Читать книгу Ich steig aus und mach 'ne eigene Show - Kirsten Gleinig - Страница 8
Sauberer Schweiß
ОглавлениеIn diesem Jahr durfte ich neben der ersten Klasse der Kinderballettschule auch die zweite Klasse besuchen. Es gab damals noch nicht die strikten Hierarchien, die heute alles regeln. Entscheidend waren Talent und Fleiß der Schüler. Und da ich begabt war und mich voll einsetzte, ging ich nun viermal in der Woche zum Unterricht. Mit dem Wechsel in die zweite Klasse war etwas ganz Wichtiges verbunden: Isabella Vernici nahm mich beiseite. »Es ist jetzt Zeit für deine errrsten Spitzenschuhe«, sagte sie. Auf diesen Moment hatte ich lange gewartet, denn es dauerte eine Weile, bis man von den Schläppchen umsteigen durfte. Ich lief mit klopfendem Herzen nach Hause und stürmte durch die Tür: »Mama, Papa, ich brauche Spitzenschuhe!«
Man konnte sie nicht einfach in Hamburg in einem Laden kaufen. Wir mussten sie bei der Firma Zeta in Bruchsal bestellen, für fünfunddreißig Mark. Das war kein Pappenstiel, aber meine Eltern sahen ja, wie ernst es mir war, und waren bereit, das Geld zusammenzukratzen. Damit die Schuhe genau passten, sollten wir meinen Fußumriss zeichnen. Schon das war ein Ereignis: Mein Vater stellte mich auf ein Papier, setzte seine Brille auf die Nasenspitze und zeichnete mit gespitztem Bleistift ernst und bedächtig um meinen Fuß herum. Dann steckten wir das Blatt in einen Umschlag und ich trug ihn wie eine wichtige Botschaft zum Briefkasten. Nun hieß es warten. Täglich hoffte ich auf Post, wenn ich aus der Schule kam. Endlich kam ein Einschreiben, ein schmales kleines Paket. Vorsichtig öffnete ich den Karton und da lagen sie endlich: die schwarzen Zeta-Schuhe, in durchsichtige Folie gehüllt. Die ganze Familie stand um mich herum und staunte. »Na, denn musste det ja auch ma anziehen, ja, nu zieh doch ma an, wir sind ja alle janz uffjeregt!«, rief mein Vater. Wieeinen Schatz hob ich die Schuhe aus der Schachtel und schlüpfte hinein. Was für ein Gefühl! Ich sah mich schon als Primaballerina. Ich wusste genau, wohin ich wollte, und nun hatte ich die passenden Schuhe.
Sie waren mein ganzer Stolz und ich pflegte sie wie einen Teil von mir. Jeden Abend, wenn ich vom Unterricht kam, putzte ich sie, obwohl es nicht viel zu putzen gab. Aber sie sollten immer sauber und perfekt sein. Auch mein Trikot, das Schiepchen mir geschenkt hatte, wusch ich selbst aus und hängte es auf, damit es am nächsten Tag wieder in Ordnung war. Kleine Löcher nähte oder stopfte ich selbst.
Als ich vierzehn wurde und seit fünf Jahren zum Ballettunterricht in der Staatsoper ging, erlaubte Isabella Vernici mir, hin und wieder die Elevinnenklasse zu besuchen, also mit den Mädchen zu üben, die an der Staatsoper die Tanzausbildung machten. Wie bei den Erst- und Zweitklässlern galt: Wer gut genug war, durfte teilnehmen. Ich nutzte jede Gelegenheit und war stolz, mit denen an der Stange zu stehen, deren Beruf bald das Tanzen sein würde. Der Leiter des Balletts, der die Klasse damals unterrichtete, hieß Gustav Blank. Er war wohl erst um die fünfzig, für mich aber hatte er schon etwas Seniorenhaftes, wie der Ballettmeister auf den Bildern von Edgar Degas, dieser niedliche Alte, der sich bei der Probe zwischen den Ballerinen auf sein Stöckchen stützt. Auch Gustav Blank stand so zwischen uns, weißhaarig und klein, wie eine Märchenfigur. Er war immer freundlich und leise, auch bei Kritik, und trotzdem ganz präzise: »So geht es nicht. Ihr wisst, wie es geht. Jetzt machen wir es richtig.« Statt eines Trainingsanzugs trug er eine graue Hose, dazu ein schlohweißes Hemd und Schläppchen. Mit den Händen klatschte er den Takt für unsere Übungen an der Stange: »Und eins und zwei und drei und vier. Das Ganze im Plié und zwei und drei und vier. Und noch mal und Fouetté und da sind wir wieder. Und zweite Position und zwei und drei …« Dabei sprang seine ganze Freude am Tanz auf mich über. Ich konnte es kaum erwarten, in seine Stunden zu gehen.
Das Ende meiner Schulzeit rückte näher, und für mich war vollkommen klar, dass ich nun die dreijährige Tanzausbildung an der Staatsoper absolvieren würde. Daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Ich hatte diesen Weg eingeschlagen und wollte ihn um jeden Preis weitergehen. Meine Eltern kannten meinen Wunsch nur zu gut, sie hatten ja erlebt, dass ich all die Jahre nichts anderes wollte als tanzen. Trotzdem war ihnen nicht wohl dabei. Die Ausbildung anzufangen war eine Lebensentscheidung, und sie fürchteten, dass ich in meinem Ehrgeiz enttäuscht werden könnte: »Is ja janz klar«, sagte mein Vater, »wenn de die Letzte in der achten Reihe bist, denn is det natürlich n hartet Brot. Det muss sich ja lohnen, det de denn auch da vorne stehst. Sonst is der Beruf ja nischt. Det is so, wie wenn de Schauspieler wirst und nur sachst: Herr Graf, die Pferde sin jesattelt. Da biste ooch nich glücklich.« Aber ihre Einwände beeindruckten mich nicht. Außerdem passten Zweifel nicht zu dem, was mein Vater mir beigebracht und vorgelebt hatte. Und das hielt ich ihm vor: »Papa, du hast immer gesagt, man soll die Dinge gleich machen. Nicht sagen: Vielleicht morgen oder irgendwann später. Wer weiß, was kommt. Und das ist jetzt meine Chance. Jetzt mach ich Ballett, jetzt!« Das überzeugte ihn: »Hast ja recht. Wenn ick det jesacht habe, hab ick det jesacht.« Und letztlich waren sie froh und dankbar darüber, dass ich so war. Dass ich wusste, das ist mein Weg, dahin will ich!
Um meinen Bruder sorgten sie sich mehr, denn er hatte keine Vorstellung und keine Wünsche. Er hatte zwar an der Rudolf-Steiner-Schule eine bessere Schulbildung als ich und spielte viel Theater, aber er wusste nicht, was er wollte. Er hatte kein Ziel. Das war später ein viel größeres Problem für meine Eltern. Ich hingegen hatte etwas, wofür ich mich mit Haut und Haar engagierte und worauf ich aufbauen konnte. Ich bewegte mich in einer Welt, in der ich etwas erlebte, von der ich zu Hause erzählte. Ich brannte fürs Ballett.
So startete ich im Sommer 1960 voller Begeisterung in meine Tanzausbildung an der Hamburgischen Staatsoper. Endlich gehörte ich zu den Elevinnen! Neben unserem täglichen Training gingen wir an jedem Mittwoch zur Berufsschule. Die Schule in der Lohmühlenstraße hatte einen Sektor speziell für Künstler, den wir zusammen mit den Schauspielern besuchten. Wir lernten alles, was wir auf der Bühne brauchen würden: Literatur, Französisch, Englisch – sogar Anatomie. Alles hing mit Tanz und Schauspiel zusammen und plötzlich war das Lernen kein Problem mehr für mich. Ich sog den Stoff förmlich auf. Ganz besonders faszinierte mich Anatomie. Sie lehrte mich, was ich beim Ballett tat und warum. Ich hatte die Zeichnungen von Leonardo da Vinci haarklein im Kopf, studierte alles, was mit Symmetrie zu tun hatte, und wollte wissen, was ich meinem Körper zumuten, wie weit ich gehen konnte. Endlich verknüpfte sich der Stoff mit meinem Leben.
Die praktische Ausbildung bei Gustav Blank kannte ich ja schon, aber jetzt gehörte ich selbst hierher und bekam einen eigenen Spind in der Garderobe. Schon beim Reinkommen empfing mich ein Geruch, der Lust auf die Übungen machte: ein Geruch nach sauberem Schweiß, nach guter Arbeit, ganz angenehm und klar. Dann trat ich in den großen Saal mit den Spiegeln an zwei Seiten und dem Klavier in der Ecke. Die Pianistin, eine gemütliche ältere Dame mit strengem Haarknoten, riesigen Ohrringen und viel Schminke im Gesicht, saß schon auf ihrem Hocker und nickte mir freundlich zu. Ich kannte sie seit meinen ersten Tagen im Kinderballett und mochte sie sehr, obwohl sie mich etwas an Tante Tuto erinnerte. Aber sie strahlte so viel Ruhe und Wärme aus, dass ich mich in ihrer Nähe sofort wohlfühlte. Wenn alle an der Stange standen, fing sie an zu spielen und Gustav Blank sagte die Übungen an. Er duzte uns alle und hatte einen unglaublichen Humor.
Viele seiner Sätze klingen mir bis heute im Ohr. Wenn zum Beispiel jemand etwas schief dastand, hieß es: »Du hängst da wie Turnvater Jahn zwischen Reck und Barren.« Oder: »Sag mal, du siehst aus wie Quasimodo. Bist du so geboren? Ihr müsst ein Kreuz machen, Kinder.« Er brachte uns bei, dass Wirbelsäule und Schultern ein Kreuz bilden und dass wir, wenn wir dieses Kreuz nicht halten, keine Pirouette drehen können. »Ihr müsst bedenken, dass alles, was ihr tut, aufgebaut ist wie eine Linie. Verlasst ihr sie, könnt ihr euch nicht auf der Spitze halten. Wenn ihr auf der eigenen Achse bleibt, habt ihr gewonnen.« Das verband sich bestens mit dem Anatomieunterricht, und so verinnerlichte ich diese Dinge ganz und gar. »Ballett ist ehrlich. Ballett ist wahr. La vérité «, sagte Gustav Blank. Alle liebten ihn, für diese Weisheiten und für seinen Witz, denn er verband jede Kritik mit Humor. »Was wackelst du da hinten rum? Nimm dir mal ein Beispiel an Anna Pawlowa. Die hat so lange auf der Spitze gestanden, dass ihr Partner zwischendurch in die Kantine gehen konnte.« Mit seinem scharfen Blick sah er alles, jede noch sokleine falsche Bewegung. Und er bemerkte auch, wenn ich ein neues Trikot trug, nach jedem meiner Geburtstage, denn Trainingskleider waren das Einzige, was ich mir wünschte. Dann kam er richtig ins Schwärmen: »Du heute wieder ganz in Blau – nein, so was, entzückend!«
Konnte eine von uns etwas besonders gut, holte er sie nach vorn, damit sie es zeigte. Bei mir waren es die Fouettés , die endlosen Drehungen auf der Spitze, bei denen sich das Spielbein wie ein Propeller im Kreis dreht. Keine drehte Fouettés so wie ich. »Evelinchen, zeig uns mal, wie das geht«, sagte Gustav Blank eines Tages. Vor den Augen aller Elevinnen wirbelte ich stolz quer durch den Ballettsaal. Und Gustav Blank nickte zufrieden und sagte: »Aus solchem Holz werden Tänzerinnen geschnitzt.« Da wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen und vor Freude gleich noch einmal durch den Saal gewirbelt. Wenn er es so sah, dann musste es stimmen: Ich war Tänzerin!
Als ich mit meiner Ausbildung begann, war Rolf Liebermann Intendant der Hamburgischen Staatsoper. Noch heute bin ich stolz darauf, dass ich unter ihm groß werden durfte. Er hat mit seinem umfassenden Kunstverständnis mein Leben geprägt. Für ihn gehörte in der Musik alles zusammen: Instrumente, Gesang und Tanz. Schon auf den ersten Blick war er eine eindrucksvolle Erscheinung, groß und schlank, und er hatte eine Aura, in die ich mich hätte verlieben können. Er verstand sich nicht als Verwalter des Theaters, sondern als kreativen Teil des Ganzen. Darum war er ständig im Haus unterwegs, sprach mit allen, von der Opernsängerin bis zum Bühnentechniker, und suchte nach einer gemeinsamen Lösung. Das hieß auch, dass er die Dinge kritisch betrachtete, und da er tatsächlich von allen Künsten viel verstand, war seine Kritik auch im Ballett immer fundiert. »Um wirklich oben zu sein, musst du von allem etwas beherrschen.« Das war sein Credo, das er uns vermittelte. 1962 probten wir für die Erstaufführung von Les Sylphides , einem handlungslosen, abstrakten Ballett von Chopin, das zu Liebermanns Lieblingsballetten zählte. Eine der Tänzerinnen war krank geworden und ich sollte ihren Part übernehmen. Liebermann saß schon während der Proben auf seinem angestammten Platz: Reihe eins, dritter Platz rechts. Von dort aus verfolgte er jeden Abend die Vorstellung. Ich stand in der Gruppe der Sylphiden und wir alle trugen lange weiße Tutus. Die Elevin, die ich ersetzte, war gefühlt drei Köpfe kleiner als ich, sodass die Proportionen in der Gruppe nicht mehr stimmten: Mein Tutu reichte nicht so tief wie die anderen, es wippte an meinen langen Beinen weit darüber. Mitten in unseren Tanz hinein stürzte Liebermann, völlig außer sich, auf die Bühne: »Frau Vernici«, rief er in seinem Schweizer Dialekt, »wer hat dem Kind dieses Kleid verpasst?« – »Guten Tag, Herr Professor. Eveline, komm doch bitte mal her. Darf ich Ihnen unser jüngstes Mitglied vorstellen: Eveline Klopsch.« – »Guten Tag, mein Kind. Sie können ja nichts dafür. Aber dieses Kleid ist doch zu kurz. Ja, sieht denn das keiner? Da kann man sich ja gar nicht auf die Musik und die Schritte konzentrieren, sondern guckt nur immer auf das kurze Kleid. Wir sind doch nicht in der Provinz!« – Isabella Vernici, die mit uns die Szenen einstudierte, gab mir ein Zeichen. Mit einem Affenzahn düste ich in die Schneiderei, wo mir ruck, zuck ein neues Kostüm geschneidert wurde.
Kaum war ich wieder auf der Bühne, tauchte das nächste Problem auf. An einer Stelle im Ballett musste eine der Solistinnen nach vorn trippeln und auf Halbspitze an der Rampe eine Arabesque penchée machen, mit nach oben ausgestrecktem Bein. Und da die halbe Spitze in dem harten Spitzenschuh viel schwieriger zu halten ist als im Schläppchen, wackelte sie. Zum großen Missfallen von Liebermann, der nun zum zweiten Mal aufsprang: »Es ist mir vollkommen gleichgültig, wer hier Gruppe, Solo, Ballerina oder Primaballerina ist! Ich will, dass da vorne eine steht, die nicht wackelt! Sie sind doch nicht auf dem Seil. Da schaut doch jeder hin. Dass ihr das gar nicht seht. Wer ist hier imstande, das vernünftig zu machen?« Jetzt traten die Tänzerinnen vor, eine nach der anderen, und zeigten, wie sie auf der halben Spitze standen. Ich schaute mit großen Augen von der Seite aus zu und war gespannt, wen Liebermann herausgreifen würde. Am Ende gefiel ihm eine Gruppentänzerin am besten und die Solistinnen machten lange Gesichter. »Ich danke Ihnen, mein Kind. Das ist mein Lieblingsballett, das liegt mir am Herzen.« So war Liebermann: Es ging ihm einzig und allein darum, das Beste aus allen herauszuholen, um etwas Großes auf die Bühne zu bringen. Dieser Grundsatz hat sich mir so eingeprägt, dass ich mein ganzes Leben lang danach gehandelt habe.
Für Liebermanns Ziel mussten wir hart arbeiten, ohne Ausnahme. Hatten wir einmal einen Durchhänger, so blieb das nicht ohne Folgen. Wenn Liebermann uns nicht selbst ansprach, ließ er seine Kritik von den Lehrern übermitteln. Isabella Vernici sprach deutliche Worte und ließ keinen Zweifel, dass der Haussegen schief hing: »Ich muss mit euch rreden«, sagte sie streng, und dann wussten wir schon, was uns blühte. »Liebermann warr bei mir, gestern nach der Don-Giovanni- Prrobe – ihr wärrt beschissen gewesen! Habt ihr gehörrt? Ihr könnt Euch nicht nur auf die Ballettabende konzentrrieren und in der Oper nachlassen. Da ist genau derrselbe Einsatz gefordert. Wisst ihr, werr der Dirrigent war? Wisst ihr, werr gesungen hat? Das sind alles Menschen mit Rriesennamen, und ihr verpatzt das Ganze, weil ihr desinterressiert seid. Ich kann euch sagen: Das gibt eine Prrobe, die sich gewaschen hat!« Auf diese Weise wurden wir gedrillt. Und diese Haltung, dass man immer sein Allerbestes geben muss, damit etwas Großes entsteht, diese Haltung ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Sie knüpfte direkt an das an, was mein Vater mir mit auf den Weg gab. Liebermann und mein Vater haben mich geprägt, jeder auf seine Art. Mein Vater war ein echter Despot in Sachen Bildung, aber ein äußerst humorvoller. Und Liebermann stand für mich als Maßstab über allem. Wenn er Kritik übte, dann immer sachlich, nie persönlich. Ich wusste, er verstand etwas von der Technik beim Tanzen, und wenn er Dinge bemängelte, dann mit Recht. Es war wie in einer funktionierenden Beziehung: Man muss sich auch den Schwierigkeiten stellen und sie gemeinsam anpacken, damit die Liebe nicht erlischt. Und wenn es gelingt, dann ist das Gefühl hinterher umso erhebender.
Meine Liebe zum Tanz war unendlich. Es gab für mich nichts anderes im Leben. Entsprechend hasste ich die Wochenenden. Samstag und Sonntag waren die reinste Pein, weil ich nicht zum Unterricht konnte. Dann übte ich zu Hause, und wenn ich es gar nicht mehr aushielt, fuhr ich auch sonntags in die Oper. Vom Pförtner, der das schon kannte, ließ ich mir den Garderobenschlüssel geben, und wenn ich ihn in der Hand hielt, hüpfte mein Herz vor Freude. Ich schlüpfte in meine Ballettkleider wie in eine zweite Haut und trainierte ganz allein im großen Saal. Dann war wieder alles gut, nichts und niemand konnte mir etwas anhaben.
Dass es nicht viel brauchte, um mich aus der Bahn zu werfen, wurde mir bald schmerzlich bewusst. Es war der 26. Oktober 1961, ein Datum, das ich nie vergessen werde. Gustav Blank ließ uns Grand jetés über die Diagonale machen, große Sprünge mit ausgestreckten Beinen. Ich wollte an diesem Tag über mich hinauswachsen und drehte mein Sprungbein auswärts, so weit ich nur konnte. Bei jedem Sprung versuchte ich, noch mehr aus mir herauszuholen, doch plötzlich durchfuhr mich ein wahnsinniger Schmerz. Ich fiel zu Boden und verlor fast das Bewusstsein. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass die rechte Kniescheibe zur Seite gesprungen war. Vor lauter Schreck bei diesem Anblick schlug ich mit der flachen Hand darauf, sodass sie wieder ins Gelenk rutschte. Aber damit war die Sache nicht erledigt. Gustav Blank ließ sofort einen Krankenwagen rufen. Sie brachten mich zu Dr. Küchlin, der als Sportarzt eine Koryphäe war – und ein echter Dragoner. Er duzte mich und stellte als Erstes klar: »Weinen gibts hier nicht. Ich will wissen, was passiert ist.« Nachdem ich ihm die Geschichte erzählt hatte, röntgte er das Knie und stellte eine Bänderdehnung fest. Ich durfte mir einen Vortrag anhören, wie unvernünftig Balletttanzen sei und dass man besser Fußball spiele. Das sei das einzig Richtige. Dr. Küchlin war nämlich begeisterter Anhänger des HSV. Dann erst kam er auf die Behandlung zu sprechen: Er verpasste mir einen Zinkleinenverband und verdonnerte mich dazu, alle zwanzig Minuten in der Dusche kaltes Wasser darüberlaufen zu lassen, damit die Bänder sich wieder zusammenzogen und die Schwellung abheilte. »Wir wollen ja erfahren, ob das Knie nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet hat, um rauszuspringen, oder ob es einfach eine unglückliche Bewegung war.« – »Und wann kann man das erfahren?«, fragte ich flehend. – »Das weiß ich noch nicht. Mindestens vier Wochen, vielleicht fünf. Das liegt da oben, in der Hand vom lieben Gott. Und nun ordentlich kaltes Wasser! Nächste Woche will ich das Knie wiedersehen.«
Eine Woche lang hielt ich mein Knie tapfer unter die Dusche, hoffte, dass es heilen würde. Alles sprach dafür. Doch auf dem Weg zur Praxis rutschte ich vorm Haus auf dem feuchten Herbstlaub aus und die Kniescheibe sprang wieder heraus. So ging die Chose von vorn los: Dr. Küchlin fluchte übers Tanzen, pries den HSV und verbot mir zu weinen: »Ziege, jetzt heule nicht! Es gibt doch noch gar keinen Grund. Hab ich gesagt, du kannst nicht mehr tanzen? Nein, hab ich nicht gesagt. Sag ich auch nicht. Also, wieder kalte Dusche und dann sehen wir weiter.« Hinter seiner rabiaten Art blitzte etwas Liebevolles durch und ich wusste, er setzte alles daran, mir zu helfen. Sechs Wochen verbrachte ich ruhiggestellt zu Hause. Ich fand es unerträglich, nichts tun zu können, nur zu warten. Womöglich darauf, dass ich nie wieder würde tanzen können. »Ich nehme mir das Leben! Wenn ich nicht mehr tanzen kann, ist mein Leben vorbei.« Meine Mutter war in großer Sorge, aber mein Vater reagierte mit Humor, zumindest mir gegenüber: »Am besten springste gleich hier vom Balkon. Is allerdings n bisschen niedrig. Wenns nich klappt, denn wirste eben Sekretärin. Wat meinste, wattet für schöne Berufe jibt.« Doch abends, wenn sie allein waren, sprach er mit meiner Mutter über seine Angst: »Det könnten wa ja jar nich ertragen. Da hat se doch so viel rinjesteckt, und wenn dann det Herz kaputtjeht … Ick hab ja nie jebetet in meinem Leben. Gisela, Du hast doch die besseren Beziehungen nach oben. Mach’ Du det dochmal.«
Endlich kam der Tag, an dem der Verband abgenommen wurde. Dr. Küchlin begutachtete das Knie und forderte mich auf: »Spring mal! Jetzt will ich sehen, ob es hält.« Ich machte vorsichtig einen Hopser. »Ich kann mir vorstellen, dass du sofort gefeuert wirst, wenn du so auf der Bühne springst. Zeig mal, was du kannst. Ich will einen richtigen Sprung sehen.« Da fasste ich mir ein Herz, nahm Anlauf und machte einen Grand jeté – mitten im Arztzimmer. Mein Knie hielt! Die Bänder waren wieder fest. Es blieb der einzige Tanzunfall meines Lebens.
Im Juni 1962 feierte die Hamburgische Staatsoper den achtzigsten Geburtstag von Igor Strawinsky mit einem großen Ballettabend. Liebermann, der ihn sehr verehrte, hatte dies von langer Hand vorbereitet. Es gehört wohl zu seinen größten Erfolgen, dass Strawinsky für diesen Tag Hamburg den Vorzug gab und nicht den Einladungen aus dem Kreml oder Washington folgte. Drei Stücke des Komponisten standen auf dem Programm: Orpheus, Agon und Apollon Musagète, bei dem Strawinsky selbst am Dirigentenpult stand. An diesem Abend herrschte eine ganz besondere Stimmung in der Oper, sowohl im Publikum als auch bei uns auf der Bühne. Mit der Choreografie war George Balanchine betraut. Er war Russe, 1904 geboren und arbeitete eng mit Strawinsky zusammen. Balanchine hatte seine Karriere in Djagilews Ballets Russes begonnen und später das New York City Ballet gegründet. Aus New York hatte er Solisten mitgebracht, die gemeinsam mit dem Hamburger Ensemble tanzten. Zusätzlich war ich mit zwei anderen Elevinnen ausgewählt worden. Ich tanzte eine der Furien in Orpheus und empfand es als große Ehre, an diesem Abend dabei zu sein. Schon die Proben mit Balanchine waren etwas ganz Besonderes gewesen. Er sprach Englisch und koordinierte alles mit extremer Ruhe und großem Überblick. Wie ein Dirigent das Spiel seiner Musiker zusammenhält, so ließ er uns tanzen. Vor allem hochgewachsene Tänzerinnen begeisterten ihn, das war deutlich zu spüren. Ich war genau sein Typ. Schon während der Vorbereitungen zu Strawinskys Geburtstag hatte er mir angeboten, mit ihm nach New York zu gehen. Er wollte mich in seiner Kompanie aufbauen. Ich nahm das als große Auszeichnung wahr, aber mit meinen sechzehn Jahren kam ich gar nicht auf die Idee, tatsächlich mitzugehen und meine Heimat zu verlassen. Mein Platz war in Hamburg an der Oper und zu Hause bei Mama und Papa. Etwas anderes lockte mich nicht.
Ich war siebzehn Jahre alt, als ich mich zum ersten Mal richtig verliebte. Zur Spielzeit 1962/63 sollte ein neuer Ballettmeister aus Paris an die Staatsoper kommen: Peter van Dyk. Er war schon vorher hin und wieder als Gast in Hamburg und bei einem seiner ersten Besuche lief ich ihm vor der Oper über den Weg. Wir schauten uns kurz in die Augen und schon war es um mich geschehen. Er war es. Kein anderer. Von diesem Moment an hatte ich nur noch ihn im Kopf. Bald deutete sich an, dass Gustav Blank nach München gehen und van Dyk die Ballettleitung übernehmen würde. Schon vor seinem endgültigen Wechsel begann er die Solisten zu trainieren, und da die Grenzen zwischen den einzelnen Klassen ja durchlässig waren, nahm auch ich hin und wieder an diesem Training teil. Ich war jedes Mal so aufgeregt, dass ich meinte, er würde mir meine Verliebtheit sofort von der Stirn ablesen. Gleichzeitig genoss ich es über alle Maßen, in seiner Nähe zu sein und seine Blicke auf mir zu spüren.
Je näher das Ende der Spielzeit und damit der offizielle Wechsel rückte, desto nervöser wurde die Stimmung im Ensemble. Jeder bangte um seine Zukunft. Keiner wusste, wen van Dyk übernehmen und ob er seine Leute aus Paris mitbringen würde. Eines Tages, als ich aus der Garderobe kam und mich mit meiner großen Tasche auf den Heimweg machte, lief er vor mir über den Flur. Plötzlich huschte mir ein Gedanke durch den Kopf: Warum fragst du ihn nicht einfach? Kurz entschlossen lief ich hinter ihm her: »Herr van Dyk, haben Sie eine Minute?« – »Natürlich habe ich Zeit. Was kann ich denn für Sie tun?«, fragte er. – »Könnten Sie sich vielleicht vorstellen, dass ich in Ihrer Kompanie arbeite?« Er guckte mich gelassen an und sagte nur: »In meinem Kopf sind Sie moralisch schon lange engagiert. Und Sie können auch gerne bei meinem Sechs-Uhr-Training mitmachen.«
Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich stürzte nach draußen, sehnte die U-Bahn herbei, die gefühlte Stunden auf sich warten ließ. Zu Hause riss ich die Tür auf und rief, noch halb im Treppenhaus: »Mami, ich glaube, ich bin engagiert! Ich bleibe an der Oper.« Meine Eltern konnten es kaum glauben, dass ich noch während meiner Ausbildung ein Engagement bekommen hatte, und weinten vor Freude. Es war einfach nicht zu fassen.