Читать книгу Marder Alarm! Ein mörderischer Sommer - Kirsten Klein - Страница 9

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Wie ausgestopft sitzt das weiße Kaninchen im Heu, die Augen starr vor Schreck, während der Mann es mit der Möhrenspitze an der Nase kitzelt.

Von hinten, aus dem Holzhäuschen am Rand des Geheges, dringt warnend die Stimme seines Gefährten an die langen Ohren: "Mach besser, was er will."

Aber das Kaninchen kann nicht fressen. Ihm ist die Kehle vor Angst wie zugeschnürt. Da schürt es die Panik nur noch, als das andere vom Haus aus weiterwarnt: "Pass auf, gleich greift er nach dir, duck dich."

Die riesige Männerhand schwebt über dem Nacken des Kaninchens. "Jetzt friss endlich, friss!", zischt Anton und piekst es mit der Möhrenspitze in die Nase. Reflexartig zuckt es zurück. Dem Häftling juckt es gewaltig in den Fingern. Die wollen zupacken, sich um den weichen Hals schließen, ganz fest, und ihm die Luft abdrücken – so, dass dem Vieh die Augen aus den Höhlen quellen, dass es platzt wie eine reife Frucht und Blut verspritzt.

Anton weiß, wozu diese Tiere angeschafft wurden. Sie sollen die soziale Kompetenz sowie das Verantwortungsbewusstsein der Inhaftierten fördern. So jedenfalls hat es die Knastpsychologin mal zu einem Aufseher gesagt. Pah, kann ja sein, dass manche Weichlinge darauf reinfallen!

Anton spürt, wie seine Handinnenfläche vor Erregung feucht wird. Sie legt sich auf das weiße Fell und drückt es behutsam nieder – gerade so fest, dass das Tier darunter zwar strampeln, aber nicht entweichen kann. Der Mann weidet sich an der Angst in den Knopfaugen, genießt seine Macht und säuselt: "Versuch's nur, du kannst mir nicht entrinnen. Hättest du gehorcht und gefressen, dann würde ich dich jetzt laufen lassen – vielleicht. Vielleicht auch nicht, ganz, wie's mir gefällt." Bei diesen Worten tritt ein dämonisches Lächeln in seine Augen. Ja, Anton ist gerne bei den Tieren – sehr gerne. Denn hier kann er beinahe vergessen, dass er selbst ein Gefangener ist.

Als hinter ihm Schritte nahen und eine Tür geöffnet wird, streicht seine Hand nachhaltig über das Fell des Kaninchens – so fest, dass es sich darunter unwillkürlich dehnt und immer länger wird.

"Fertig mit dem Ausmisten?", fragt eine sonore Stimme. Während Antons Hand beharrlich weiter über das Tier streicht, wendet er sich zu dem Aufseher um und setzt eine besorgte Miene auf. "Hoppel will einfach nicht fressen." "Ach was, er hat halt gerade keinen Hunger. Machen Sie sich nicht so viele Gedanken darum", entgegnet der Aufseher und schüttelt verwundert den Kopf. Aus diesem Gefangenen wird er einfach nicht schlau. Der soll brutal gewesen sein und Tiere gequält haben? Kaum hatte er von den Kaninchen erfahren, da wollte er sich unbedingt darum kümmern. Seitdem hält er das Gehege tiptop in Ordnung.

"Aber Hoppel hat abgenommen. Er ist schon ganz mager, fühlen Sie nur", beharrt Anton auf seiner Feststellung und legt dabei noch mehr Besorgnis in seine Stimme.

Also gut, denkt der Aufseher und tastet den Leib des Kaninchens ab. Hoffentlich gibt der Typ dann Ruhe. Zu seinem Erstaunen stellt er fest, dass die Rippen der Tieres tatsächlich deutlich spürbar sind. Er verspricht, es anderntags der Gefängnisleitung zu melden, und will den Häftling in die Zelle bringen. Der jammert: "Morgen kann es zu spät sein." "Ach was, so schnell verhungert man nicht", meint der Aufseher, doch der Häftling ist nicht zu überzeugen. "Ein Kaninchen vielleicht schon", entgegnet er und verharrt wie am Boden festgewachsen.

Entnervt blickt der Aufseher zur Wanduhr. Was soll er mit diesem Kerl machen? Schließlich muss er seinen Zeitplan einhalten. Soll sich doch die Psychologin mit ihm herumplagen, entscheidet er kurzerhand.

Als Anton damit sofort einverstanden ist, wird der Aufseher stutzig und verweist ihn darauf, dass die den Viechern aber nicht helfen könne. "Na jaaa...", erwidert der Häftling gedehnt, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen. "Wer weiß, vielleicht doch." Dann folgt er einer spontanen Eingebung und fügt unschuldig grinsend hinzu: "So ein Häschen ist ja schließlich auch nur ein Mensch." Spinner, denkt der Aufseher kopfschüttelnd und führt Anton zum Sprechzimmer der Psychologin. So engagiert, wie die sich immer gibt, ist sie möglicherweise noch da.

Doch auch nach wiederholtem Anklopfen rührt sich nichts hinter der Tür. Der Aufseher packt Anton am Ellenbogen und wendet sich zum Gehen, als Frau Dr. Schwartz doch noch öffnet und die beiden erstaunt anblickt. Bevor sie etwas sagen kann, stößt Anton in vermeintlicher Verzweiflung hervor: "Er will den Tierarzt nicht rufen, obwohl es Hoppel schlecht geht." "Hoppel?" Die Psychologin war gedanklich schon auf dem Heimweg und am Überlegen, was sie alles besorgen muss.

"Das weiße Kaninchen", hilft ihr der Aufseher auf die Sprünge und möchte erklären, dass er den Tierarzttermin nur auf den nächsten Tag verschieben wollte.

Doch Anton fällt ihm ins Wort. "Ich rebelliere nicht. Ich will nur Hoppel nicht verlieren." Verblüfft hält er inne. Das stimmt ja sogar. Schließlich muss ihm das Tier noch als Mittel zum Zweck dienen.

Dr. Schwartz ist geneigt, Anton zu glauben. Nein, mit diesem seelischen Konflikt kann und will sie ihn nicht in seine Zelle schicken, obwohl sie längst auf dem Heimweg sein sollte. "Es ist zwar schon spät, aber ein paar Minuten habe ich noch Zeit", sagt sie also und bittet den Aufseher, auf dem Flur zu warten.

Im Sprechzimmer bietet sie dem Häftling einen Stuhl an und betrachtet ihn nachdenklich, während sie ihren Rechner hochfährt. Anton äußert seine Sorge um das Kaninchen in den höchsten Tönen. Indem er sich vor Augen hält, wie nützlich es lebend für ihn ist, kann er sich glaubwürdig einbringen und die Freude der Psychologin über ihren vermeintlichen Therapieerfolg steigern.

Das lässt sie unvorsichtig werden – und durchschaubar. Anton spürt, wie sie innerlich frohlockt, während sie notiert: Herr R. macht unglaublich große Fortschritte. Er beginnt Empathie für Mitgeschöpfe zu entwickeln.

Kritisch überdenkt Dr. Schwartz das Geschriebene und löscht das "unglaublich". Es könnte einem späteren Leser ihrer Dokumentation suggerieren, dass sie unterschwellig mit ihrer Einschätzung hadert, und ihn ihre Kompetenz anzweifeln lassen. Aber was, wenn sie tatsächlich hadert...?

Nachdenklich greift sie nach einem Kugelschreiber und dreht ihn zwischen den Fingern.

Anton fixiert ihn, während er sich weiter über seine blühende Tierliebe auslässt. Was zum Kuckuck muss er denn noch absondern, damit sie ihm glaubt?

Indem ihre Zweifel sich auf ihn übertragen, schleicht sich Nervosität in seine Stimme. Sein Geduldsfaden gleicht einer Zündschnur. Als deren Ende fast erreicht ist, entgleitet Dr. Schwartz' Fingern der Kugelschreiber und fällt klirrend auf den Schreibtisch.

Abrupt bricht Antons Rede ab. Irritiert horcht er auf. Er ahnt nicht, dass die Nervosität seines Gegenübers nur indirekt mit ihm zu tun hat. Egozentrisch, wie Anton veranlagt ist, denkt er nicht daran, dass es noch etwas anderes im Leben der Psychologin geben könnte, als die Betreuung Strafgefangener. Vertieft in seine Rolle als besorgter Kaninchenvater, wird ihm erst jetzt bewusst, wie oft sie bereits zur Uhr gesehen hat. "Oh", stößt er hervor, "tut mir leid. Sie wollen sicher nach Hause."

Sie nickt. "Schön, dass Sie das einsehen, Anton. Ich verstehe Ihre Besorgnis über das Kaninchen und teile sie mit Ihnen. Doch leider ist meine Zeit ja generell knapp bemessen. Gern würde ich Ihnen so lange zuzuhören, wie es eigentlich notwendig wäre, aber schließlich muss ich für alle Bewohner dieser Einrichtung da sein.

Deshalb möchte ich Ihnen nahelegen, einen Briefkontakt aufzubauen, zu einem ehrenamtlichen Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin außerhalb dieser Vollzugsanstalt. Dabei könnten Sie sich alles vom Herzen schrei..."

Ein Geräusch – vielmehr ein Gemisch aus Geräuschen, die unkenntlich ineinander verheddert sind –, lässt sie innehalten. Unbeabsichtigt teilt Dr. Schwartz jetzt etwas mit Anton, und zwar die Überlegung, was draußen los sein könnte.

Im selben Moment stürzt der Aufseher zur Tür herein, starrt die beiden entgeistert an und eilt ans Fenster, die Psychologin hinterher. Anton will ihnen folgen, doch der Aufseher befiehlt ihm, sitzenzubleiben und wendet sich mit flehendem Blick an Frau Dr. Schwartz: "Bitte bestätigen Sie mir, dass sie dasselbe sehen wie ich." Nickend reibt sie sich die Augen. "Ich fürchte, ja." Bedeutet das, dass sie beide verrückt geworden sind?

Sammy fürchtet um seinen Verstand, als der Tierrettungswagen angefahren kommt, direkt auf ihn zu. Ist seine Verzweiflung übermächtig geworden? Gaukeln seine gestressten Sinne ihm vor, Elsie und etliche ihrer Artgenossen würden als lebende Sirenen den Wagen zu ihm geleiten?

Aber genau so muss es sein, denn alle anderen sehen es ebenfalls. Deutlich ist das von ihren verdutzten Gesichtern abzulesen. Auto- und Zweiradfahrer weichen ehrfürchtig beiseite und bilden eine Gasse, durch die Freddy den Wagen zu Sammy lenken kann.

Mit routinierten Griffen betten die beiden Männer den schwergewichtigen Hund auf eine gepolsterte Trage, laden ihn ein und brausen davon – knapp oberhalb der höchstzulässigen Geschwindigkeit. Sobald sie in Sicht- und Hörweite geraten, teilt sich vor ihnen das Auto-Meer.

In ganz verstopften Straßen muss Freddy zwar den Fuß vom Gas nehmen, die Bremse aber kaum berühren. Hier weichen die Fahrzeuge nämlich auf die Bürgersteige aus und Passanten an die Fassaden der Häuser – die Augen ungläubig geweitet.

Solche Gebiete meidet Freddy jedoch mit Hilfe eines Navigators. Der führt ihn an der Haftanstalt vorbei, wo Anton einsitzt.

Im Fond, dessen Ausstattung der eines normalen Rettungswagens gleicht, intubiert Sammy seinen Patienten, beatmet ihn und injiziert ihm ein Schmerzmittel. Dabei spricht er beruhigend auf ihn ein und streichelt ihn.

Eine gefühlte Ewigkeit später erreicht der Tierrettungswagen die Villa auf dem Falkenstein. "Moment, Moment", vertröstet Sammy die gefiederten Sirenen, beschreibt dem Fahrer, wo das Futter aufbewahrt wird und bittet ihn, die Vogelschar zu versorgen.

Unterdessen haben die beiden den Patienten in die Praxis geschleppt und auf dem Behandlungstisch positioniert.

Beim Röntgen sieht der Tierarzt seinen Anfangsverdacht bestätigt. Eine gebrochene Rippe hat das Lungenfell durchstoßen. Dadurch sind Luft sowie Blut ausgetreten und in den Pleuraspalt gelaufen, der sich zwischen Brustwand und Lunge befindet.

Normalerweise herrsche dort ein Unterdruck, der die Lunge aufspanne, erklärt der Tierarzt dem zurückkehrenden und interessiert zuschauenden Freddy, während er endoskopisch eine Drainage legt und den Pleuraspalt freizusaugen beginnt.

"Klappt's nicht?", fragt Freddy, weil Sammys Miene Minuten später immer noch besorgniserregend angespannt wirkt. Hochkonzentriert auf seine Arbeit, antwortet der Tierarzt nicht unmittelbar darauf. Leider muss er nun doch den Brustkorb eröffnen, um den Riss in der Lunge verschließen zu können.

Marder Alarm! Ein mörderischer Sommer

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