Читать книгу Der Prinz ist tot - Skandinavien-Krimi - Kirsten Holst - Страница 5
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ОглавлениеFlemming Rosgård schob sein Fahrrad den Gartenweg hinauf in die Garage, stellte es in den Ständer, nahm den Instrumentenkoffer vom Gepäckträger und betrat das Haus durch die Seitentür, die über den hinteren Gang in den Windfang führte.
Er stellte den Koffer auf den Tisch, während er die Überschuhe abstreifte. Er betrachtete sie kritisch. Sie wurden langsam unbrauchbar. Tina verabscheute sie. Sie fand Überschuhe lächerlich. Noch lächerlicher hatte sie es gefunden, dass er sie letzten Frühling hatte vulkanisieren lassen.
»Wie geizig kann man eigentlich sein?«, hatte sie ihn gefragt.
Er konnte nichts Lächerliches daran finden. Es war viel alberner, sich seine guten Schuhe von Salz und Schneematsch ruinieren zu lassen. Und es bestand kein Grund, Geld für neue Überschuhe zum Fenster hinauszuwerfen, wenn man die alten reparieren lassen konnte.
Doch jetzt hatten sie ausgedient. Er warf sie in den Müllsack in der Ecke, bevor er den Instrumentenkoffer nahm und durch die Küche in die Diele ging. Er öffnete den Garderobenschrank, stellte den Koffer hinein und hängte seinen Mantel auf einen Bügel.
Im Wohnzimmer war Licht, aber er ging zunächst zum Kinderzimmer, öffnete die Tür und schaute hinein. Er stand einen Augenblick da und betrachtete die zwei schlafenden Kinder im Lichtschein, der von der Diele hereinfiel. Sie verblüfften ihn immer wieder, die Kinder. Selbst wenn er mit ihnen spielte, sie badete oder mit ihnen spazieren ging, versetzten sie ihn in Verwunderung. Wo kamen sie her? Natürlich wusste er, wo sie herkamen. Er hatte sie zum Teufel nochmal selbst gemacht, hatte mitgeholfen, sie zu machen, aber trotzdem blieben sie für ihn zwei kleine, seltsame Wesen, die aus dem Weltraum in sein Leben gefallen waren. Faszinierend, rührend und ein ganz klein wenig erschreckend. Aliens.
Vielleicht lag das daran, dass er sich nicht erinnern konnte, selbst einmal so klein gewesen zu sein. Er hatte nicht die leiseste Erinnerung an sich als Kind. Natürlich hatte er Fotos und sogar kurze Schmalfilme von einem Kind gesehen, das er sein sollte, aber sie sagten ihm nichts. Es hätte jeder x-beliebige kleine Junge sein können. Seine erste Erinnerung stammte aus der Schulzeit, als er zehn Jahre alt gewesen war. Er hatte seine Milch verschüttet und war erschrocken gewesen, wie viel Flüssigkeit in einen Zwei-Deziliter-Becher passte. In seiner Erinnerung war das fast wie ein Traum. Milch spritzte nach allen Seiten, lief über den Boden, die Wände hinunter und wurde schließlich zu einem riesigen See, der die ganze Klasse überschwemmte. Eine peinliche Erinnerung, auf die er gern verzichtet hätte. Er hatte keine Ahnung, was sonst noch passiert war. Ob er ausgeschimpft worden war oder ob jemand die Milch für ihn aufgewischt hatte. Idiotisch.
Tina glaubte ihm nicht, wenn er sagte, dass er sich nicht an seine Kindheit erinnern konnte. Sie behauptete, dass es das nicht gäbe oder dass er sich nicht erinnern wollte. Dass er etwas verdrängte.
Unsinn! Warum sollte er sich nicht erinnern wollen? Er hatte eine gute Kindheit gehabt, dessen war er sich sicher. Das Kind auf den Bildern lächelte und sah zufrieden aus. Es war mit Sicherheit ein glückliches Kind.
Vorsichtig schloss er die Kinderzimmertür und ging weiter zum Wohnzimmer. Unwillkürlich zögerte er kurz und holte tief Luft, bevor er eintrat.
Alles sah aus wie immer. Und warum sollte es das auch nicht? Tina saß in ihrem Lieblingssessel, die Beine auf dem Fußschemel.
»Ach, du bist es«, sagte sie.
Er bezwang seine Lust zu fragen: »Wer sollte es denn sonst sein? Hast du jemand anderen erwartet?« Mitunter brauchte es nicht viel, dass sie einen Streit anfing. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie das richtiggehend genoss. Er genoss es nicht. Streit erschreckte ihn.
Er ging zum Barschrank, nahm ein Glas und schenkte sich einen Whisky ein.
»Hast du noch nicht genug?«, fragte sie.
Er biss die Zähne fest zusammen. Aus ihrem Mund klang das, als hätte er ein Alkoholproblem, doch wenn er das sagte, würde sie erwidern, dass er überempfindlich reagierte.
Mit dem Whisky in der Hand setzte er sich in eine Ecke des Sofas.
»Ich habe meine Überschuhe weggeworfen«, sagte er und hörte selbst, wie idiotisch das klang.
Eine Gabe. Eine Opfergabe. Ein paar alte Überschuhe!
»Das wurde auch Zeit«, sagte sie.
»Nächsten Winter kaufe ich mir neue«, sagte er ein klein wenig provozierend. »Ich habe die alten in den Müllsack gesteckt.«
»Schön«, sagte sie. »Er wird morgen abgeholt, wenn du ihn rausstellst, bevor du gehst.«
Er nickte.
»Warum bist du noch auf?«, fragte er. »Du hättest nicht auf mich warten müssen.«
»Das habe ich auch nicht«, sagte sie. »Ich habe nachgedacht.«
»Aha«, sagte er wachsam. Er wurde immer nervös, wenn sie nachdachte. »Worüber?«
»Über die Englandreise. Du weißt doch, dass Lone mich gefragt hat, ob ich mitkäme, da Laust nicht kann. Ich habe so gut wie zugesagt.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte er erleichtert. Sie hatte also nicht über ihre Beziehung nachgedacht. Warum rechnete er immer mit dem Schlimmsten?
»Es ist ein bisschen kurzfristig, aber wir haben dieses Jahr schließlich keinen Winterurlaub gemacht.«
Sie hatte ihre Argumente parat. Die Geschütze waren aufgefahren.
»Ja, und deshalb halte ich das auch für eine gute Idee. Aber was ist mit den Kindern?«
»Mutter hat versprochen, sie zu nehmen.«
»Schön«, sagte er mechanisch, während er darüber nachdachte, ob sich hinter der Bemerkung über die Winterferien ein versteckter Vorwurf verbarg. Bestimmt nicht, aber es war nicht auszuschließen, dass sie ein anderes Mal darauf zurückkommen würde.
»Das Problem ist, dass es bestimmt nicht billig wird. Wir haben zwar ein Superangebot, aber du kennst ja Lone. Sie nimmt nicht gerade das billigste Hotel. Ich kann immer noch Nein sagen, wenn du meinst, dass es für eine Woche London zu teuer ist.«
»Nein, mach das ruhig. Ihr hattet doch letztes Mal so viel Spaß.«
»Du findest nicht ...?«
»Nein, ich finde, dass das eine gute Idee ist. Außerdem habe ich vorläufig ohnehin keine Zeit, Urlaub zu machen, und so habe ich kein ganz so schlechtes Gewissen.«
»Ein schlechtes Gewissen?«
»Ja, weil wir dieses Jahr keinen Winterurlaub gemacht haben.« Er trank einen Schluck Whisky. Jetzt war der Winterurlaub an ihre Londonreise gekoppelt. Falls das Gespräch wieder darauf kommen sollte. Dafür warst du ja mit Lone in London.
»Wann geht es los?«
»Morgen in acht Tagen. Von Kopenhagen aus. Wir fahren Mittwochabend hier los. Um auf Nummer sicher zu gehen.«
»Fliegt ihr?«
»Ja.«
»Was ist mit den Kindern?«, fragte er, während er alles in Gedanken zu ordnen versuchte. »Soll ich sie zu deiner Mutter bringen?«
»Nein, ich bringe sie im Laufe des Mittwochs zu ihr.«
»Ihr werdet mir fehlen«, sagte er.
Sie lachte. »Es ist doch nur für eine Woche. Und du kannst die Kinder am Wochenende besuchen, wenn du Lust dazu hast.« Sie sah zu ihm auf. »Und Zeit«, fügte sie hinzu.
»Ich werde dich vermissen«, sagte er eigensinnig.
Sie stand auf, ging zu ihm und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar.
»Ab und zu fällt es mir wirklich schwer, dich nicht zu mögen«, sagte sie lächelnd. »Ich gehe jetzt ins Bett. Kommst du auch?«
»Gleich«, sagte er. »Ich muss nur noch etwas ...«
Sie blieb einen Augenblick stehen, dann seufzte sie leicht und verließ das Wohnzimmer. Er musste immer nur noch irgendetwas. Aber im Grunde genommen war er süß. Kein bisschen geizig, was sie und die Kinder anging. Diese Reise zum Beispiel. Nicht der leiseste Vorwurf. Ab und zu mochte sie ihn wirklich, aber ab und zu trieb er sie auch in den Wahnsinn. Sein krankhafter Geiz bei Kleinigkeiten. Diese verdammten Überschuhe. Und sein Fahrrad. Er fuhr immer mit dem Fahrrad in die Stadt. Nicht wegen der Umwelt oder der Kondition, wenn es denn das gewesen wäre, nein, um zu sparen! Und gleichzeitig wohnten sie in einem teuren Haus, machten teure Reisen und hatten ein teures Auto in der Garage stehen, das sie nach Lust und Laune nehmen konnte. Sie verstand das nicht. Verstand ihn nicht. Er bewahrte Essensreste, Plastiktüten, Schnüre und allen möglichen ausrangierten Mist auf, trug aber nur maßgeschneiderte Anzüge. Er sagte, dass sie länger hielten. Das war bestimmt richtig. Seit sie ihn kannte, hatte er nie etwas weggeworfen. Woher hatte er das? Jedenfalls nicht von seinen Eltern. Die hatten das Geld immer mit vollen Händen ausgegeben. Und es war ihnen nie schlecht gegangen. Es ging ihnen ausgezeichnet. Wovor also hatte er Angst?
Sie verstand ihn nicht. Würde ihn wohl nie verstehen. Doch vielleicht war das gar nicht nötig. Es funktionierte auch so. Im Großen und Ganzen. Sie dachte nicht im Traum daran, ihn zu verlassen. Sie wusste, dass sie Glück gehabt hatte, ohne genau sagen zu können, warum. Es war einfach so.
Sie hatte sich in ihn verliebt, hatte geglaubt, in ihn verliebt zu sein, weil er sich offensichtlich gleich auf den ersten Blick in sie verliebt hatte. Sie war in der Anwaltskanzlei, in der er als Prokurist eingestellt worden war, Sekretärin gewesen, eine von vielen. Sie war keine besonders tüchtige Sekretärin, darüber war sie sich durchaus im Klaren, aber sie war freundlich, höflich und umgänglich. Schön, ohne attraktiv zu sein. Sie hatte mit ein paar Typen zusammengewohnt, ohne dass mehr daraus geworden war. Sie waren wieder aus ihrem Leben verschwunden und sie hatte ihnen keine Träne nachgeweint. Und dann war Flemming aufgetaucht und hatte stumm, mit vor Bewunderung großen Augen vor ihr gestanden. Er hatte ihr auf eine charmante, altmodische Art den Hof gemacht. Hatte sie belagert. In Konzerte eingeladen, ins Theater und ins Restaurant. Er hatte ihr Blumen geschickt, Schokolade und kleine Geschenke.
»Der ist es«, hatten ihre Kolleginnen gesagt, aber sie war sich noch nicht ganz sicher gewesen. Sie war verliebt, ein wenig, aber reichte das?
Als er dann um ihre Hand angehalten hatte, hatte sie Ja gesagt.
Weder vor sich selbst noch vor anderen hatte sie jemals zugegeben, dass ihr Ja vielleicht damit zusammengehangen hatte, dass im Büro EDV eingeführt werden sollte. Der Gedanke hatte sie in Panik versetzt. Sie hatte gewusst, dass das ihre Fähigkeiten übersteigen, sie nicht mithalten können würde, dass ihr die Kündigung sicher wäre. Eine Ehe war der eleganteste Ausweg gewesen.
Und sie hatte es nicht bereut. Sie war kurz nach der Heirat schwanger geworden und hatte, noch bevor das Kind auf der Welt war, zu arbeiten aufgehört. Einen Computer zu bedienen, hatte sie nie gelernt.
Er sorgte gut für sie. Liebte sie und die Kinder und versuchte immer, es ihr recht zu machen. Er stand für Sicherheit und Stabilität. Hin und wieder war sie seiner etwas müde, der Sicherheit etwas müde. Stellte die Sicherheit auf die Probe. Stritt mit ihm. Tobte. Deutete an, dass es ihr in den Sinn kommen könnte, ihn zu verlassen. Zum einen, um ein wenig mit der Sicherheit zu spielen, sie herauszufordern, sie aufs Spiel zu setzen, und zum anderen, um sich immer wieder bestätigen zu lassen, dass er sie nie, nie im Stich lassen würde. Sie wusste auch, dass er alles tun würde, um sie zurückzuhalten, sollte es ihr eines Tages einfallen, ihn zu verlassen. Und dass er all seine Klugheit und all sein juristisches Wissen einsetzen würde, um zu verhindern, dass sie die Kinder bekäme.
Deshalb wusste sie, dass sie ihn nie verlassen würde, niemals!
Aber es bestand schließlich kein Grund, dass er sich ebenso sicher war.