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Das Zille-Kind

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Ich war ein Zille-Kind, von Anfang an. Schon in meinen ersten Erinnerungen nannte mein Vater mich so: »Püppi, du bist n richtijes Zille-Kind.« Was er damit meinte, trifft im Kern noch heute auf mich zu. Denn ich war schon ganz früh allein unterwegs in unserem Berliner »Milljöh«, wie die Kinder auf den Zeichnungen von Heinrich Zille, die schmuddeligen Gören auf den Straßen, die überall dabei sind, wo etwas los ist. So ein Gör war ich. Ich trieb mich rum, spielte gern im Dreck, war ständig auf der Suche nach Neuem und hatte keine Angst. Ich war ein Abenteuerkind, kaum dass ich laufen konnte. Und dieser Abenteuergeist prägt mich bis heute. In all den Jahren meines Lebens hat er mich angetrieben.

Meine Eltern stammen beide aus Berlin, mein Vater Kurt aus einer wohlhabenden Familie mit eigenem Restaurant, Zur Kaiserburg , meine Mutter Gisela aus Arbeiterverhältnissen. Sie lernten sich dort kennen, wo sich ihr Leben abspielte: im Theater. Meine Mutter hatte die renommierte Ballettschule von Victor und Tatjana Gsovsky besucht und war als Tänzerin engagiert worden. Mein Vater war als junger Schauspieler nach Trier gegangen und hatte später Verträge in Berlin bekommen. Zuerst im Theater am Nollendorfplatz, später im Admiralspalast, wo meine Mutter in Operetten mitwirkte. Da mein Vater im Zweiten Weltkrieg nicht eingezogen wurde, konnten sie sich nach ihrer Hochzeit 1942 zusammen eine Wohnung nehmen. Ein Jahr später wurde Schiepchen geboren, mein Bruder Michael. Und als meine Mutter 1945 mit mir schwanger war und sie ausgebombt wurden, zogen meine Eltern zu Freunden nach Greifswald. Dort kam ich am 25. Oktober 1945 zur Welt. Dank seiner Kontakte zu den russischen Besatzern hatte mein Vater dort einen guten Posten als Intendanzvertreter am Theater. Er leitete das Ensemble, spielte selbst und führte Regie. Auch später in Berlin hielt er mit seinem Charme und seinem Riecher für gute Geschäfte auf dem Schwarzmarkt unsere Familie in dieser Zeit nach dem Krieg über Wasser.

Dennoch zog es meine Eltern 1947 nach Berlin zurück. Ich war zwei Jahre alt, und weil es kaum Wohnungen gab, kamen wir bei meiner Oma Grete in Pankow unter. Wir schliefen zu fünft in ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung. Aber die Enge machte keinem etwas aus, im Gegenteil: Wir krochen in der großen Wohnküche zusammen und wärmten uns aneinander, besonders im ersten Winter, der entsetzlich hart war. Die kaputten Fenster waren nur mit Pappe abgedichtet, es zog und wurde eisig kalt in der Nacht. Meine Eltern schleppten die Kohlen aus dem Keller und heizten den Ofen an. Alle drängten sich um dieses einzige warme Plätzchen. Hier wurde gespielt, gegessen und erzählt. Hier stand die große Schüssel, wenn mein Bruder und ich gewaschen wurden. Oma nähte aus Stoffresten und allem, was zur Hand war, Kleider für uns. Mami legte die Brennschere auf den Herd, machte mir Locken und eine Schleife ins Haar. Ich fühlte mich geborgen in meiner kleinen Welt. Als es wärmer wurde, ging ich zum Spielen nach draußen. Es gab viele Hinterhöfe, und ich liebte es, diese verborgenen Winkel zu erkunden. Kleine Gärten, wo man Äpfel stibitzen konnte, Gerümpel und Drecklöcher. Am liebsten spielte ich im Dreck. Wie eine kleine Ratte, eine Ratte mit Schleife im Haar.

1949, als ich vier Jahre alt wurde, zogen wir nach Schöneberg in die Hohenstaufenstraße. Meine Eltern hielten jeden Tag einen Nachmittagsschlaf. Das war ihr Ritual, seit ich denken kann, und wir Kinder mussten uns diesem Rhythmus anpassen. Ich tat es, ohne zu quengeln, und ging allein runter auf die Straße. Dort lag viel in Trümmern. Die Häuser waren noch nicht wieder aufgebaut, zwischen den paar stehen gebliebenen klafften riesige Lücken, vieles war provisorisch. Für mich war es ein großer Abenteuerspielplatz. Überall gab es etwas zu entdecken, ständig veränderte sich unser Kiez. Ich lief herum und schnüffelte, steckte meine Nase in alles hinein. Oft fand ich etwas, das mich faszinierte und das ich dann wie einen Schatz nach Hause trug. Ein Stück Metall, ein altes Rohr, einen Ring. Meistens etwas aus Metall, etwas Glitzerndes, das mir besonders und wichtig vorkam. Etwas Elementares. Wenn ich es stolz meinen Eltern zeigte, sagten sie: »Nee, Püppilein, det kann gleich innen Ascheimer.« Aber ich dachte jedes Mal wieder: Jetzt kommt etwas ganz Tolles, jetzt werden sie Augen machen! Es waren immer alte Sachen, oft kaputt, aber mir bedeuteten sie viel, weil ich sie gerade erst entdeckt hatte. Schon damals steckte diese Unverdrossenheit in mir, die so typisch für mich ist: Heute beeindrucke ich euch vielleicht nicht, aber morgen sollt ihr mal sehen, womit ich euch überrasche!

Unserem Haus gegenüber lag eine Kohlenhandlung im Keller. Dort stieg ich die Treppen hinunter und mischte mich unter die Leute. Ich saß auf den Kohlenkisten und fand es großartig, wenn ich ganz schwarz wurde. Ein richtiges Schmuddelkind. So war ich bald bei allen im Quartier gut bekannt, und noch dreißig Jahre später, als ich zurückkam, um zu sehen, was aus meiner Straße geworden war, erkannte mich der Kohlenmann wieder – mittlerweile der Enkel des alten Händlers: »Du bist doch die kleine Püppi!«

Am liebsten stahl ich mich in Häuser, die ich nicht kannte. Unbekanntes Terrain erobern! Da die Türen nicht abgeschlossen waren, drückte ich einfach die Klinke herunter und schob mich hinein. Dann stieg ich die Treppen bis ganz nach oben, schaute, ob irgendwo eine Tür offen stand und ich einen Blick in eine Wohnung erhaschen konnte. Ich wollte wissen, wie die anderen lebten, was sie besaßen, wie es dort roch. Einmal entdeckte ich in einem Nachbarhaus eine Badewanne, die wohl alle Hausbewohner benutzten. Ich war ganz gebannt von dem Anblick, denn ich selbst wurde ja nur in einer Schüssel gewaschen. Eine Badewanne – das war etwas ganz Besonderes zu diesen Zeiten, der pure Luxus, die musste man sich leisten können. Diese Entdeckung beeindruckte mich so tief, dass ich noch heute einen Wannentick habe. Nichts geht über ein schönes heißes Bad. Und wenn ich ausgestreckt im Wasser liege, denke ich an meine Ausflüge ins Nachbarhaus zurück.

Langweilig wurde mir nie auf meinen Erkundungstouren. Die Neugier trieb mich an und ich genügte mir selbst vollkommen. Spielsachen interessierten mich nicht. Und auch wenn ich welche hatte, konnte ich damit nichts anfangen. Einmal schenkten meine Eltern mir unter großen Opfern eine Puppe, und mein Bruder und ich rissen so lange daran, bis sie kaputt war. Ich war in dieser Hinsicht ein altes Kind: Ich wollte mich mit nichts anfreunden, ich brauchte niemanden. Ich konnte allein sein, vom ersten Tag an. Meine Mutter erzählt noch immer, dass sie mich als Baby in Greifswald bei schönem Wetter zum Schlafen auf den Balkon stellte und dass ich nie schrie. Wenn sie nach mir schaute, strahlte ich sie mit großen blauen Augen an. Ich war schon damals ein Kind, das nichts brauchte. Ich war ein einsames, glückliches Kind.

Dass ich trotz der schweren Nachkriegsjahre so aufwachsen konnte, verdanke ich meinen Eltern. Sie schafften es, dass ich mich behütet und versorgt fühlte, obwohl mein Vater zu dieser Zeit kein festes Einkommen hatte. Aber Papa war ein Macher. Er trieb alles auf, was wir brauchten, beschaffte auch Geld, keiner wusste wie. »Er schneidet das Geld aus den Wänden«, sagte ein alter Freund meiner Eltern einmal – ein Satz, der zum geflügelten Wort in unserer Familie wurde. Mit seinem besonderen Wesen passte mein Vater perfekt ins Theatermilieu. Alle dort fühlten sich instinktiv miteinander verbunden und halfen sich gegenseitig, wo immer sie konnten: Der eine hatte Zigaretten zu bieten, dafür bekam er etwas zu essen. Ein anderer tauschte Theaterkarten gegen Brot. Das war genau das Richtige für Papa. Er wusste immer genau, wen er am besten einschalten musste. So lebten meine Eltern in und von der Theaterwelt. Schon im Krieg, als die Bomben auf Berlin fielen, war das Theater am Nollendorfplatz ihr Zufluchtsort. Die gepackten Koffer standen immer griffbereit, und wenn die Sirenen heulten, liefen sie mit Schiepchen auf dem Arm hinüber und flüchteten mit den anderen in den Keller. Dort gab es alles, was sie brauchten. Michael, der noch ein Baby war, bekam sofort seine Milch. Alle sorgten füreinander.

Der gute Riecher meines Vaters hatte meinen Eltern schon vorher genützt: Nach ihrer Hochzeit fuhren sie 1942 nach Italien, mitten im Krieg, als niemand eine solche Reise unternahm. Mein Vater gehörte damals zu einem Künstlerklub, der von den Nazis geduldet wurde. Er selbst war kein Nazi und nie in der Partei, aber er wusste immer, wo er sich blicken lassen musste, was er sagen durfte und was er sich besser verkniff. Er konnte gut manövrieren in diesen Zeiten, in denen das überlebenswichtig war. Und so nutzte er seine Beziehungen, um eine Hochzeitsreise einzufädeln: nach Malcesine am Gardasee. Noch gab es dort keine Touristen und meine Eltern erlebten Italien ganz ursprünglich. Auf den alten Fotos strahlen sie vor lauter Glück wie Kinder. Papa ließ sich einen Anzug schneidern, sie kauften Stoffe und eine Riesensalami. Doch auf der Rückreise an der Grenze nahm der Zoll ihnen alles wieder ab. Nur die schönen Erinnerungen an diese drei Wochen, die durften sie behalten.

Auch zu den Festtagen schaffte mein Vater es jedes Mal, Dinge aufzutreiben, für die wir eigentlich kein Geld hatten. Obwohl er nichts verdiente, zauberte er irgendwo Geschenke her. Keiner wusste, wie er das machte. Einmal bekam ich einen Puppenwagen zu Weihnachten, einen gebrauchten, den Papa irgendwo organisiert hatte. Ich spielte zwar nicht mit Puppen, aber von diesem Ding war ich begeistert. Damit konnte ich etwas anfangen. Es hatte ja Räder und ließ sich durch die Gegend schieben, die Straße runter bis zur alten Apotheke an der Ecke und wieder zurück. Es war mir auch völlig egal, ob was darin lag. Ich gurkte mit dem Wagen durchs ganze Viertel und war in meinem Element.

Erst als ich älter wurde, begriff ich, dass meine Eltern damals für uns Kinder aus nichts ganz viel geschaffen hatten. Wir besaßen wenig, aber das war mit so viel Liebe gemacht, dass wir es wunderbar fanden. Aus wenig ganz viel machen – das trieb meinen Vater an und diesen Geist habe ich übernommen. Für Papa gab es keine Barrieren. »Det kriejen wa hin!« Und er hat es hingekriegt. Er sah überall nur Möglichkeiten. Mit dieser Haltung schickte er mich auf meinen Weg durchs Leben. Ohne sie wäre ich heute nicht, was ich bin.

Ende der Vierzigerjahre wurde es beruflich schwierig für meinen Vater in Berlin. Er fand keine Arbeit mehr, auch nicht für einzelne Stücke. Und so entschied er kurzerhand: »Wir ziehn nach Hamburg.« Er fuhr allein vor, knüpfte Kontakte und suchte eine Unterkunft. Die ersten Engagements fand er beim Hörspiel, das damals boomte – und für das Hamburg mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk, wie er damals noch hieß, ein wichtiger Ort war. Als mein Bruder eingeschult wurde, zogen er und meine Mutter unserem Vater hinterher. Ich blieb allein in Berlin bei Tante Tuto, der Schwester meines Vaters, weil in Hamburg noch kein Platz war für uns alle.

Bei der Abfahrt stand ich mit Tante Tuto am Bahnsteig. Noch immer sehe ich vor mir, wie Mami sich aus dem Fenster beugte und ihre Arme nach mir ausstreckte, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ich schrie verzweifelt, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Mein neues Zuhause lag in der Klopstockstraße, direkt am Tiergarten. Tante Tuto und Onkel Bruno bekamen für meine Kost und Logis monatlich Geld von meinen Eltern. Sie hatten selbst keine Kinder und zumindest die Tante konnte nicht viel mit mir anfangen. Sie war eine affektierte Person, bei der immer alles leuchten musste. Sie liebte grelle Hüte, knalliges Rot auf den Lippen – krasses Jugendrot nannte man das – und bunten Schmuck. In ihrer Schatulle lag ein Paar Kirschohrringe, das sie mir schenkte und an das ich später denken musste, wenn ich mir im Sommer beim Spielen Kirschen über die Ohren hängte. Mit ihrem schrillen Zeug fand ich Tante Tuto einfach affig. Ich mochte lieber Onkel Bruno, der mit mir Scherze trieb und mich immer Sputnik nannte. Denn dass ich mich am liebsten rumtrieb, das änderte sich auch hier nicht, zumal ich die Wohnung nicht mochte. Alle Zimmer gingen vom großen Flur ab und ich musste ständig durch die kalte Halle mit dem grasgrünen, ramponierten Igelitboden. Nur das Wohnzimmer mit dem Erker war gemütlich. Hier stand der Esstisch, der immer ein bisschen wackelte, wenn die Bahn direkt hinter dem Haus vorbeirumpelte. Trotzdem saß ich nie lange am Tisch. Ich wollte schnell wieder runter, um die Gegend zu erkunden. Wupp – weg war ich. Und wenn ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich Onkel Bruno rufen: »Sputnik, wo biste denn? – Isse schon wieder weg?«

Das Haus war ein wunderschöner alter, roter Bau mit weißen Giebeln und Erkern, direkt am Bahndamm mit den Backsteinarkaden. Damals gab es schon die ersten Händler, die ihre Buden unter den Bögen aufschlugen, darunter auch einen Stand mit Süßigkeiten. Hin und wieder gab mir Tante Tuto einen Sechser von den paar Puseratzen, die mein Vater schickte, oder Oma steckte mir einen Groschen zu. Dann kaufte ich mir Zuckerstangen oder meine Lieblingsbonbons, die kleinen zuckrigen Zitronenscheiben. Auch gegenüber im Tiergarten gab es immer etwas zu sehen. Und ein paar Schritte weiter stand eine alte Kirche. Sie war meine neueste Entdeckung und bald mein ganz besonderer Tick: Jeden Sonntag um elf Uhr ging ich zum Gottesdienst. Ich schnappte mir, obwohl ich noch nicht lesen konnte, ganz selbstverständlich das Gesangbuch mit dem goldenen Kreuz und tat, als würde ich vom Blatt singen, und zwar aus voller Kehle: »Wach auf, mein Herz, und singe dem Schöpfer aller Dinge …« Ich fand es wundervoll. Allein der Geruch nach altem Gemäuer und Kerzen, dieses Weihnachtliche, wonach es in Kirchen immer riecht, das zog mich unglaublich an.

So richtete ich mich schnell ein, war auch hier allein unterwegs, entdeckte das Viertel. Mehr brauchte ich nicht. Wenn Post aus Hamburg kam, sehnte ich mich zwar nach Mami, aber ich nahm es hin, dass ich warten musste. Ich trocknete meine Tränen und lief wieder raus zum Spielen. An manchen Tagen holte Oma mich ab, dann ging ich mit zu ihr nach Pankow. »Oma kommt!« – das war jedes Mal ein großes Ereignis, obwohl es feste Tage dafür gab. Wir marschierten zu Fuß den ganzen langen Weg von West nach Ost, den sie schon vorher allein gegangen war, um das Geld für die Bahn zu sparen. Stunden dauerte das, also blieb ich über Nacht bei ihr. Es war wie Nachhausekommen. Morgens lief ich über die Straße zum Bäcker, kaufte Schrippen, die frisch vom Ofenblech in die Holzkiste fielen, und dann frühstückten wir in der Wohnküche, die ich so gern mochte. Oma lebte von der Hand in den Mund. Sie arbeitete als Schreibkraft in einem Büro und putzte nebenbei, um noch etwas dazuzuverdienen. Es reichte gerade zum Überleben und doch fehlte uns nichts. Mit Geld hatte das nie etwas zu tun. Geld hatten wir nie. Wir waren reich an Gefühlen.

Oma nähte noch immer alle Kleider für mich, und das mit so viel Liebe. Sie zeigte mir, wie sie mit Nadel und Faden die tollsten Dinge zauberte, und ich schaute ganz genau zu. Alles, was sie genäht hatte, war mir ganz besonders wichtig. Ich hatte immer Angst, dass es mir jemand kaputt machen oder wegnehmen könnte. Und ich war stolz, wenn ich in meinem schönen Mantel vor die Tür trat und dachte: »Den hat Oma für mich gemacht.«

Ich fühlte mich mit ihr besonders verbunden. Schon äußerlich, denn sie ist die Einzige in der Familie, der ich ähnlich sehe. Und Oma hätte sich das Herz herausgerissen, um mir etwas Gutes zu tun. Tief in mir wusste ich, dass ich jederzeit zu ihr hätte gehen können. Zur Not wäre ich den langen Weg mit meinen fünf Jahren allein gelaufen. Das traute ich mir durchaus zu.

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