Читать книгу Marder Alarm! Ein mörderischer Sommer - Kirsten Klein - Страница 8

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"Typisch Elsie, sieht wieder mal alles nur aus der Vogelperspektive", meint Lady, als sie, Mistie und Captain Nemo das Ende des Gehwegs erreicht haben und den Straßenverkehr passieren lassen. Tatsächlich können sie nur mit hochgereckten Köpfen zusehen, wie die Elster über das Haus auf der anderen Straßenseite hinwegfliegt und ihrem Blickfeld entschwindet. "Kommt!", ruft Mistie, als endlich eine Lücke zwischen den Fahrzeugen entsteht, und überquert die Straße, gefolgt von seinen Freunden. "Die Richtung scheint ja zu stimmen."

Sie erklimmen gerade den Bordstein der anderen Seite, da ist Elsie plötzlich wieder da. "Gut, dass du deinen Fehler bemerkt hast", seufzt Captain Nemo erleichtert. "Fehler?" Elsie flattert ihm vor der Nase herum und sieht ihn irritiert an. "Was für ein Fehler? Ich bin zurückgekommen, weil ich gemerkt hab, wie lahm ihr seid." "Du warst schon bei eurem Schiff?", wundert sich Mistie, während sie dem vorausfliegenden Vogel folgen. Elsie stellt sich taub. Lady meint, es sei wahrscheinlich nur ein Katzensprung bis nach dorthin. "Unmöglich!", äußert sich Mistie. "Wenn eine Katze auch nur annähernd so weit springen könnte, wär' Captain Nemo doch schon längst dort!" Der Kater fühlt sich geschmeichelt und denkt nicht daran, Mistie die Bedeutung dieser Redewendung zu erklären.

Die Elster hüllt sich beharrlich in Schweigen. Nachdem sie sich flugs vergewissert hatte, dass dem Nest in der goldenen Kogge keine akute Gefahr droht, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, auf dem Rückflug einen Abstecher zur an der Norderelbe gelegenen Elbphilharmonie zu machen. Die Abendsonne spiegelt sich einfach zu verführerisch in deren gläsernen Fassade. Aber wozu soll sie das diesen Pelzträgern auf die Nasen binden?

Die haben, unter ihrer Führung, endlich die Tanzenden Türme hinter sich gelassen und erregen immer wieder die Aufmerksamkeit von Passanten. Manche müssen gar zweimal hinschauen, ehe sie ihren Augen trauen können. Ein Hund, eine Katze und ein Marder, die gemeinsam einer Elster hinterherrennen – wo gibt's denn so was?

Glücklicherweise haben es die meisten Leute zu eilig, um sich einzumischen. Nur eine ältere Frau schaut länger hin. Ist die Elster vielleicht flügellahm?, drückt ihr besorgter Blick aus. Endlich kann sie nicht mehr tatenlos zusehen. Wild ihre Handtasche schwenkend, stürzt sie sich auf die überraschten Vierbeiner und schreit: "Lasst sofort das Vögelchen in Ruh'!"

Nun bleiben doch weitere Passanten stehen und schauen zu. Lady, mehr verärgert als verängstigt, springt kläffend um die Füße der augenscheinlich Verrückten herum, um sie zu vertreiben. Captain Nemo findet die Situation schlichtweg unangenehm, während Mistie, tief im Herzen immer noch ein Wildtier, pfeilschnell inmitten einer Frühlingsblumenrabatte am Straßenrand verschwindet.

Das "bedrohte Vögelchen" landet auf dem dauergewellten, grauen Haupt seiner Beschützerin und zupft daran herum. Würde sich das nicht hervorragend als Nistmaterial eignen? Die Frau kreischt hysterisch und ergreift die Flucht, ohne auf den Weg zu achten – quer über die nächste Straße und hindurch zwischen hupenden Autos.

Elsie ist genervt und würde sie liebend gern ziehen lassen, wenn sie das nur könnte. Ihre Krallen haben sich nämlich im Kraushaar verhakt. Erst durch panische Flügelschläge gelingt es ihr, sich loszureißen.

Zerzaust bleibt die alte Dame zurück, während Elsie mit haarigen Füßen zu ihren Freunden fliegt und sie anfeuert: "Los weiter, bevor mich noch jemand vor euch retten will!" Dabei kitzelt sie mit den Haaren an den Füßen deren Nasen. "Ist es – hatschi – noch weit?", fragt Captain Nemo, der das Schlusslicht bildet, weil er untrainiert ist und zu gut genährt.

"Weit???" Elsie wundert sich immer wieder darüber, wie solch flügellose Spezies bis heute fortbestehen können – wahrscheinlich nur, indem sie vom dekadenten Wohlstand der Menschen profitieren. Als Gegenleistung dafür müssen sie sich denen unterordnen – na ja, wenigstens so tun, als ob. Für eine waschechte Elster wäre das nichts! Ein bisschen schmarotzen? Okay, aber um den Preis ihrer Unabhängigkeit? Niemals!

Derartige Gedanken behält Elsie jetzt allerdings für sich. "Da, hinter den paar Häusern, da ist es schon, mein prachtvolles Schiff!", ruft sie stattdessen aus und schwingt sich steil in die Höhe.

Ein paar Häuser... Für uns sind das ein paar Straßenzüge, denken die anderen, sparen sich ihren Atem jedoch fürs Laufen.

Bevor sie die Krähen sehen, vernehmen ihre empfindsamen Ohren deren Geschrei.

Elsie, inzwischen auf dem Dachgiebel des Hulbe-Hauses in der Mönckebergstraße, worauf die Kogge aus vergoldenem Kupferblech montiert ist, hat große Mühe, sie gemeinsam mit ihrem Partner Elias vor den darüber kreisenden Schwarzröcken zu verteidigen. Nur ungern gesteht sie sich ein, dass ein imposanter Kater wie Captain Nemo die vielleicht stärker beeindrucken könnte. So schnell ihre Flügel sie tragen, fliegt sie zu ihm und den anderen hinunter und zetert aufgeregt: "Schneller, ihr müsst euch beeilen! Beeilt euch!"

Die Vierbeiner fliegen schier über den Asphalt, sogar Captain Nemo. "Okay", maunzt er atemlos, "dafür musst du aber gleich deinen Teil unserer Abmachung erfüllen."

Knapp drei Kilometer entfernt, sitzt Freddy hinter dem Steuer, der Verzweiflung nahe. Können diese Vollidioten um ihn herum nicht lesen und wenigstens versuchen, einen Korridor zu bilden, durch den er zu dem verletzten Hund gelangen kann?, fragt er sich händeringend. Der Schriftzug auf dem Rettungswagen ist doch wirklich groß genug. Für die geht's schließlich nicht um Leben und Tod, sondern höchstens um ein verspätetes Abendessen oder um ein verpasstes Konzert.

Okay, denkt Freddy, letzteres können sie gerne haben. Anhaltend drückt er auf die Hupe. Das bringt ihn jedoch nicht weiter, sondern erzeugt nur Gegenhupen und Geschrei. Egal, irgendwie muss Freddy seiner Verzweiflung Ausdruck verleihen. Also hupt er und hupt – bis er aus dem Augenwinkel heraus bemerkt, dass eine Elster sich auf dem Außenspiegel der Beifahrerseite niedergelassen hat und auf den leeren Sitzplatz starrt.

Wo ist Sammy? Fragend blickt Elsie zu dem Mann hinter'm Steuer. Dem kann man die Besorgnis von den Falten auf der Stirn ablesen. Er reibt sich die Augen, lässt das Fenster der Beifahrerseite herunter und fragt: "Was willst du denn hier?" Die Frage ist rein rhetorisch gemeint, aber Elsie legt den Kopf schief und sieht Freddy aus ihren glänzenden Augen an, als würde sie wirklich überlegen. "Kannst ja auch nichts machen", hört er sich zu seinem eigenen Erstaunen weiterreden.

"Krah", erwidert die Elster. "Dass ihr Menschen aber auch immer alles besser wissen müsst." Freddy schlägt aufs Lenkrad und lacht über sich selbst. "Jetzt unterhalte ich mich vor lauter Verzweiflung schon mit einer Elster, hab ja wirklich einen Vogel!"

Erschrocken flattert Elsie auf, setzt sich aber sogleich wieder hin und krächzt beleidigt: "Du – einen Vogel? Welche auch nur halbwegs vernünftige Vogelfrau würde dich schon auswählen? Du kannst ja nicht mal fliegen!" Würde er zum Bodenbrüter taugen? Elsie stellt sich vor, wie Freddy brütend auf Feld oder Wiese sitzt. Ein absonderlicher Gedanke, wobei... Ein Nest könnte er vor Füchsen oder anderem hiesigen Raubzeug durchaus verteidigen, gesteht sie sich widerwillig ein.

Apropos Raubzeug – die Krähen hatten sich tatsächlich verzogen, als Captain Nemo und Mistie von der Rückseite des Hauses aus über den Ast eines Baumes angerückt sind und die goldene Kogge besetzten. Elias wähnte sich fast in seinem Ehrgefühl getroffen, weil er sich plötzlich so überflüssig vorkam.

In ihrer Konzentration aufeinander entgeht Elsie und Freddy, dass sie mittlerweile die Aufmerksamkeit anderer Verkehrsteilnehmer erregen. Sogar Passanten, die sich zwischen steckengebliebenen Fahrzeugen zur anderen Straßenseite hindurchlavieren, schauen verwundert zu ihnen herüber. Was ist denn das für eine merkwürdige Vorstellung? "Tiernotrettung", liest einer laut die weiße Aufschrift auf dem roten Lack vor. "Genau", erwidert Freddy und beugt sich zum Fenster hinaus. "Aber wenn ich hier noch lange feststecke, wird das dem armen angefahrenen Hündchen ein paar Straßen weiter wohl nichts mehr nützen."

"Sind sie Tierarzt?", fragt eine Frau. Freddy schüttelt den Kopf und deutet durch die Frontscheibe über die Reihen aus anderen Autos und Motorrädern hinweg. Die breite Straße ähnelt eher einem unüberschaubaren Parkplatz. "Der Doc ist mit dem Notfallkoffer auf Schusters Rappen weitergeeilt. Keine Ahnung, ob er den Unfallort inzwischen erreicht hat."

"Aha", krächzt Elsie. "So ist das also. Aber was soll dieses ganze unnütze Gerede von euch Menschen hier? Bringt uns das etwa auch nur einen Flügelschlag voran? Himmel – wenn wir Vögel uns so anstellen würden, wer von uns Winterurlaubern könnte dann Afrika erreichen, geschweige denn von dort zurückkehren? Bei uns gibt's keine Staus. Jeder in der Formation kennt seinen Platz. Mensch – ihr seid wirklich eine Blamage für alle Zweibeiner!"

"Warum schimpft sie denn so?", fragt die Frau von vorhin, worauf Freddy lakonisch vorschlägt: "Fragen Sie sie doch selbst." Aber da ist Elsie auch schon auf und davon. Für Erklärungen, die von Menschen sowieso nicht verstanden werden, will sie keine Zeit vergeuden.

Hinter der nächsten Kreuzung erkennt sie aus ihrer Vogelperspektive den Unfallort und erwägt, unmittelbar daneben zu landen, auf dem untersten Ast einer Linde, die mit einer Reihe von Artgenossen die Straße säumt. In letzter Sekunde schwingt sie sich jedoch wieder himmelwärts, bis über die Baumkrone. Dort unten riecht es nach Tod. Der Rettungswagen muss her, und zwar schnell!

Am Fuß der Linde kniet Sammy in einer Blutlache, umgeben von schaulustigen Passanten, und kämpft um das Leben des vor ihm liegenden Berner Sennenhundes. Er ist von einem LKW erfasst und an den Straßenrand geschleudert worden. Sammy bindet das verletzte linke Vorderbein ab und stillt somit die Blutung aus der Arterie. Wie er durch Druck auf die Maulschleimhaut feststellt, wird der Kreislauf des Rüden trotzdem schwächer. Sie färbt sich nämlich nur sehr verzögert wieder rosa. Der Rüde ist kaum noch bei Bewusstsein, hat wahrscheinlich zusätzlich innere Verletzungen. Sein röchelnder Atem erregt in Sammy einen Verdacht und lässt ihn befürchten, dass er seinen Patienten an den Tod verliert.

Aber aufgeben kommt für den Tierarzt aus Leidenschaft nicht in Frage – nicht, solange noch ein Fünkchen Leben in dem Hund glimmt.

Umso deutlichere Lebensäußerungen geben die Schaulustigen von sich. Sammy blendet alle Kommentare aus, konzentriert sich nur auf das Tier und erwägt, es zum Rettungswagen zu tragen. Dabei würde er jedoch weitere Verletzungen riskieren, etwa, dass eine gebrochene Rippe ein lebenswichtiges Organ durchstößt. Außerdem wiegt der Hund mindestens vierzig Kilo. Aber die Zeit drängt. Jede weitere Minute, die verstreicht, kann ihm den Tod bringen.

Gerade als Sammy ihn behutsam aufhebt, ertönt ein Geschrei, vor dem er unmöglich die Ohren verschließen kann. Sogar der Verletzte auf seinen Armen hebt schwach ein Lid und zuckt mit der Lefze.

Marder Alarm! Ein mörderischer Sommer

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