Читать книгу Ich steig aus und mach 'ne eigene Show - Kirsten Gleinig - Страница 7
Ick koof die Parkallee
Оглавление1956 kauften meine Eltern eine kleine Wohnung in Hamburg-Eilbek. Ein Vorgesetzter meines Vaters beim NDR übernahm die Bürgschaft, sonst wäre das niemals möglich gewesen. Auf diesen fünfundsechzig Quadratmetern lebe ich heute nach vielen Stationen wieder mit meiner Mutter: zwei Zimmer, Küche, Bad und Flur in einer ruhigen Straße. Ich war elf Jahre alt und musste mein Viertel in Eppendorf verlassen, die Wohnung, in der wir zusammen mit Familie Boesche gelebt hatten, die Kinder, mit denen ich auf der Straße gespielt hatte, meine Freundinnen. Am Anfang hatte ich großes Heimweh. Ich fuhr regelmäßig zum Andreasbrunnen, ging zu Boesches und spürte zum ersten Mal, wie sehr Sehnsucht schmerzen kann. Noch heute suche ich immer wieder alte Orte auf, die wichtig für mich waren. Aber da ich nun auch auf die Volksschule wechselte, hatte ich den Umzug nach einiger Zeit verwunden. Das Wichtigste blieb ja: der Ballettunterricht.
Die neue Wohnung besaß ein Detail, das mir sofort ins Auge fiel: Der Balkon nach hinten zum Garten hinaus hatte ein Geländer mit einem runden Handlauf. Genau wie im Ballettsaal der Oper! Perfekt, um zu Hause meine Übungen zu machen. Wenn ich die Balkontür ein wenig schräg stellte, konnte ich mich sogar in der Fensterscheibe spiegeln. Aber eigentlich tanzte ich überall träumend in der Gegend herum und spielte in meinem Zimmer die Ballettstunden nach. Das ganze Programm!
Zu Hause gab es nun etwas mehr Platz. Wir waren nicht mehr bei Boesches zu Besuch, das Rücksichtnehmen war vorbei. Meine Eltern zogen eine Zwischenwand in einen der Räume ein und so bekam jedes Kind sein eigenes kleines Zimmer. Die Küche gehörte uns endlich allein und mein Vater kochte mit großem Elan. Die Zutaten besorgte er auf dem Markt, wo alle ihn kannten. Statt Geld bot er Theaterkarten, zum Tausch bekam er Fleisch für seine Gulaschsuppe. Dann stieß er die Tür mit Schwung auf und rief: »Ick hab Beute jemacht.« Meine Mutter war, wie sie selbst sagt, für die »niederen Arbeiten« zuständig: Gemüseputzen, Abwaschen, Tischdecken. Nur ein Beispiel, an dem sich zeigt, wie unterschiedlich meine Eltern tickten. Mein Vater war auch in der Ehe der Macher, während meine Mutter im Hintergrund blieb. Papa hatte die Ideen und Mami machte mit. Sie war mit Leib und Seele für uns da. Wir waren ihr Leben. Daneben gab es nichts. Bei der Geburt meines Bruders hatte sie mit dem Tanzen für immer aufgehört, und zwar aus vollster Überzeugung. Sie wollte Mutter sein, so hingebungsvoll, wie es nur ging. In allen Gefühlsdingen war sie die erste Ansprechpartnerin für uns.
Am Wochenende bauten wir das Monopoly auf, das Spiel ums große Geld, das wir selbst nie hatten. Mami stellte Kekse hin und mein Vater legte los: »Also, ick koof zuerst die Parkallee und du wanderst bitte schön ers’ ma ins Jefängnis.« Das war das schönste Familienspiel. Und Mikado. Mein Bruder meinte immer, ich schummele – das kann schon sein. Besonders hoch her ging es bei Mensch ärgere dich nicht. Ein wahres Wunder, dass alle überlebt haben. Denn Schiepchen und ich kriegten uns regelmäßig in die Wolle. Wenn ich verlor, warf ich das Brett vor Wut an die Wand und die Männchen flogen quer durchs Zimmer. Mein Bruder petzte: »Püppi hat schon wieder alles hingeschmissen.« Und meine Mutter sagte: »Das hatte ich mir anders vorgestellt für den Sonntagnachmittag.« All das gehörte mit zum Ritual.
Wir wohnten nun ein paar Monate in der neuen Nachbarschaft und Weihnachten rückte näher. Durch den Kauf der Wohnung war das Geld besonders knapp, das spürten auch wir Kinder. Dieses Jahr würde es sicher keine Geschenke geben. Auch unser Besuch auf dem Weihnachtsdom fiel bestimmt aus. Doch ohne den Dom war Weihnachten nicht vorstellbar. Er läutete das ein, was wir in dieser Zeit alle so liebten. So war die Stimmung Ende November ziemlich getrübt. Mein Vater wirkte damals oft in Hörspielen und Fernsehproduktionen mit – zum Beispiel für den Film Der Hauptmann von Köpenick mit Heinz Rühmann – und arbeitete dann im Studio des NWDR im Hochbunker am Heiligengeistfeld, direkt neben dem Dom. Wenn er abends nach Hause kam, wollten mein Bruder und ich sofort wissen, welche Karussells und Buden schon standen. Hinterher schlichen wir traurig in unsere Zimmer. An dem Tag, als alles fertig war und der Dom eröffnet wurde, warf ich mich weinend auf mein Bett. Ich sah vor mir alles leuchten und glitzern, hatte den Duft der gebrannten Mandeln in der Nase und konnte es nicht fassen, dass ich sie in diesem Jahr nicht knabbern sollte.
Ein paar Tage später kam mein Vater mit einer Tüte Nüsse nach Hause, die er irgendwo aufgetrieben hatte. Wir versammelten uns um den Tisch, Papa setzte seine Brille auf und zeigte uns, wie man sie knackte. Wie sein Theaterpublikum schauten Mami, Schiepchen und ich ihm zu. Plötzlich legte er eine Handvoll Chips für das Kettenkarussell zwischen die Nüsse und sagte: »Morgen jehn wa uffn Dom.« Wir trauten unseren Ohren nicht. Woher er das Geld nahm, wusste keiner. Wahrscheinlich hatte er es wieder mal aus den Wänden geschnitten. Sein einziger Kommentar war: »Det müssen wa machen, det is unser Leben, det jehört zu uns!« Als wir am nächsten Tag loszogen, war ich überglücklich. In der Mitte des Platzes stand ein riesiger Tannenbaum, überall klang Weihnachtsmusik, es gab Bratäpfel, Zuckerwatte und Glühwein. Wir fuhren Karussell und in der romantischen Walzerbahn. Als wir am Ende mit Berlinern in der Hand nach Hause spazierten, hatten wir rote Backen und glänzende Augen.
Die Vorweihnachtszeit 1956 war voller Überraschungen. Mein Vater hatte seine Kontakte zum Hamburger Schauspielhaus immer gut gepflegt und nun konnte er meinen Bruder für das Weihnachtsmärchen vermitteln. Seit einem Jahr war Gustav Gründgens Intendant, sie gaben Peter Pan und mein Bruder spielte die Hauptrolle. Wir waren mächtig stolz auf ihn, doch Schiepchen ließ das ziemlich kalt. Er machte seine Sache gut, aber ohne große Begeisterung. Für die Vorstellungen bekam er zwanzig Mark, was damals sehr viel Geld war. Und weil er sah, dass mich, anders als ihn, die Bühne wirklich faszinierte, kaufte er mir von seinem selbst verdienten Geld einen Ballettanzug – mein erstes richtiges Trikot. Es war schwarz und hatte eine kleine Rüsche. Überglücklich stand ich am nächsten Tag in meiner neuen Pracht an der Stange.
Und dann kam endlich Weihnachten. Bei uns fing das Fest schon in der Nacht vor Heiligabend an, weil wir ja in Papas Geburtstag hineinfeierten. Wir durften bis Mitternacht aufbleiben und mit ihm anstoßen. Am nächsten Morgen war die Wohnzimmertür geschlossen. Papa hatte für den ersten Tannenbaum in der neuen Wohnung ganz besondere Kerzenleuchter aufgetrieben und verbrachte Stunden damit, sie zu befestigen. Als wir aus der Kirche zurückkamen und das Glöckchen klingelte, öffneten wir die Tür und gingen im Gänsemarsch hinein: Papa voran, Mami, Schiepchen und ich hinterher. Alles funkelte und glänzte und unter dem Baum lagen, auch wenn wir bis zuletzt ängstlich gezweifelt hatten, Geschenke. Es gab unser traditionelles Weihnachtsessen, Schlei, und für uns Kinder, die wir den Fisch nicht mochten, Roastbeef. Bis heute feiere ich Weihnachten mit meiner Mutter auf diese Weise, in Erinnerung daran, wie es früher zu viert war.
Das Jahr 1957 brachte einen Neuzugang in unsere Wohnung: den ersten Fernseher. Mein Vater hatte eins der ersten erschwinglichen Geräte ergattert und war ganz versessen darauf, uns auch auf diesem Wege zu bilden. Tierfilme von Bernhard Grzimek waren ein Muss ebenso wie der Internationale Frühschoppen mit Werner Höfer am Sonntagmorgen. Natürlich wurde viel weniger Unsinn als heute gesendet, aber mein Vater achtete trotzdem darauf, dass wir nur »gute Sachen« guckten. Was er auch durchgehen ließ, waren Spielfilme, die wir abends gemeinsam anschauten. Einige meiner heutigen Lieblingsfilme habe ich damals zum ersten Mal gesehen.