einen Moment ausruhen …
11:42 Uhr.
Oh Gott! Bin ich tatsächlich eingeschlafen? Scheint so, denn fast 4 Stunden sind verstrichen, aber nichts ist geschehen. Was soll das?
Ich fühle mich ausgelaugt, schon jetzt erschöpft. Als ich vor den Spiegel trete, wirft er ein blasses, mageres Gesicht zurück, Schatten liegen unter meinen Augen und meine Haare wirken strähnig. Ich muss sie bürsten … Wo ist denn … Die Haarbürste liegt nicht mehr auf meinem Nachttisch. Auf dem Regal auch nicht. Vielleicht unter dem Bett … nein. Im Schrank? Was zum Teufel … Wo ist meine Kleidung? Der Schrank ist ja leer!
Das kann nur eines bedeuten … Hektisch drehe ich mich im Kreis, suche den Boden ab, sehe sogar in der Nachttischschublade nach. Aber auch da nur Leere. Die Karte von Hillary, mein Tagebuch, alles weg. Meine Aufzeichnungen! Ich reiße das Kopfkissen hoch. Auch die Kladde hat sich in Luft aufgelöst. Wo oder besser gesagt wann, bin ich? Warum bin ich nicht im Show-Dome?
Mit einem Satz bin ich beim Schreibtisch, suche mein Bücherregal ab, ein Geschichtsband fällt heraus, klappt auf. Lauter leere Seiten. Kein Wort steht darin. Als ich das nächste Buch öffne, auch hier nur weißes Papier.
Plötzlich zischt es, ich fahre herum. Mitten in der Wand hat sich ein Rechteck geöffnet, wie ein Türrahmen, dahinter ein Flur, aus dem ein Mann mit Zwirbelbart in eigentümlicher Kleidung in mein Zimmer tritt.
Ich erkenne ihn sofort als Sam Oscar wieder, den führenden Wissenschaftler im Bereich der Quantenphysik und damit Zeitreiseexperte.
Er wirkt freundlich, auf jeden Fall ungefährlich, als er mich anlächelt. »Bitte erschrecken Sie nicht. Sie befinden sich quasi immer noch in Ihrem Zimmer.«
»Tu ich nicht. In meinem Zimmer enthalten Bücher Wörter.«
Sam Oscar nickt leicht. »Stimmt. Wir wollten Sie nicht erschrecken, was uns offenbar schlecht gelungen ist. Zu viele Details …« Die Tür schließt sich leise. »Zunächst möchte ich Ihnen versichern, dass Sie nicht in Gefahr sind. Wir wollen Ihnen nichts Schlechtes, verstehen Sie?«
Mit hochgezogenen Brauen erwidere ich seinen Blick. Ich glaube ihm kein Wort. »Wo genau bin ich?«
»Sehen Sie, das ist nicht die entscheidende Frage. Vielleicht sollten wir uns setzen.« Mein Gegenüber sieht sich in dem, was mein Zimmer sein soll, um. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch mein Stuhl fehlt. Oscar setzt sich auf die Kante der Schreibtischplatte und weist auf mein Bett, als sei es sein Zimmer. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Ich rühre mich nicht von der Stelle, ich wurde also bereits vor Stunden portiert. »Wo ist Kay? Auf der Bühne?«
Sam Oscar reißt seine Augen auf. »Man hat Sie schon informiert? Sie wissen bereits von dem Zeitsprung und dem Kandidaten?«
»Äh …« Moment mal. Anscheinend weiß hier niemand von meiner Rückkehr nach 2 Jahren. Kennen sie ihre eigene Zukunft nicht? Kann das sein? Dann könnte ich meinen Wissensvorsprung vielleicht irgendwie zu meinem Vorteil nutzen. Jetzt heißt es, einen kühlen Kopf bewahren. Ich setze ein Unschuldsgesicht auf. »Ein Mann war hier«, erwidere ich vage. »Wann geht’s denn los mit der Show?«
Oscar kratzt sich nachdenklich am Kinn. »Das war so nicht vorgesehen. Ich verstehe das nicht … Kennen Sie seinen Namen?«
Ablenken. Einfach ablenken. »Er hat sich nicht vorgestellt. Zumindest trug er keinen Zylinder.«
»Zylinder?« Irgendwie wirkt der Zeitreiseexperte schusselig, so als würde er ständig Banales vergessen.
Ich deute auf seinen Kopf, auf dem ein dunkelgrüner Zylinder sitzt.
»Oh das. Ich habe versucht, Kleidung Ihrer Zeit zu wählen.«
Ich verziehe das Gesicht.
»Nicht passend?« Er nimmt den Zylinder ab.
»Sie sollten besser recherchieren«, antworte ich. Verdammt. Ich darf nicht so gelassen wirken, ich muss vollkommen aufgelöst erscheinen. Also versuche ich, Tränen aus meinen Augen zu quetschen. Es gelingt nicht, aber Sam Oscar scheint sich ohnehin nicht über meine Reaktion zu wundern. Er betrachtet nur den Zylinder in seiner Hand.
»Nun, wenn wir erst selbst in die Vergangenheit reisen, werden wir sicherlich ein klareres Bild von der damaligen Mode und den Gepflogenheiten bekommen.«
»Bedeutet das, Sie sind noch nie durch die Zeit gesprungen?« Das ist neu.
»Wir stehen kurz davor!« Jetzt glitzern seine Augen und mir fällt auf, dass sie von einem warmen Braun sind. »Wir befinden uns in der Betaphase. Bisher ist noch kein echter Mensch, entschuldigen Sie, hat noch kein Mensch dieser Zeit eine solche Reise angetreten. Aber ich werde einer der ersten sein. Wenn diese Testphase abgeschlossen ist, werde ich mehrere Jahrhunderte zurückreisen. Zu den amerikanischen Ureinwohnern vielleicht. In unberührte Natur. Ich habe eine Schwäche für alte Indianerfilme, wissen Sie.«
Ich lächle höflich, bin mit meinen Gedanken aber ganz woanders. »Bedeutet das, Sie sind auch noch nicht in Ihre eigene Zukunft gereist?«
»Oh Gott, nein! Da sind die Gesetzgebungen ganz klar. Sehen Sie, etwas in unserer Zeit verhindert, dass unsere Gegenwart durch Reisen in die Vergangenheit verändert werden kann. Es ist jedoch nicht klar, wie sie sich durch Informationen aus der Zukunft wandeln könnte, die wir zurück in die Gegenwart nehmen, wobei streng genommen die Gegenwart aus Sicht der Zukunft wieder Vergangenheit wäre. Aber das ist nur Theorie. In der Praxis ist es verboten. Außerdem – will man tatsächlich wissen, was einen in 30 oder auch in 2 Jahren erwartet? Ich möchte mir die Spannung erhalten. Wir haben allerdings eine Katze ge… Entschuldigen Sie bitte.« Plötzlich drückt Sam Oscar sich seine Markerhand ans Ohr, ein Art Anruf, wie ich weiß.
»Wirklich? Keine Ahnung … Heute läuft allerdings einiges schief. Warten Sie, ich frage nach.« Der Wissenschaftler legt den Zylinder auf den Tisch und drückt die Hand auf seine Hose, eine hellviolette Jeans, wahrscheinlich damit sein Gesprächspartner nicht mithört. »Die Technik sagt, Ihr Marker sei vom System erfasst worden. Hat man ihn schon aktiviert?«
Was soll ich sagen? Ja, hat man, besser gesagt, wird man, in 2 Jahren, bei der elften Staffel der Show, in der ich den widerlichen Showmaster Wum Randy in die Knie zwinge. Auf keinen Fall dürfen sie das erfahren. Es könnte das Geschehene verändern.
»Miss Hill. Haben Sie mir zugehört?« Oscar deutet auf meine linke Hand.
Ich strecke sie aus. »Natürlich, tut mir leid. Das komische Ding hat man schon aktiviert.«
Sam Oscar hält den Daumen hoch und spricht wieder in seine Handinnenfläche. »Ja, schon geschehen, aber trotzdem keine Anzeige.« Eine Pause, in der er mich freundlich anlächelt. »Noch nicht kalibriert worden? Verstehe, verstehe. Kein Problem, das kann Cleo machen.« Wieder kurze Stille. »Machen Sie sich keine Gedanken. Es wird sich alles einspielen. Gut, bis dann.«
Er schließt die Hand zur Faust und kratzt sich mit der anderen am Kopf. Sein Zylinder fällt vom Tisch, er bückt sich und reicht ihn mir kopfschüttelnd. »Wirklich eigenartig, die Mode Ihrer Zeit. Möchten Sie ihn vielleicht tragen, zu Ihrer Abendgarderobe?«
»Abendgarderobe?«
»Ach richtig, das können Sie nicht wissen. Eine Überraschung, ein Empfang zu Ihrer beider Ehren, für Mr Raymond und Sie. Nur im kleinen Kreis, da werden Sie auch den Showmaster treffen, bevor es losgeht.«
Schon Kays Nachnamen zu hören, lässt meinen Mund trocken werden. »Ist er schon da, der Kandidat, Mr Raymond?«, krächze ich.
»Oh ja, oh ja. In seinem Quartier. Sie werden ihn in«, Sam Oscar schaut in seine Hand, »in 2 Stunden kennenlernen. Alles Weitere erfahren Sie von Sandra. Ich werde noch anderweitig gebraucht. Haben Sie noch Fragen?«
»Wieso ich?« Die Frage kommt mir ganz plötzlich in den Sinn; wie wichtig mir ihre Antwort ist, merke ich erst, da ich sie stelle.
»Nun, wir haben uns in der Vorbereitung zu dem Experiment unzählige mögliche Kandidaten angesehen. Dabei lagen uns gewisse, von der Programmleitung vorgegebene Parameter zugrunde. Der Kandidat sollte zwischen 19 und 21 Jahre alt sein, optisch ansprechend, ein Sympathieträger, Herr der englischen Sprache und im 20. Jahrhundert geboren. Diese Eckdaten trafen auf sehr viele junge Männer zu. Ich bestand darauf, sich für einen Menschen zu entscheiden, dessen Leben sich ohne uns in eine fatale Richtung entwickeln würde, welches er durch diese Chance abwenden kann. Sie, meine Liebe, partizipieren daran in seiner Folge.«
»Wie bitte?«
»Man wird es Ihnen bald erklären. Liegen Ihnen noch weitere Fragen auf dem Herzen?«
Ich schüttle langsam den Kopf, lasse mich nun doch auf die Bettkante sinken, so schwindelig ist mir. Was meinte er mit fataler Richtung? Vielleicht den Brand, bei dem Kays Frau umgekommen ist? Wie wird es ihm jetzt gehen? Er muss mit den Nerven am Ende sein, herausgerissen aus seiner Zeit, aus dem Jahr 1929, seine Frau und sein ungeborenes Kind sind ihm genommen worden, sein Leben ist ein Scherbenhaufen, all das dank dieser abartigen Show. Eine Welle von Mitleid durchflutet mich. Wie gern würde ich jetzt bei ihm sein …
»Nun, gewöhnen Sie sich erst mal ein. Man wird Sie gleich in Ihr Quartier bringen. Ihnen wird es an nichts mangeln. Oder bevorzugen Sie dieses Zimmer?«
»Nein!« Bloß nicht, dieses Trugbild meines Zimmers ist gruselig. »Das Quartier wäre toll. Ist Mr Raymond auch dort?«
»Sicher, sicher, im gleichen Stockwerk.« Oscar dreht den Zylinder unschlüssig in der Hand, legt ihn schließlich wieder auf die Tischplatte und erhebt sich.
»Es hat mich wirklich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich schicke Cleo zu Ihnen, sie wird sich um alles kümmern.«
»Danke.«
Schon ist der Mann, der diese ungeheuerliche Show erst möglich gemacht hat, an der Wand und öffnet den Ausgang. Doch dann dreht er sich nochmals kurz um. »Ich glaube, ich habe mich gar nicht vorgestellt, wie unangenehm. Sam Oscar ist mein Name. Ich bin Vorsitzender des Komitees für ethisch-moralische Richtlinien von Zeitreisen und deren Auswirkungen.«
Ethisch-moralisch? Davon habe ich beim letzten Mal echt nichts mitbekommen!
Unruhig laufe ich durch den Raum und versuche, mir eine Strategie zurechtzulegen. Sie dürfen mir auf keinen Fall anmerken, was ich weiß, will ich es zu meinem Vorteil nutzen.
Es dauert eine Ewigkeit, bis sich die Tür wieder öffnet und eine kleine, drahtige Frau im glänzenden Overall hereinkommt. Sie wirkt hektisch und spricht schnell, als sie mich begrüßt. »Es tut mir leid, ich habe Sie warten lassen. Ich bin Cleo. Alison, richtig?«
Ich nehme die dargebotene Hand. Sie drückt sie kurz und greift gleich nach meiner linken.
»Dann wollen wir mal sehen. Noch nicht kalibriert. Das haben wir gleich.«
Aus einer ihrer zahlreichen Overalltaschen zieht sie einen schlanken Metallstab und drückt ihn in meine Hand, genau in die Vertiefung zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Prozedere kenne ich bereits und schon erscheint ein Schriftzug auf dem Marker, der wie ein Spruchband durch das Rechteck läuft: Willkommen, Alison Hill. Sandra steht Ihnen für alle weiteren Informationen zur Verfügung. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und viel Spaß bei der Show.
Spaß? Angenehmer Aufenthalt? Ich weiß, was mich erwartet. Diese Menschen werden jederzeit meinen Tod in Kauf nehmen. Ich werde durch die Hölle gehen, frieren, hungern, dursten, leiden. Am liebsten würde ich Cleo, die nervös mit dem Fuß wippt, während ich die Anzeige verfolge, all das entgegenschleudern.
»Wer ist Sandra?«, frage ich stattdessen.
»Das Servicehologramm in Ihrem Quartier. Ich bringe Sie jetzt dorthin. Es ist nicht weit, wir nehmen den Cube.«
Cube? Auch das ist neu. Ich folge Cleos kleinen, schnellen Schritten wortlos einen Gang entlang, von dem etliche nummerierte Türen abgehen. Zwischen ihnen ersetzen Bildschirme normale Wände, die in hektischen Bildern Menschen zeigen, die merkwürdige Dinge tun: auf leuchtende Tasten schlagen, sich gegenseitig mit Farbe bespritzen, Bällen ausweichen, bewegungslos in einem Käfig verharren …
»Was tun die?«, frage ich Cleo.
Sie folgt meinem fragenden Blick. »Ach das. Gameshows anderer Sender. Total verbraucht. Unser Format wird die Zuschauer umhauen.«
Wir haben das Ende des Flures erreicht und Cleo hält ihre Markerhand auf eine Markierung. Sofort öffnet sich eine Tür und wir treten in einen milchig weiß schimmernden Kubus, eine Sitzschale in jeder Ecke.
»Gebäude 7, Etage 795, Apartment 23«, sagt Cleo, setzt sich und weist auf den gegenüberliegenden Stuhl.
Kaum dass ich mich niedergelassen habe, spüre ich einen Sog unter meinem Po und kann nicht mehr aufstehen.
»Willkommen im Cube, Alison Hill, willkommen, Cleodores Walker.« Eine samtweiche Stimme, die aus allen Richtungen zu kommen scheint. »Ihre Fahrzeit beträgt 42 Sekunden. Wünschen Sie eine Änderung der Umgebungstemperatur?«
»Nein!« Cleo zupft nervös ihre weißblonden Haare zurecht. Erst als der Cube zischend nach oben schießt, wirkt sie entspannter.
Ein Kribbeln durchläuft meinen Körper, der Druck setzt meinen Ohren zu, dann bremst der Cube seicht ab, um eine Sekunde später nach rechts zu gleiten. Als sich die Tür wieder öffnet, ist mir schwindelig.
»Apartment 23. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.« Wieder die samtweiche Stimme.
Der Sog lässt nach und ich erhebe mich leicht schwankend, trete in einen fensterlosen, vor allen Dingen aber leeren Raum – fast zumindest, an der Wand entdecke ich einen kleinen Bildschirm.
Cleo weist auf ihn und wedelt mit ihrer Markerhand. »Ihre Unterkunft, hier der Paddel. Einfach mit dem Marker aktivieren, ansonsten können Sie ganz normal mit ihr reden. Der Cube kommt in 1 Stunde, 16 Minuten wieder und holt Sie zum Empfang ab, okay? Richten Sie sich ein, wie Sie wollen. Ich muss jetzt los, letztes Meeting vor Showstart.« Ohne Verabschiedung verschwindet Cleo und der Cube mit ihr.
Ratlos sehe ich mich im Raum um. Kein Bett, kein Stuhl, nicht einmal eine Toilette, was aber gerade mein dringendstes Problem ist. Vielleicht kann mir der Bildschirm verraten, wo ich ein Klo finde, denn ich bin mir fast sicher, auch die Menschen der Zukunft müssen mal.
Als ich die matte Fläche berühre, tritt das Gesicht einer freundlich blickenden Frau heraus, absolut lebensecht, wenn sie nicht körperlos wäre. Ich kenne diese dreidimensionalen Projektionen bereits von meinem letzten Besuch in dieser Zeit, wische trotzdem mit der Hand durch ihre Nase. Gruselig.
»Hallo, Alison. Ich bin Sandra. Was kann ich für dich tun?«
»Ähm …« Ich komme mir blöd vor, mit einem Hologramm zu reden, aber meine Blase lässt mir keine Wahl. »Wo ist die Toilette?«
Sofort wechselt das Bild und zwei verschiedene Kloschüsseln werden angezeigt, eine oval, eine eckig, beide mit allen möglichen Düsen und Knöpfen. Du meine Güte! »Das runde Ding.«
»Bitte berühre deine Auswahl mit dem Marker.«
Ich tippe auf die erste Abbildung.
»Bitte wähle das Couleur.«
»Keine Ahnung … ist mir doch egal. Grün, von mir aus.«
»Bitte berühre die Auswahl mit –«
Ungeduldig und mit wippenden Beinen haue ich durch irgendeine Farbe.
»Bitte wähle den Standort.« Ein rechteckiger Raum wird angezeigt, das Klo knallpink und frei schwebend darin.
Das gibt’s doch nicht!
Als ich mit der Hand nach der Miniatur greife, lässt es sich in dem Raum verschieben. Ich setze es in eine Ecke und es dockt sich an dem virtuellen Fußboden an.
Im gleichen Moment werde ich angehoben, sehe auf meine Füße, die auf einer Plattform stehen. »Was zum Teufel –«
Da beginnt sich der Fußboden zu verrücken, wie bei diesem Puzzle, wo man die Teile hin und her schieben muss, um ein vollständiges Bild zu bekommen. Ich sehe starr und mit offenem Mund auf die Bodenplatten, bis sich einige Sekunden später eine pink glänzende Schüssel aus der Erde hebt und mit einem Klonk einrastet.
Mein Gott! Endlich!
Ich springe von der Plattform, noch bevor sie wieder in der Erde verschwindet, und hechte zum Klo. Musik und Meeresrauschen begleiten mich, und als ich mich erleichtert erhebe, strömt mit Blumenduft geschwängerte Luft aus irgendwelchen Düsen. Die spinnen doch.
Was jetzt?
Vielleicht kann ich rausfinden, wo Kay untergebracht ist, zu ihm gehen. Wie verängstigt er sein muss. In seiner Zeit gab es ja noch nicht mal Farbfilm.
Ich gehe zu dem Bildschirm, dem Paddel, zurück. »Sandra?«
Das Gesicht hat mich höflich mit meiner pinken Toilette alleine gelassen und erscheint nun wieder.
»Kannst du jemanden suchen?«
»Bitte nenne die Markernummer der Person.«
»Die Markernummer? Die kenne ich nicht. Aber ich suche Francis Kay Raymond. Er müsste irgendwo hier sein, in diesem Gebäude.«
Sandra schließt kurz die Augen, als müsse sie nachdenken. »Francis Kay Raymond befindet sich in Apartment 92, Etage 795.«
»Danke.«
Schon bin ich an der Tür. Mein Herz hämmert – dumm, dumm, dumm, dumm … Ich muss mich beruhigen. Einatmen, ausatmen, Marker auf das Handsymbol an der Wand und beten, dass sie sich öffnet.
»Du bist nicht berechtigt, den Cube anzufordern.« Sandras immer freundliche Stimme.
Ich fahre herum. »Ich muss wissen, wie es Kay geht!«
»Seine Werte liegen im Normalbereich. In 59 Minuten wird der Cube eintreffen. Möchtest du mit dem Einrichten des Apartments fortfahren?«
»Nein! Doch.« Ich muss mich setzen. »Ich brauche einen Stuhl.«
»Bitte wähle die Art des Stuhls.«
Ich verdrehe genervt die Augen, was Sandra unbeeindruckt lässt, und durchforste die dargebotenen Sitzmöbel. Willkürlich treffe ich eine Auswahl und nach kurzer Zeit stehen ein altmodisches Bett, ein gläserner Stuhl, eine Dusche mit Spiegel und verwirrend vielen Knöpfen sowie ein scheußlicher, goldschimmernder Tisch in meinem Zimmer.
Als ich den Mund öffne, um Sandra nach einer Haarbürste zu fragen, ertönt ein leises Ping und die Tür öffnet sich zum Cube. In ihm steht eine große Kiste auf Rollen. Kaum dass ich sie berühre, fährt sie in mein Zimmer und der Cube verschwindet zischend.
»Was ist das nun wieder?«
»Deine Garderobe für den Empfang.« Die Frage galt mir, aber Sandra scheint auch hier die Antwort zu kennen. »Möchtest du einen Kleiderschrank auswählen?«
Ich schüttle stumm den Kopf, öffne die graue Box. Perlmuttfarben schimmernder, bauschiger Stoff quillt heraus, das Material wirkt fremdartig, und als ich mit der Hand darüberstreiche, knistert das seidenweiche Gewebe. Vorsichtig hebe ich es heraus, lasse den Stoff auseinandergleiten.
Wow! Ein Kleid, so wunderschön, mit dünnen, glitzernden Trägern, seitlich hochgeschlitzt und am Rücken eng anliegend. Ein Traum! Und viel zu verführerisch. Ich halte mir das Kleid an den Körper, drehe mich vor dem Spiegel der Dusche. Es scheint mir auf den Leib geschneidert zu sein.
Soll ich es anziehen? Muss ich es anziehen? Kay wird hingerissen sein und für einen Moment male ich mir aus, wie ich einen Raum betrete, Kay verschüchtert, wie ein gescheuchtes Tier, zwischen den Unmenschen dieser Show … unsere Blicke treffen sich. Ich lächle ihm zu, er kann das Gesicht nicht abwenden, spürt, dass wir füreinander geschaffen sind … Okay, Alison, komm wieder runter von deiner Wolke!
Nein! Ich lasse mich nicht von ihnen einwickeln. Auch nicht in ein so schönes Kleid. Ich werde sie spüren lassen, dass ich mich ihnen nicht beuge. Sie wollen mich vorführen? Gern, aber mit nackten Füßen und in einem verschwitzten Isovantage-Anzug.
Entschlossen feuere ich das Kleid zurück in die Kiste, es fällt bauschend auf ein paar Riemchenschuhe, die am Boden liegen. Kay wird mich in jeder Realität lieben und in jedem Outfit.
Je weiter die Zeit voranschreitet, desto nervöser werde ich. Eine Weile sitze ich mit wippenden Beinen auf dem Stuhl, dann lasse ich mir Wasser aus der Dusche übers Gesicht laufen. Es riecht nach Mandeln. Schließlich hetze ich nur noch zwischen Bett und Stuhl hin und her, bis endlich das erlösende Ping erklingt und der Cube sich öffnet.
Niemand ist darin, aber als ich mich setze, jagt der Kubus mit mir nach oben. Anscheinend kennt er sein Ziel und nach wenigen Sekunden erklärt er, es erreicht zu haben.
»Willkommen in der Sky-Lounge, Alison Hill.«
Die Tür öffnet sich.