Читать книгу Der Prinz ist tot - Skandinavien-Krimi - Kirsten Holst - Страница 9
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Оглавление»Er war ein guter Junge.«
Therkelsen sagte nichts. Er seufzte unhörbar, während er seinen Blick durch das Zimmer wandern ließ. Jede Mutter war wohl der Ansicht, dass ihr Sohn ein guter Junge war.
Es war ein gemütliches Wohnzimmer mit einem Klavier. Darauf standen ein paar Fotografien. Eine zeigte einen Mann um die vierzig und sah wie die Vergrößerung eines Passbilds aus, eine andere zeigte drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, nach dem Alter in einer Reihe aufgestellt. Es gab noch ein Foto desselben Mädchens mit Studentenmütze und zwei Hochzeitsfotos. Doch von Lars, dem Prinzen, gab es keine weiteren Bilder.
Seine Mutter hatte nicht geweint, als Therkelsen ihr mitgeteilt hatte, dass ihr Sohn tot war. Sie hatte ihn nur angesehen und genickt.
»Wollen Sie nicht hereinkommen?«, hatte sie gefragt.
»Erschossen«, sagte sie, als Therkelsen eingetreten war und erzählt hatte, was passiert war. »Im Grunde habe ich wohl schon lange damit gerechnet. Sie finden es vielleicht seltsam, dass ich nicht weine, aber ich habe so viel wegen dieses Jungen geweint, dass alle Tränen verbraucht sind. Auf eine Weise bin ich froh, dass es so geendet hat. Das von einer Mutter zu hören, erwartet man nicht, aber ich habe immer Angst gehabt, dass er eines Tages ... Da ist es schon besser, dass er erschossen worden ist, als dass er eines schönen Tages selbst jemanden erschossen hätte. Ich meine, absichtlich.«
Therkelsen nickte nur. Es bestand kein Grund zu erzählen, dass er nicht glaubte, dass es sich bei dem Schuss damals um einen Querschläger gehandelt hatte. Obwohl es zwei Zeugen gegeben hatte. Brian und den König. Nicht gerade unbescholtene Männer, doch das hatte nichts geändert.
Und jetzt sagte sie ihm, dass er ein guter Junge gewesen war.
Therkelsen sah sie an. Sie erwartete keine Antwort, saß einfach da und starrte in die Ferne.
»Ein sehr guter Junge«, fuhr sie fort.
Therkelsen sagte noch immer nichts. Er sah Lars nicht als guten Jungen an. Ganz im Gegenteil.
Sie richtete den Blick auf ihn. »Als er klein war«, fügte sie hinzu. »Bis er zehn, elf Jahre alt war.« Sie biss sich auf die Lippe und stand schnell auf. »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«
Therkelsen nickte. »Ja, danke.«
Sie hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren, merkte er. Sie konnte nicht still sitzen, musste sich beschäftigen. Es würde ihr gut tun, Kaffee zu kochen.
Als sie mit dem Tablett hereinkam, sah er, dass sie geweint hatte. Es waren also doch noch Tränen übrig gewesen, aber sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Sie stellte die Tassen auf den Tisch und schenkte ihnen Kaffee ein.
»Wie gut hast du ihn gekannt?«, fragte sie und vergaß, ihn zu siezen.
»Ziemlich gut«, sagte Therkelsen. »Er hat ja mehrmals gesessen.«
Sie nickte. »Ich meine seinen Hintergrund. Sein Vater starb, als er elf war.« Sie nickte zu der Fotografie auf dem Klavier hinüber. »Er wurde dreiundvierzig. Ich hatte gerade das Klavier da bekommen. Er hat es mir zu meinem Vierzigsten geschenkt. Zehn Tage bevor es passierte. Er hat in der Eternitfabrik gearbeitet. Im Schichtdienst. Eines Abends ist er kurz nach elf nach Hause gekommen. Sie sind immer zu dritt gefahren. Wir hatten kein Auto. Sie haben ihn wie üblich an der Ecke abgesetzt. Er hatte nur ein paar Hundert Meter zu gehen. Es war Freitag. Hier an der Ecke ist er auf ein paar junge Typen gestoßen. Rowdys. Sie haben ihn angehalten und wollten Zigaretten. Er hat nicht geraucht. Er hatte aufgehört, um für das Klavier zu sparen, verstehen Sie? Dann sind sie über ihn hergefallen. Drei große Kerle. Haben ihn niedergeschlagen und gegen den Kopf getreten, als er am Boden lag. Sie haben erst aufgehört, als zufällig ein Streifenwagen vorbeikam. Mein Mann wollte nicht ins Krankenhaus. Er ist nach Hause gekommen. Er sah furchtbar aus. Er ist ein paar Tage nicht zur Arbeit gegangen, dann hat er wieder angefangen, obwohl er Kopfschmerzen hatte. Fünf Tage später ist ihm auf der Arbeit schlecht geworden. Er ist umgekippt. Er war bewusstlos, als er ins Krankenhaus kam, und ist nicht mehr aufgewacht. Er hat elf Tage dort gelegen, dann ist er gestorben.
Die Typen, die ihn überfallen haben, wurden wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Für mich war das Mord, aber nein, fahrlässige Tötung, und selbst davon hat man sie freigesprochen. Er könnte doch mit dem Kopf gegen die Bordsteinkante geschlagen sein, hat der Verteidiger gesagt. Sie sind mit einer Anzeige wegen Ruhestörung davongekommen.«
Therkelsen nickte müde. Er hatte diese Geschichte so oft gehört.
»Man sollte meinen, nach diesem Vorfall hätten die Jungen für den Rest ihres Lebens einen Widerwillen gegen so etwas gehabt, nicht? Gegen Gewalt, Kriminalität und Schlägertypen. Unsere Jungen, meine ich. Zumindest hätte ich das angenommen. Doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Es war, als empfänden sie eine gewisse Verachtung für ihren Vater, weil er nicht gegen die Typen angekommen war. Und für die Polizei und das Gericht. Eigentlich hat der Große damit angefangen. Er ist seine eigenen Wege gegangen und Lars hat ihn sehr bewundert. In gewisser Weise war er so etwas wie eine Vaterfigur für ihn. Der Große ist Mitglied in einer Jungenbande geworden. Ladendiebstähle, Taschendiebstähle und so. Lars hat auch mitgemacht. Später waren es dann Autodiebstähle, immer wieder. Er ist in ein Heim gekommen. Es hat nicht geholfen. Es wurde eher noch schlimmer. Ove, der Große, hat dann aufgehört. Fast von einem Tag auf den anderen. Da war er siebzehn. Er hat bei meinem Schwager eine Lehre gemacht und seitdem hat er sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Als er mit der Lehre fertig war, hat er studiert, um Ingenieur zu werden, es geht ihm gut. Und dem Mädchen auch. Sie ist Architektin. Ich glaube, Lars fühlte sich von Ove im Stich gelassen. Für ihn war er so etwas wie ein Deserteur. Man konnte nicht mit ihm reden. Lars schien seine Welt mit ihren Gesetzen und Regeln als die richtige anzusehen und zu meinen, dass wir im Unrecht sind. In den letzten Jahren haben die Kinder sich nur noch zu Familienfesten und so gesehen und zuletzt nicht einmal mehr das. Sie wollten Lars nicht dabeihaben. Die Leute kannten ihn und redeten über ihn und er interessierte sich auch nicht für die Familie.«
»Auch nicht für Sie?«, fragte Therkelsen.
»Er ist hin und wieder gekommen und war dann immer nett und lieb. Aber er kannte meine Meinung. Einmal hat er mir vorgeworfen, dass ich die anderen vorgezogen hätte. Ich habe ihm gesagt, dass das nicht stimmen würde, aber dass ich ihre Art zu leben vorzöge. Das sei dasselbe, meinte er.«
»Was ist mit Mädchen? Hatte er eine feste Freundin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er hatte kein besonderes Glück mit den Mädchen. Vor allem in den letzten Jahren nicht. Als er Anfang zwanzig war, lief es besser. Da waren die Mädchen ja auch noch jünger. Einige dieser jungen Dinger finden es anscheinend spannend, mit einem Typen zusammen zu sein, den jeder kennt, der Motorrad fährt und der eine Lederkluft trägt. Sie sind so naiv, nicht wahr? Sie finden das Klasse. Sie halten ihn für einen tollen Kerl – genau wie er sich selbst. Aber auch sie werden erwachsen und die meisten von ihnen klüger. Die, die er bekommen konnte, haben ihm nicht gefallen. Sie waren ihm zu hart, in ihrer Ausdrucksweise und auch sonst. In gewisser Weise hatte er Angst vor Mädchen. Er hatte wohl ziemliche Minderwertigkeitskomplexe. Vor allem gegenüber seiner Schwester, aber irgendwie schien das auf alle Mädchen abzufärben. Sie war so tüchtig. So fleißig. So zielbewusst. Sie hat in dem Jahr, in dem mein Mann starb, Abitur gemacht. Sein Tod schien sie nur noch mehr anzuspornen. Und als dann auch Ove zu studieren begann ...«, sie seufzte. »Mein Schwager hat es übrigens versucht. Er hat Lars in die Lehre genommen. Aber es hat nicht funktioniert. Er ist im Gefängnis ein und aus gegangen und hat sich nicht einmal Mühe gegeben, dass es klappt. Er war nicht so klug und auch nicht so geschickt mit den Händen wie die beiden anderen. Eigentlich war er in nichts richtig gut. Er hat nie seinen Platz gefunden. Ich meine, es gibt doch eine Menge Menschen, die über keine besonderen Fähigkeiten verfügen und trotzdem etwas finden. Die Streichholzschachteln und Briefmarken sammeln oder alles über irgendeine Popgruppe wissen. Sie finden etwas, was zu ihnen passt. Aber Lars ... Man kann natürlich sagen, dass auch er seinen Platz gefunden hat, nämlich in dieser Bande. Bei den Blue Devils. Bei denen war er wer. Er kam gleich nach dem Anführer, hat er gesagt. Ich fand nicht, dass das ein Grund zum Prahlen war. Gewalt und Mord und Vergewaltigung und Rauschgift, dafür waren sie bekannt. Ist das ein Grund, stolz zu sein?, habe ich ihn gefragt. Aber er war der Meinung. Als er das letzte Mal hier war, hat er erzählt, dass er jetzt der Anführer ist. Nachdem der König sich quasi zu Tode gefahren hat.«
Sie redete und redete. Therkelsen hatte das Gefühl, dass sie schon jahrelang den Drang verspürt hatte, darüber zu reden. Über den verlorenen Sohn, den sie nicht verstand, dessen Leben sie verabscheute, den sie jedoch nie aufgehört hatte zu lieben. Bestimmt mochte sie nicht mit ihren Freunden und Bekannten über ihn sprechen und seine Geschwister hatten ihn wohl mehr oder weniger abgeschrieben. Aber jetzt war endlich jemand da, einer, mit dem sie reden konnte. Einer, der ihn gekannt hatte und dem sie nichts vormachen musste. Es war schon ein wenig paradox, dass sie sich einen Polizisten für ihre Erinnerungsrede über den Prinzen ausgesucht hatte. Sicher die einzige, die gehalten werden würde.
»Wann war das?«
»Das ist schon lange her. Gleich nach Neujahr. Er war gekommen, um mir ein gutes neues Jahr zu wünschen. Er hat mir eine Platte mitgebracht. Mozart. Ein Klavierkonzert mit Alfred Brendel. An so etwas hat er sich erinnert. Was ich mag und was nicht.« Sie seufzte und biss sich auf die Lippe.
»Und da sagte er, dass er jetzt der Anführer sei?«
Sie nickte.
»Hat er etwas darüber erwähnt, dass andere ihm den Rang streitig machen wollten?«
»Nein, überhaupt nicht. Es klang, als wäre das eine ausgemachte Sache. Darauf war er ... war er richtig stolz. Als wäre das eine Beförderung. Als würde er erwarten, dass ich ebenfalls stolz auf ihn bin.« Sie schüttelte den Kopf. »Stolz zu sein, dass mein Sohn der Anführer einer Gangsterbande ist! Er hat nie begriffen, was ich dabei empfunden habe! Wir lebten in verschiedenen Welten.«
»Was ist mit seinem Bruder?«
»In gewisser Weise hat er ihn wohl am besten verstanden. Er kannte diese Welt schließlich selbst ein bisschen. Aber er hat Abstand zu Lars gehalten. Vielleicht gerade deshalb. In seinem tiefsten Inneren hat er vermutlich ein schlechtes Gewissen, weil er ihn ursprünglich da hineingezogen hat. Er hat nie etwas gesagt, aber ich glaube, dass er das manchmal denkt. Und sich Vorwürfe macht. Aber er war schließlich fast noch ein Kind. Er hat es nicht absichtlich getan. Und er hat überhaupt nicht verstanden, warum Lars nicht auch einfach aufgehört hat. Er hat es schließlich auch geschafft. Für ihn war Lars ein Schlappschwanz. Aber Lars hatte, im Gegensatz zu Ove, nichts anderes, dem er sich zuwenden konnte.«
»Und danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen oder gesprochen?«
»Gesehen nicht, aber gesprochen habe ich noch vor einer Woche mit ihm. Er rief manchmal abends an. Von seiner Wohnung da draußen. Wenn er alleine war. Um zu hören, wie es mir geht, oder um ein wenig zu reden.«
»Hat er sich über irgendetwas Sorgen gemacht? Hatte er vor etwas Angst?«
Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Angst? Nein, er hatte nie Angst, hätte er die nur gehabt. Vielleicht hatte er auch immer Angst, aber nicht vor den gleichen Dingen wie wir. Ob er sich Sorgen gemacht hat? Nein, das glaube ich nicht. Er sagte etwas davon, dass die Geschäfte jetzt bald richtig in Gang kämen. Er wollte mir eine Reise nach Österreich schenken. Ich wollte so gerne einmal dorthin. Aber nicht von seinem Geld. Ich weiß schließlich, wo es herkommt.«
»Hat er das Thema noch vertieft? Das mit den Geschäften?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube, nicht. Er klang gern, als wäre er wer, aber er war sich schon darüber im Klaren, dass ich von seinen Geschäften mit Rauschgift nichts hören wollte.«
»Wissen Sie, ob er Feinde hatte?«
Die Mutter des Prinzen sah ihn einen Augenblick lang verblüfft an, dann begann sie zu lachen. »Feinde! Doch, ich bin mir sicher, dass er dutzende von Feinden hatte. Dutzende. Vielleicht sogar welche, die auf die Idee kommen könnten, ihn zu erschießen, aber kennen tue ich sie nicht. Sein schlimmster Feind, den einzigen, den ich kenne, das war er selbst. Und Selbstmord war es doch nicht.«
Therkelsen erhob sich.
»Danke für den Kaffee«, sagte er. »Haben Sie jemanden, der ...?«
»Ich fahre zu meiner Schwester und ihrem Mann«, sagte sie. »Wenn ich Ove und Lisbeth angerufen habe.«
Sie begleitete ihn zur Tür.
»Was ist mit dem ... Begräbnis?«, fragte sie. »Werden Sie ..., dauert es lange, bis ...«
Therkelsen schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ein paar Tage.«
»Das macht nichts. Er soll in aller Stille beerdigt werden. In einem anonymen Grab.«
»In einem anonymen Grab ...?«
»Ja, ich kann ihn doch nicht neben seinen Vater legen, oder? Ich finde, das geht einfach nicht, aber ich weiß nicht ..., vielleicht mache ich es doch. Das kommt darauf an, was seine Geschwister sagen.«
»Ja, das tut es wohl«, sagte Therkelsen. »Das tut es wohl.«
»Das Schlimmste ist, dass man sich immer wieder fragt, was man falsch gemacht hat. Wo man versagt hat.«
Therkelsen zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hatten Sie einfach nur Pech.«
Sie nickte. »Vielleicht.«