Читать книгу Ich steig aus und mach 'ne eigene Show - Kirsten Gleinig - Страница 6

Du bist es

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1951 kam meine Mutter nach Berlin, um mich zur Einschulung nach Hamburg zu holen. Zusammen verbrachten wir die letzte Woche bei Oma im Retzbacher Weg. Ich freute mich zwar, Mami endlich wiederzuhaben, aber ich wollte in Berlin bleiben. Ich konnte mir gar nichts anderes vorstellen als mein Zille-Kind-Leben. Oma nähte mir in diesen Tagen ein feines Kleid für die Schule, doch es machte mir überhaupt keine Lust auf das, was vor mir lag.

Und dann betrat ich mein neues Zuhause: Hamburg-Eppendorf, Beim Andreasbrunnen 8. Meine Eltern waren mit meinem Bruder bei Familie Boesche untergekommen. Die war, wie viele nach dem Krieg, dazu verpflichtet worden, ausgebombte Menschen aufzunehmen. In Boesches großer Wohnung hatten wir anderthalb Zimmer. Das war zu dritt schon eng gewesen und nun kam noch ich dazu. Es war so ärmlich! Meine Eltern hatten vieles von Freunden bekommen, denn Geld besaßen sie damals keins. Und so gab es auch keine richtigen Möbel. Ich sehe noch heute alles vor mir: das Metallbett auf Blöcken aus Stein, den geliehenen Teppich, den Vorhang, hinter dem wir uns in einer Waschschüssel wuschen. Und den Balkon, auf dem meine Mutter in der kalten Jahreszeit die Lebensmittel lagerte.

So mussten wir uns arrangieren. Auch im Zusammenwohnen mit Boesches. Mein Vater fand sich leicht in neue Umstände hinein, doch meine Mutter tat sich schwer. Sie hatte ständig Angst anzuecken, wollte nicht auffallen. Auch wir mussten immer leise sein und als Kinder verstanden wir natürlich gar nicht warum. Dahinter steckten die »Eppendorfer Bestimmungen«. Das waren Regeln, die vorschrieben, wie viel Zeit man in der Küche verbringen durfte, wann Ruhe zu herrschen hatte, wann geputzt werden musste – bis zum Türklinkenpolieren war alles haarklein aufgelistet. Und Mami hielt sich ganz genau daran. Sie wartete ab, bis gerade niemand in der Küche war, erledigte dann alles blitzschnell und war genauso fix wieder hinter unserer Zimmertür verschwunden. Frau Boesche wunderte sich wohl, dass sie von uns überhaupt nichts mitbekam, und fragte eines Tages: »Haben Sie Heinzelmännchen?« Da war das Eis gebrochen und nun wurde gemeinsam in der Küche gewerkelt. In ihrer Zurückhaltung hatte Mami auch nichts von mir erzählt, und als meine Einschulung näher rückte, sagte sie zu Frau Boesche: »Ich muss noch mal nach Berlin. Ich habe noch ein zweites Kind.« – »Sie haben was?« Frau Boesche fiel aus allen Wolken. Jetzt sollten die paar Quadratmeter für vier Leute reichen! Später, als meine Eltern sich mit Boesches angefreundet hatten, wurde das zum Witz zwischen ihnen. Als meine Mutter irgendwann sagte: »Ich wollt noch mal nach Berlin«, fragte Frau Boesche: »Holen Sie Ihr drittes Kind?«

Weil es bei uns so eng war, fühlte ich mich mit meinem Freiheitsdrang in den anderthalb Zimmern eingesperrt. Schiepchen war anders. Er war sensibel und hockte viel mit Mami zusammen. Aber ich, ich war kämpferisch. Ich wollte mich austoben. Sobald meine Eltern sich zum Nachmittagsschlaf zurückzogen, lief ich runter auf die Straße und erkundete die Nachbarschaft auf eigene Faust.

Noch immer ist Eppendorf die Gegend von Hamburg, wo ich mich am meisten zu Hause fühle, auch wenn ich längst nicht mehr dort wohne. Der Krieg hat fast nichts zerstört, die schönen Fassaden sind verziert wie vor über hundert Jahren. Es ist noch alles wie früher. Ich suche oft nach einem Anlass, um hinzufahren und durch die Straßen zu laufen. Und dann kommen meine Erinnerungen wieder. Hinter den neuen Geschäften sehe ich die alten Läden. Den Milchmann und direkt daneben den Gemüseladen Rörup, wo ich einkaufen ging – und das tat ich oft. Wenn unser Geld nicht reichte und meine Mutter sich zu sehr schämte, schickte sie mich, damit ich anschreiben ließ. Mir machte das nicht so viel aus. Die Kartoffeln lagen im Souterrain in großen Stiegen und wurden mit Schaufeln abgefüllt. Es roch nach Gemüse und Keller, irgendwie gesund. Ich mochte das sehr und zog tief die Luft ein. An der Ecke Eppendorfer Landstraße und Loogestieg, wo heute die Apotheke ist, war damals die Reinigung Wulf. Dorthin brachten wir die Wäsche, die meine Mutter nicht in der Schüssel waschen konnte: Bettwäsche und Handtücher vor allem, die stopften wir in große pappeartige Säcke, dann wurde nach Stückzahl abgerechnet.

Und wenn ich schließlich vor unserem alten Haus stehe, ist alles wieder da. Hier habe ich die schönsten Jahre meiner Kindheit verbracht. Schon das Reinkommen liebte ich. Ich ging durch den Eingang mit den gemusterten Kacheln. An beiden Seiten gab es große Spiegel, darin konnte ich mich bis ins Unendliche sehen – faszinierend war das! Wenn ich mich von meinem Anblick losgerissen hatte, stieg ich in den niedlichen hölzernen Fahrstuhl, setzte mich auf den Klappsitz und ließ mich ruckelnd in den vierten Stock fahren. Links wohnten Karps, rechts Boesches.

Schließlich war der erste Schultag da. Mein Weg führte am U-Bahn-Damm entlang, durch den kleinen Kellinghusens Park, vorbei am Schwimmbad und dann rechts in die Knauerstraße. Ich mochte den roten Backsteinbau und den Schulhof dahinter, wo wir in den Pausen spielten. Aber das Lernen interessierte mich überhaupt nicht. Nachdem ich in Berlin so sehr mein Leben gelebt hatte, war es schlimm für mich, plötzlich etwas zu sollen. Ich sollte meine Rechenaufgaben machen, ich sollte Gedichte auswendig lernen, ich sollte lesen und schreiben. Nicht dass ich nichts hätte lernen wollen. Im Gegenteil: Ich war ein neugieriges Kind. Aber für das, was sie von mir wollten, interessierte ich mich nicht. Dieses verordnete Lernen passte nicht zu meinem zappeligen Wesen. Und je deutlicher ich das spürte, desto weniger wollte ich tun, was die Lehrer von mir verlangten. Kaum war ich zu Hause, schmiss ich die Schultasche in die Ecke, schnappte mir den Schlitten – in meiner Erinnerung ist immer Winter – und ging rodeln. Im Eppendorfer Park am Universitätskrankenhaus gab es einen kleinen Hügel. Von dem sausten wir hinunter, das war ein großer Spaß. Eingemummelt in Schalmütze und dicke Jacke, die Handschuhe hingen an Strippen aus den Ärmeln – so bin ich dort jedes Jahr gerodelt, von mittags bis abends. Oder wir fuhren Schlittschuh auf dem kleinen Teich im Kellinghusens Park. Es war für mich das Schönste überhaupt, dass ich so spielen konnte. Es war die schönste Zeit meines Kinderlebens, die fünf Jahre Beim Andreasbrunnen. Wir trafen uns auf der Straße, wo noch kaum ein Auto fuhr und wir ungestört spielen konnten. Neben Schiepchen und mir gehörten zehn bis fünfzehn Kinder aus den umliegenden Häusern zu unserer Bande, darunter auch unser Nachbar Egon Karp. Er hatte rote Haare und ich verliebte mich gleich in ihn. Ich war nun sechs, und die Kinder, die ich hier kennenlernte, merkten sofort, was ich für eine Spiellust hatte. Darum wurde ich schnell die Anführerin und gemeinsam machten wir das Viertel unsicher. Wir spielten Murmeln auf dem Bürgersteig, der damals einfach ein Sandstreifen war. Dafür hatte ich mir aus Leder extra einen Finger gemacht. Alle standen um mich herum, und ich versuchte, die Murmel ins Loch zu stupsen. Beim Völkerball nutzen wir die Abschnitte im Straßenteer als Spielfelder. Und Kippel-Kappel! Ich hatte mir den Kippel selbst geschnitzt, ein Kantholz mit spitzen Enden, das wir mit einem Stock quer über die Straße schleuderten. Die Gegner mussten es fangen. Oder wir trieben uns einfach nur herum. Wir liefen zum Kellinghusens Park, wo ich meinen ersten Kuss bekam – mit sieben Jahren, von Egon Karp. Und wir spielten auf dem Bahndamm im Loehrsweg, obwohl das natürlich verboten war. Wir waren richtige Rabauken.

Hintenrum in der Haynstraße lag der Zugang zur alten Straßenfegerei, wo die Müllabfuhr ein Depot für ihre Wagen hatte: einen großen Hinterhof mit Bäumen und Büschen in unserem Straßenblock. Von hier aus konnte ich unseren Balkon sehen, auf dem die Lebensmittel standen und wo Mutter das Geschirr und die Wäsche – und im Sommer auch uns – in der Schüssel wusch. Dieser verwilderte Hof mit seinen vielen Ecken und Verstecken war unser Paradies. Hier spielten wir Räuber und Gendarm und vergaßen die Zeit, vollkommen in unsere Abenteuer versunken. Die Straßenfegerei – das war das Größte überhaupt.

Neben den vielen Kindern, mit denen ich auf der Straße spielte, wünschte ich mir eine Freundin, eine enge Freundin, mit der ich alles machen und zu der ich mit raufgehen konnte. Denn bei uns in der Wohnung gab es dafür keinen Platz und keine Spielsachen. Tatsächlich fand ich so ein Mädchen in der Nachbarschaft. Wir verbrachten viel Zeit miteinander und waren richtig eng. Trotzdem erinnere ich mich nicht an ihren Namen. Für mich ist sie heute die »Freundin ohne Namen« und sie ist ganz wichtig in meinem Leben.

Wir hatten ein Lieblingsspiel, das hieß Geschichtenball. Ein Spiel, das wir selbst erfunden hatten, als mein großer Wunsch – ein Pilzball – endlich in Erfüllung ging. Dazu stellten wir uns vor einen Betonpfeiler in unserer Straße, der etwa so groß war wie wir selbst. Ich warf den roten Ball mit den weißen Punkten dagegen und fing ihn wieder auf, immer wieder. Dabei erzählte ich eine Geschichte, die ich mir gerade ausdachte: »Es war einmal eine Familie. Die hatten eine Tochter, die hieß Gertrude, und einen Wagen, mit dem sie immer aufs Land fuhren …« Wenn mir der Ball herunterfiel, war meine Freundin dran und erzählte ihre Geschichte. Und wenn ich wieder an der Reihe war, ging es mit meiner weiter: »Also die fuhren aufs Land und da kam der Knecht …« Ich konnte erzählen ohne Ende.

Heute denke ich, dass alles, was ich bin, auf dieses Spiel zurückgeht, auf Geschichtenball: die unendliche Fantasie, das Immer-wieder-neu-Anfangen, das Sich-ganz-Einlassen auf eine Sache, und alles aus dem Stegreif.

Eines Tages fragte meine Freundin, ob ich nicht Lust hätte, mal mit ihr raufzugehen. Ich selbst hätte mich nie getraut, sie einfach mit nach Hause zu bringen. Ich schämte mich so, dass wir nur anderthalb Zimmer hatten und eine Waschschüssel, auch wenn immer alles schön aufgeräumt und sauber war. Die Kluft zwischen uns und den Nachbarn war zu groß, wir wohnten arm in einer exquisiten Gegend. Aber meine Freundin nahm mich mit in ihre riesige schöne Wohnung. Sie hatte ein eigenes Zimmer, und während ich noch dastand und staunte, holte sie etwas hervor, etwas Glänzendes, Seidiges– ihre Spitzenschuhe. Das wars. Das war der Augenblick. Es waren rosa Schuhe mit langen, schimmernden Bändern. Ich sah zu, wie meine Freundin sich Watte um die Zehen wickelte und hineinschlüpfte, und war hingerissen. Es dauerte keine Minute, da nahm ich ihr die Schuhe weg und zog sie selbst an. Mir war, als würde mich eine Fee mit ihrem Zauberstab berühren und sagen: »Bing – du bist es!« Wie ein Leuchten war das, ein großes Wettleuchten. Ich rannte nach Hause und rief: »Mami, ich will in die Ballettschule!«

Meine Eltern sagten zuerst gar nichts, sondern guckten sich nur bedeutungsvoll an. Ich wusste nicht, was los war. Warum schauten sie so ernst? Dann setzten wir uns hin und meine Mutter erzählte mir, was ich bis dahin gar nicht wusste: dass sie selbst getanzt habe und was für ein schwerer und entbehrungsreicher Beruf das sei. »Wenn du als Tänzerin nicht alles aufgibst, gehst du unter«, sagte sie. Ich spürte deutlich ihre Angst, verstand aber nicht, wovor sie mich beschützen wollte. Ich sah gar keine Gefahr. Ich wollte doch nur tanzen. Und das wollte ich so sehr, dass meine zähe Art auch hier durchkam. Tagelang sprach ich von nichts anderem, bettelte immer nur, ich wolle zum Ballett. Ich traktierte und zwiebelte meine Eltern förmlich. Mein Vater gab als Erster nach: »Nu lasse det doch ers’ ma probiern. Aufhörn kann se ja immer noch.« Meine Mutter war zögerlicher, aber nach ein paar Tagen sagte auch sie: »Na ja, gut, versuchen wirs.«

Ich entschied mich für die Schule von Anneliese Sauer, meine Eltern kauften mir ein weißes Ballettröckchen und nun ging ich jeden Dienstag und Donnerstag zum Unterricht. War das ein Glücksgefühl! Ich dachte an gar nichts anderes mehr und lebte nur noch für diese Tage, von Dienstag zu Donnerstag und von Donnerstag zu Dienstag. Ich war ganz in meine Ballettwelt versunken und suchte mir überall Orte, an denen ich üben konnte, selbst im Hauseingang vor den großen Spiegeln. Hier sah ich mich wie im Ballettsaal. Und die Spiegelbilder hörten gar nicht auf: Ich sah meine Pliés von allen Seiten, in unendlichen Reihen. Dabei vergaß ich alles um mich herum – ich war ganz bei mir.

Und dann passierte etwas, was mich für mein Leben prägte: Ich entdeckte einen Film, der im Kino bei uns um die Ecke lief, in den Harvestehuder Lichtspielen. Normalerweise gab es dort morgens nur Western, aber eines Tages war ein Filmplakat angeschlagen, an dem mein Blick sofort hängenblieb: Die roten Schuhe – ein Ballettfilm! Ich fragte meine Eltern nach Geld und lief los, um die Matinee am Sonntag um elf Uhr anzuschauen. Schon der Kinosaal verschlug mir den Atem. Ein großer Raum, wie ein Filmpalast, mit rotem Plüsch und Samt und richtigen Logen wie für Könige und einem langen roten Vorhang, der die Spannung auf das, was gleich kommen würde, noch steigerte. Und es roch nach Kino: alt, ein bisschen modrig, aber gut, nach Plüsch und antikem Holz. – Dann ging der Vorhang auf, der Film begann. Die roten Schuhe von 1948, benannt nach dem Märchen von Hans Christian Andersen. Ich war vom ersten Moment an gebannt, vor allem von der Hauptfigur, der jungen Tänzerin Victoria Page, der Vicky mit ihren roten Haaren. Auf einem Fest lernt sie den Ballettleiter Boris Lermontov kennen. Er holt sie in sein Ensemble und nimmt sie mit nach Paris und Monte Carlo, wo sie die Hauptrolle tanzt in seinem neuen Stück, Die roten Schuhe . Das Mädchen, das diese roten Schuhe trägt, muss immer und immer weitertanzen, bis es vor Erschöpfung umfällt. Am Ende tanzt es sich zu Tode. Das Stück wird im Film zum Erfolg, und Vicky verliebt sich während der Proben in den jungen Komponisten Julian Craster, derfür die musikalische Umsetzung engagiert ist. Aber Lermontov duldet diese Liebe nicht und will, dass Vicky sich ganz dem Tanzen verschreibt. Die zwei Verliebten verlassen daraufhin das Ballett und heiraten. Einige Zeit später bietet Lermontov Vicky noch einmal an, das Stück in Monte Carlo wieder aufzuführen – mit ihr als Primaballerina. Sie willigt ein. Doch kurz vor der Aufführung kommt Julian und fordert eine Entscheidung von ihr. Zerrissen zwischen ihrer Liebe zu Julian und dem Tanz springt Vicky in den Tod.

Ich war wie berauscht von der Wucht, mit der der Film auf mich wirkte: die leuchtenden Farben, der leidenschaftliche Tanz, die Musik, die Kostüme, das Bühnenbild und vor allem die roten Schuhe, diese glänzenden roten Schuhe, die selbst zu leben schienen. Ein Bild habe ich bis heute ganz deutlich vor Augen: wie Vicky in den roten Schuhen die Wendeltreppe hinuntertanzt – oder vielmehr wie die Schuhe tanzen, wie sie Vicky hinunterziehen. Man sieht nur ihre Beine und Füße in diesen roten Schuhen, die immer weitertanzen müssen, nach vorn gleiten, weiter und weiter.

Die Dramatik der Geschichte selbst drang damals gar nicht zu mir durch. Ich verstand nicht, warum Vicky zwischen Liebe und Tanz so zerrissen war. Warum sollte sie einer Sache entsagen? Wieso wollten die beiden Männer sie ganz für sich haben? Warum nahm sie sich das Leben? Sie hätte doch weitertanzen können. Tun, was sie wollte. Ich wollte diesen Fragen auf den Grund gehen. Ich wollte es verstehen. Und ich wollte Vicky tanzen sehen. Von nun an ging ich jeden Sonntagvormittag ins Kino. Es wurde mein Sonntagsritual: Meine Eltern bereiteten das Mittagessen vor und ich ging um elf Uhr in Die roten Schuhe .

Weihnachten rückte näher. Noch mehr als wir Kinder freute mein Vater sich darauf, zumal er am 24. Dezember Geburtstag hatte. In der Adventszeit wurde er selbst wieder zum Kind und zelebrierte mit Feuereifer all die Dinge, die für uns dazugehörten. Er setzte alles daran, etwas ganz Besonderes aus dem Fest zu machen, obwohl wir gar kein Geld dafür hatten. Papa war wie besessen von dem Wunsch, dass alles strahlte. Selbst in unserem kleinen Zimmer bei Boesches reichte unser Weihnachtsbaum bis an die Decke. Wäre er noch höher gewesen, hätten wir ein Loch in den Putz schlagen müssen. Nichts ging für meinen Vater über einen großen Tannenbaum.

Weihnachtspäckchen schnürten wir gemeinsam, nicht einfach nebenbei, sondern mit Ruhe und viel Liebe. Es gab Tee, und eine Kerze brannte. Dazu hörten wir klassische Musik aus dem Radio. Mein Vater liebte Wagner und Liszt. Er suchte nach einem passenden Karton und wir wickelten die Geschenke ein für Oma in Pankow und für Tante Tuto und Onkel Bruno: Kaffee und Kölnisch Wasser, 4711. Ich erinnere mich noch genau an das Etikett in Gold und Türkis, das ich wunderschön fand. Dann wurden die Päckchen gut verschnürt und zur Post getragen. Auf dem Rückweg gingen wir zur Konditorei Lindtner. Das war die große Ausnahme, denn die feinen Pralinen, Bonbons und Kekse konnten wir uns gar nicht leisten. Das ganze Jahr über schlichen wir draußen an den Auslagen entlang, drückten uns die Nasen platt am Fenster, während uns das Wasser im Mund zusammenlief. Nur zu Weihnachten durften wir durch die schöne Drehtür aus Holz gehen und uns an dem großen Tresen etwas aussuchen. Das gehörte dazu, auch wenn es das Budget nicht hergab. Ebenso wie ein Besuch auf dem Hamburger Dom mit seinem romantischen Weihnachtsmarkt zu Beginn der Adventszeit.

Auch mein erster Auftritt in der Ballettschule fiel in die Weihnachtszeit. Um unseren Eltern etwas vorzutanzen, hatten wir Die Schneekönigin einstudiert. Ich war eine der Schneeflocken und wahnsinnig stolz auf der Bühne. Nun begriffen meine Eltern allmählich, dass es mir ernst war mit dem Tanzen. Keiner von beiden versuchte mehr, mich davon abzubringen. Meine Mutter holte mich oft vom Unterricht ab und sah, wie viel Spaß es mir machte, und dann schlenderten wir beide beschwingt nach Hause. Irgendwie müssen sie gespürt haben, dass Talent in mir steckte. Jedenfalls ergriff mein Vater die Initiative für den nächsten Schritt. Eines Abends saß er nach einer Theateraufführung mit Kollegen zusammen. Darunter war an diesem Tag auch Otti Tenzel, damals Primaballerina an der Hamburgischen Staatsoper. Natürlich nutzte er die Gelegenheit und fragte ganz direkt: »Verzeihen Sie, ich habe eine, wie ich glaube, doch sehr begabte Tochter. Aber es ist nur eine kleine Ballettschule, an der sie tanzt. Und sie würde so gerne weiterkommen. Was würden Sie empfehlen?« Otti Tenzel verwies ihn direkt an die Ballettschule der Staatsoper: »Berufen Sie sich auf mich. Die Leiterin des Kinderballetts ist eine Russin, Isabella Vernici. Da klopfen Sie an, und dann wird man schauen, was Ihre Tochter kann und ob man sie aufnimmt.«

Zum Glück war mein Vater so, wie er war! Er packte jede Gelegenheit beim Schopf. Ich war hin und weg von der Vorstellung, in der Staatsoper zum Ballettunterricht zu gehen, obwohl ich gar nicht ahnte, welche Tür sich da für mich öffnete. Es war unbeschreiblich aufregend. Was sollte ich anziehen? Ich hatte nur mein kleines weißes Röckchen, aber kein richtiges Balletttrikot. Am Ende nahm ich meinen Badeanzug, damit musste es irgendwie gehen. Aber als ich in den Ballettsaal trat, wurden meine Knie ganz weich. Da standen all die anderen Mädchen in ihren Trikots und hübschen Schläppchen. Mager, wie ich war, stellte ich mich zu ihnen an die Stange, in meinem Gummibadeanzug aus geriffeltem Kreppstoff und den Gymnastikschuhen mit überkreuzten Gummibändern. Ich fühlte mich so armselig. Aber ich warf mich hinein mit allem, was ich zu geben hatte. Isabella Vernici wollte, dass ich mehrmals am Unterricht teilnahm, damit sie mich eine Weile beobachten konnte. Auch meine Mutter schaute zu. Sie wollte mich noch immer davor bewahren, das Tanzen zum Beruf zu machen, und hoffte daher, es würde nichts werden mit meinem Einstieg ins Kinderballett. Nach dem dritten oder vierten Mal wollte sie das Ganze beenden. »Sie sehen ja wohl, das hat gar keinen Sinn. Das ist reine Geldverschwendung«, sagte sie zur Vernici. Sie aber war anderer Ansicht: »Wenn Sie das vor einem Monat gesagt hätten, hätte ich Ihnen vielleicht recht gegeben. Jetzt aber nicht mehr.«

Von nun an ging ich zum Ballettunterricht in die Staatsoper. Ich war so stolz. Mit der Straßenbahn fuhr ich von Eppendorf aus zweimal in der Woche zur Oper am Gänsemarkt. Jedes Mal spürte ich ein Freiheitsgefühl. Aus der Enge unserer Wohnung lief ich in die große Welt der Oper. Die erste Tanzklasse trainierte montags und donnerstags. Schon morgens in der Schule dachte ich dann nur an den Nachmittag. Und wenn er endlich da war, konnte ich mein Glück kaum fassen.

Schon beim Umziehen in der Garderobe hörte ich die Musik. Und dann begann die Stunde. Der große Saal mit den Spiegeln kam mir vor wie das Paradies und Isabella Vernici wie seine Herrscherin. Sie war eine wunderschöne Russin mit einem schmalen, feinen Gesicht und schwarzem, streng zurückgekämmtem Haar, das sie zu einem Dutt hochsteckte. Wie aus einem Roman von Tolstoi. Und diese Sprache! Ihr Akzent, in dem sie uns ganz ruhig, aber sehr bestimmt sagte, was wir zu tun hatten: »Bauch rrein! Schulter rrunter! Und durrchatmen. Nun steht ihr errst einmal da. Und dann geht es ins Plié …« – wunderschön! Sie war pummelig, was ungewöhnlich war für eine Ballettlehrerin, und ihre Beine wabbelten ein wenig, wenn sie die Échappés vormachte. Aber ihre Ausstrahlung war vollkommen klar. Alles, was sie mich lehrte, sog ich wie gebannt auf.

Ich lebte nur noch für das Ballett, war wie besessen vom Tanzen. Zu dieser Faszination trug auch die Atmosphäre an der Staatsoper bei. Sie gehörte untrennbar dazu. Dieses Flirren in der Luft und dieses Mystische, das jeden Abend neu die Bühne beherrschte und bis in unsere Garderobe drang – es hatte mich ergriffen. Ich wollte alles auskosten, was sich mir dort bot. Nun durften wir Ballettkinder auch bei den Opern mitwirken. Sofort war ich Feuer und Flamme. Mein erster Auftritt war in La Bohème von Giacomo Puccini. Ich spielte eins der Lumpenkinder, die im zweiten Akt den Spielwarenverkäufer Parpignol umringen. Wir sangen im Chor: »Hallo, Parpignol, Parpignol, Parpignol!« Mein Kostüm war aus lauter Stofffetzen zusammengenäht, aber ich fühlte mich alles andere als abgerissen und lumpig auf der großen Bühne zwischen den Sängern. Aufregend und erhebend waren diese Abende. Und sie brachten nicht nur Spaß, sondern auch ein wenig Geld. Drei Mark bekam ich pro Aufführung. Angesichts der klammen Finanzen zu Hause war das nicht zu verachten. Allein mein Ballettunterricht kostete dreißig Mark im Monat, die für meine Eltern nicht leicht aufzubringen waren. So konnte ich die Hälfte selbst bezahlen. Ich wollte beweisen, dass ich ehrgeizig war.

Mein Vater spielte zu dieser Zeit am neu gegründeten Ernst Deutsch Theater, das damals noch Das Junge Theater hieß, außerdem in den Hamburger Kammerspielen unter Ida Ehre und im Theater im Zimmer. Daneben machte er Kabarett und war regelmäßig bei Rundfunk- und Filmproduktionen dabei. Er hievte sich von einer Rolle zur nächsten. Ein festes Engagement, das er mit mehr Einsatz sicherlich bekommen hätte, lehnte er aber bewusst ab. »Denn muss ick ja jeden Abend irgend’n Blödsinn spielen. Bin von der Familie weg. Det is ja keen Leben.« Er wollte seine Freiheit nicht eintauschen gegen finanzielle Sicherheit und meinte, das Glück sei immer auf seiner Seite. Zwar behielt er recht, doch war er darauf angewiesen, dass seine Kontakte funktionierten und er kurzfristig einspringen konnte, wenn man ihn brauchte. Aus diesem Grund hatten wir schon in Eppendorf ein Telefon in unserer Wohnung – in Zeiten, als das alles andere als normal war. Ein großes schwarzes Telefon mit Wählscheibe, die Nummer war 484884. Es sollte möglichst oft klingeln, damit mein Vater Geld verdienen konnte. Wenn er wegging, instruierte er uns Kinder ganz genau: »Hier habter n Zettel und n Bleistift. Und wenn det klingelt, immer janz jenau uffschreiben!« Manchmal verstanden wir etwas falsch oder notierten es nicht korrekt. Dann wurde er richtig böse: »Det musste doch haarjenau uffschreiben! Hab ick doch jesacht. Mensch, davon leben wir, falls ihr det noch nich begriffen habt!« Es war jedes Mal ein Drama. Wir empfanden eine Hassliebe zu diesem Telefon. Wenn es nicht klingelte, bekamen wir Angst, und wenn es klingelte, liebten wir es. Dass ein Telefon eine solche Macht haben kann!

Für mich besitzt es diesen Nimbus noch heute und darum habe ich mir vor ein paar Jahren genau so einen Apparat gekauft. Er steht für den Geist, der unsere Familie prägte: das Improvisieren, das Zupacken im richtigen Augenblick. Was das betrifft, bin ich viel mehr die Tochter meines Vaters als die meiner Mutter. Mami war immer sehr zurückhaltend und zögerlich. Umtriebig sein und die Gelegenheiten nutzen, die sich bieten, das brachte mein Vater mir bei. Doch was bei mir hinzukam, ist der große Ehrgeiz, der meinem Vater völlig abging und der meinen Eltern so ungewöhnlich schien, dass meine Mutter noch heute sagt: »Püppi, wenn ich dich nicht zu Hause in Greifswald geboren hätte, dann würde ich nicht glauben, dass du unser Kind bist.« So fremd war in unserer Familie dieser absolute Wille, der mir im Blut lag und mein Leben bis heute regiert.

Und dieser Wille trieb mich nicht nur in den Ballettstunden an, sondern auch bei den Opern. Seit 1946 war Günther Rennert Intendant der Hamburgischen Staatsoper. Er hatte nach dem Krieg, als das Haus noch in Schutt und Asche lag, mit enormem Enthusiasmus einen Neubeginn gewagt. Wie Ida Ehre im Schauspiel, so brachte Günther Rennert in der Oper völlig Unbekanntes auf die Bühne, und das mit einem Improvisationstalent, das Sänger, Tänzer, Bühnenbildner, Regisseure und alle anderen Mitwirkenden ansteckte – bis hin zu uns Ballettschülern. Es war eine Zeit voller Aufbruchsgeist. Auch die Zahl der Opern war enorm und oft wurden Kinder für die Inszenierungen gebraucht. Dann lief Frau Manzau durchs Haus, die Herrin der Statisterie, und fragte: »Wer möchte mitsingen?« – Sie hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da riss ich schon meinen Arm hoch: »Ich! Ich möchte gern!« Überall wollte ich dabei sein. Die anderen waren nicht so erpicht darauf, aber sie zeigten mir deutlich, dass sie mich für mein Vorpreschen verachteten. Sie fanden, ich drängele mich überall vor. Aber ich wollte doch gar nicht konkurrieren, ich folgte nur dem, was mich antrieb. Das hatte nichts mit unserer Kameradschaft zu tun. Darum waren wir doch beim Ballett: um vorn zu stehen, zu tanzen und zu singen, auf der Bühne, vor Publikum. Für mich waren das zwei verschiedene Paar Schuhe: auf der einen Seite mein Engagement für Ballett und Oper, auf der anderen die Beziehungen untereinander. Wenn ich in einer Oper mitspielte, dann war das Schönste für mich das Schminken. Überall im Theater roch es nach Schminke. Ich liebte es, reinzukommen und diesen unbeschreiblichen Geruch einzuatmen. Er nahm mich gefangen. Sofort bekam ich Lust darauf, mich zu schminken. Heute riecht es nach gar nichts mehr. Für die Opern durfte ich mich selbst schminken. Dann ging ich hinauf in die Maske, klopfte an und betrat den Raum, in dem sich all die wunderschönen Dinge bis unter die Decke stapelten: Frisiertische mit Spiegeln und unzählige Schubladen und Fächer, voll mit Farben und Pasten. Überall standen kleine Kästchen und Dosen mit Schminke und Haarklammern. Pinsel, Kämme und Bürsten lagen herum, und das Werkzeug zum Knüpfen der Perücken, die auf Holzköpfen für die Vorführung am Abend präpariert wurden. Wie eine Wunderkammer war dieser Raum für mich. Ich sagte der Maskenbildnerin, in welcher Oper ich mitmachte, dann musste ich ein Papier unterschreiben für die Utensilien, die sie zusammensuchte: »Du bist also ein Fisch in Rheingold . Dann brauchst du dieses Grün, das tiefe Blau und ein wenig Gold dazu. Dazu noch etwas Rot für die Lippen und ein bisschen Abschminke.« Ich hatte ein altes Tabakkästchen, in das ich die einzelnen Töpfe legte. Leichner-Theaterschminke stand darauf geschrieben. Ich fand mein Glück darin, die Farben immer wieder neu anzuordnen, sie herauszunehmen und hineinzusetzen. Manchmal verrührte ich auch zwei, um mir etwas ganz Eigenes zu machen. Am Abend kamen noch die Kostüme dazu mit den wunderschönen Stoffen und Knöpfchen und Häkchen, die auch ihren eigenen Geruch verströmten. Und wenn ich endlich mit den großen Opernsängern auf der Bühne stand, ging mein Herz ganz auf. Ich war ein Kind der Oper!

Am nächsten Morgen bezahlte ich dafür. Völlig übermüdet saß ich in der Schule und konnte mich noch weniger als ohnehin auf den Unterricht konzentrieren. Schon am Tag der Aufführung selbst war es nicht weit her mit meiner Aufmerksamkeit. In Gedanken stand ich bereits am Vormittag auf der Bühne. Das ging natürlich nicht lange gut. Ich konnte nicht erfüllen, was die Lehrer von mir verlangten. Von meinem Wesen her nicht und auch, weil ich so sehr für das Ballett und die Oper lebte. Besonders mein Vater litt furchtbar darunter, denn für ihn stand Bildung an oberster Stelle. Er konnte ja zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass tatsächlich einmal eine Ballerina aus mir würde. Noch war ja alles ein kindliches Hobby. Und ohne vernünftige Schulbildung hätte es schlecht ausgesehen für mich. Wir versuchten es mit einem Privatlehrer, der mir Nachhilfestunden gab. Gleichzeitig brachte mein Vater mich zum Lesen: »Wenn de det alles nich wills, Püppi, mit dem Lernen, denn musste lesen! Det is det Einzije, det hilft.« Damit lag er goldrichtig bei mir, ich war gierig aufs Lesen und verschlang, was mir in die Finger kam. Mein Vater versorgte mich mit allem, was für ihn dazugehörte: Schillers Lied von der Glocke , Gedichte von Goethe und Brecht, später die Dramen von Hauptmann. »Det musste lesen!« Er wollte Bildung für seine Kinder und stellte ein Programm auf, das wir gern annahmen. Ich war ja nicht desinteressiert oder faul. Ich wollte nur selbst entscheiden, wie und was ich lernte.

Am liebsten wollte ich Neues entdecken. Das traf auch auf Freundschaften zu. Ich wollte immer mit Kindern spielen, die anders waren als ich. Oft stammten sie aus reichen Familien. In meiner Klasse war ein Mädchen, das bei uns in der Nähe wohnte: Soraya Malekki, eine Perserin. Zu ihr fühlte ich mich vom ersten Augenblick an hingezogen und wir wurden Freundinnen. Ihr Vater handelte mit Teppichen. Sie hatten eine Wohnung mit acht Zimmern – ein Palast für mich damals –, in der es kaum etwas anderes gab als Perserteppiche. Überall lagen oder hingen sie, einzeln oder gestapelt. Viel mehr als der Schulstoff interessierte mich, woher diese Teppiche kamen, wie sie geknüpft wurden, wie es in Teheran aussah, wie man dort lebte. Das Fremde war es, was mich faszinierte.

Darum war Geografie mein Lieblingsfach. Darin war ich absolute Spitze und bin es noch heute. Ich wollte wissen, wo welches Land liegt, wie groß die Meere sind und wie hoch die Berge. Ich wollte die ganze Welt erkunden, wälzte Atlanten und träumte mich weit weg. Und ich wollte Sprachen lernen. Allerdings nicht so, wie man es in der Schule machte. Das schien mir gar nicht verwendbar, und es hörte sich merkwürdig an für mich, wenn wir die Aussprache übten: the man, the woman, the house . Ich fand es furchtbar. Doch hörte ich die Leute in der Oper Englisch sprechen, die Gastsänger, die aus dem Ausland kamen und die ich in der Kantine traf, dann war ich hin und weg. Dann wollte ich ihre Sprache beherrschen. Hier ging es nicht mehr um einzelne Wörter, sondern um ganze Welten, die sich mir auftaten. Ein Klang wie eine Verheißung, ein Geheimnis, das ich teilen wollte.

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show

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