Читать книгу Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 8

4

Оглавление

»It takes a worried man to sing a worried song,

I’m worried now but I won’t be worried long.«

Trad.

Sie waren eine nahezu glückliche kleine Familie gewesen.

Zumindest für eine Weile.

Vater, Mutter, Kind.

Der Vater hatte auf der Rosenbergwerft gearbeitet, die schon bessere Tage gesehen hatte. Aber es waren noch längst nicht alle entlassen, damals, als man sie Rosenbergwerft nannte – und nicht Moss-Rosenberg AG, obwohl das seit 1970 der offizielle Name war, oder Kværner-Industrie, von der die Werft später aufgekauft wurde. Es war, noch ehe man im Unternehmen die Nase so hoch trug, daß sich einer der Kværner-Manager sogar einen privaten Golfplatz in London kaufte.

Viel früher.

Als sie, wie gesagt, einfach Rosenbergwerft hieß und die meisten Männer, die dort arbeiteten, am Sund unter dem Brückenbogen wohnten, in der Gegend, die man Varmen nannte.

»Meine Mutter heißt Arna und kommt von der Insel Karmøy«, sagte Tom, der am Bett saß und Moss betrachtete, während er an seinen blonden Haarsträhnen herumzupfte, als helfe es ihm, konzentriert und klar zu erzählen. »Mein Vater ist ... war ein echter Stavangerjung. Wenn er Mama ärgern wollte, sang er immer: Geborn bin ich in Straen, bin ein echter Jung vom Meer.«

Arna Vågevik war Hausfrau. Damals hatte es sich ein ordentlicher Metallarbeiter noch leisten können, seine Frau zu ernähren. Dafür hatte der Lohn gereicht. Als Tom 1982 eingeschult wurde, hatte sie nachmittags als Wäscherin gearbeitet, wie Margaret Moss später von Arna Vågevik erfuhr. »Wir hatten uns nämlich grad eine neue Wohnung oben in Tasta gekauft.«

Als Kolbein 1993 gekündigt wurde, mußte Arna ihr Arbeitspensum erhöhen.

»Ich hab Glück gehabt und unten im Ort einen Teilzeitjob gekriegt, in der Imbißbude, zusätzlich zum Waschen. Aber nach zwei Jahren haben meine Muskeln gestreikt. Ich wurde krank geschrieben. Immer wieder, 1997 kam ich in die Reha und sollte danach wieder ins Arbeitsleben eingegliedert werden. Aber was nützt so was schon bei einer wie mir? In was sollte ich schon wiedereingegliedert werden?«

Arna Vågevik blickte Moss an und lachte. Es war kein fröhliches Lachen.

»Ich bin einfach sitzen geblieben. Und hab geraucht. Und Zeitschriftenartikel über Fibromyalgie ausgeschnitten, falls jemand vorbeikommen würde. Da hatte ich was zum Vorzeigen, die Krankheit hatte immerhin einen Namen!«

Kolbein hatte versucht, wieder Arbeit zu finden, so war es nicht. Eine Weile hatte es etwas heller ausgesehen. Er hatte eine Stelle in einem großen Lager gehabt, doch nach einem Jahr wurde alles auf Computertechnik umgestellt. Kolbein wurde auf Fortbildungen geschickt, aber irgendwie bekam er es nicht hin. Nach und nach graute ihm davor, zur Arbeit zu gehen, und er begann morgens unter Durchfall zu leiden. »Das sind die Zigaretten«, sagte er. »Jetzt werd ich verdammt noch mal das Rauchen aufgeben.«

Doch er brauchte nicht auf seine Selbstgedrehten zu verzichten.

Einsparmaßnahmen, nannte es der Personalchef. Wer zuletzt gekommen war, mußte zuerst gehen.

1995, kurz vor Weihnachten, war er einem Mann begegnet, der sein Leben verändern sollte. Er hieß Rune Reiedal.

»Ich kann mich noch gut erinnern«, sagte Harry, der mit einer neuen Zigarette im Mundwinkel auf der Bettkante saß. »Kolbein und ich hingen unten am Anleger rum, war das ein schöner Tag, du meine Güte, man wollt nicht glauben, daß schon Dezember war.«

Dann hatte drüben am alten Zollhaus ein Auto gehalten, und ein Mann war ausgestiegen. Es war Rune Reiedal, der Wichtigtuer (so nannte man ihn in Stavanger), Alleinerbe von Reiedal & Knudsen. Früher hatte das große Geschäftshaus »Feine Textilmanufaktur« geheißen, inzwischen war es längst ein Modehaus, das sich vor allem an junge Mädchen wandte. Es war an eine Firmengruppe verkauft worden. In Stavanger erzählte man sich, Rune Reiedals Vater hätte Konkurs gemacht, wenn nicht der Sohn zu Beginn der siebziger Jahre die Leitung des Unternehmens übernommen hätte. Rune hatte gerade sein Betriebswirtschaftsstudium abgeschlossen, als er Kompagnon des Vaters wurde. Einen Knudsen gab es nicht mehr, er war 1958 gestorben und hatte keine Erben hinterlassen.

»Wir hatten grad von Rune gesprochen, und es war schon verdammt merkwürdig, als er plötzlich aufgetaucht ist.«

Harry schüttelte den Kopf, daß die Asche von seiner Zigarette hinunterrieselte.

Die beiden alten Kumpel hatten auf dem Pier gesessen, der Frührentner und der Arbeitslose, und beobachtet, wie sich die Häuser am Strandkai in der unruhigen Wasseroberfläche spiegelten. Gerade war ein Versorgungsschiff eingelaufen, das nagellackrot und unfaßbar riesig dalag, wie ein großes Tier knurrte und vom Ölwunder draußen auf der Nordsee zeugte.

»Die Sache mit dem Öl ist ja nicht für alle gleichermaßen wunderbar«, hatte Kolbein gesagt und ins Wasser gespuckt.

»Aber es gibt immer welche, weißt du«, hatte er gesagt, »es gibt welche, die fallen immer wieder auf die Füße.«

Und dann hatten sie sich über Rune Reiedal unterhalten, den sie noch von früher kannten, als sie gemeinsam in der Stadt herumgezogen waren und sich mit allen möglichen Leuten einen hinter die Binde gegossen hatten.

Damals war Rune zusammen mit ihnen durch die Stadt gestreunt, der scheinbar wohlerzogene, aber im Grunde völlig hemmungslose Kaufmannssohn, dessen Ruf ruiniert war, seit man ihn besoffen und buchstäblich mit heruntergelassener Hose aufgegriffen hatte. Mit den Söhnen des Apothekers hatte er Äthylalkohol aus der Apotheke getrunken. Sie waren damals etwa fünfzehn gewesen. Später hatte er die Haushaltshilfe geschwängert, die nach Dänemark geschickt wurde, um abzutreiben, wie es hieß. Niemand hatte sie je wiedergesehen.

»Rune war wirklich ein Wilder«, hatte Harry gesagt und wegen des Verkehrslärms hinter ihnen auf dem Kai die Stimme erheben müssen. »Aber reich ist er geworden!«

Genau in diesem Moment stieg Rune Reiedal am alten Zollhaus aus seinem Auto und entdeckte die beiden. Er kam mit langen Schritten auf sie zu und setzte sich zu ihnen. »Na, und ihr sitzt hier und genießt die Aussicht?«

Harry und Kolbein hatten sich einen mißtrauischen Blick zugeworfen, aber Rune war kumpelhaft und ruhig und lud sie auf ein Bier ein. Sie erhoben sich, ein bißchen steif, und gingen ins Dickens, das nur einen Steinwurf entfernt war.

Rune erinnerte sie daran, daß er auch mal auf der Rosenbergwerft gearbeitet habe. In den Sommerferien. Das hatte Harry vergessen, aber als Rune es erwähnte, erinnerte er sich.

»Wir waren doch alle eine Clique, Mensch«, sagte Rune und stellte sein Bierglas klirrend auf dem Tisch ab. »Ihr und ich und John Eimeland, wie haben wir den noch genannt?«

Dillinger, John Dillinger. Nicht weil der Junge so ein Großverbrecher gewesen wäre, sondern weil er immer damit prahlte, daß sein Großvater den berühmten gleichnamigen Gangster kennengelernt habe, als er vor dem Krieg auf den großen amerikanischen Binnenseen gesegelt war.

Ja, vielleicht waren sie eine Clique gewesen – einen Sommer lang.

Und jetzt saßen sie zusammen und tranken Bier, das Rune ihnen spendierte. Erzählten von sich und ihren Angelegenheiten, eigentlich recht traurige Geschichten.

Harry war lange vor Kolbein geflogen. Wegrationalisiert, wie es hieß.

Später dachte er sich, daß dieser Reiedal irgendwas im Sinn gehabt haben mußte, an jenem Tag unten am Anleger, als er sie in die Kneipe mitgenommen hatte.

Daß er es lange vorgehabt und nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte.

»Verdammt, du brauchst doch nicht ohne Geld herumzulaufen!« hatte Rune Reiedal gesagt und Kolbein angesehen. »Nur Dummköpfe sind arm.«

Harry hatte er nicht eines Blickes gewürdigt.

Vermutlich hatte er sich Kolbein für seine Zwecke auserkoren, und von diesem Tag an war Kolbein Vågeviks Schicksal besiegelt, wovon er natürlich nichts wußte. Er dankte dem Schicksal, weil es ihn zu Rune Reiedal geführt hatte, als dieser gerade Leute brauchte.

Kolbein bekam Geld zwischen die Finger. Aber es verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Es gab zwar eine lederne Couchgarnitur und einen Bücherschrank aus Palisander für Arna und ihn und für Tom die ersehnte E-Gitarre. Aber die Schulden hatten die Eigenschaft, trotzdem zu wachsen. Jedesmal wenn Kolbein glaubte, auf einen grünen Zweig gekommen zu sein, kam Rune Reiedal und erinnerte ihn daran, was er ihm noch schuldete.

Außerdem hatte er inzwischen begonnen, zu Pferderennen zu gehen.

Und auf den ersten Blick wirkte es ja auch so nett und harmlos, draußen in Forus auf der Trabrennbahn mit den Promis zu verkehren.

Er legte sich teurere Lebensgewohnheiten zu.

Den Durchfall bekam er ironischerweise auch wieder.

Sonderlich hohe Ideale habe Kolbein wohl nie gehabt, sagte Harry. Aber er habe doch immerhin genug Verstand gehabt, um zu merken, wenn etwas zu riskant wurde. Wenn es darum ging, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.

Doch genau darum ging es. Immer häufiger.

Und ihm, Harry Hesthaug, mit dem er doch immerhin manchmal ein Bier trinken ging, erzählte er immer weniger davon.

»Er hat wohl gewußt, daß das, was Rune Reiedal hinter der Fassade eines tüchtigen Geschäftsmannes getrieben hat, nicht nur Rune für viele Jahre hinter Gitter bringen könnte, wenn es jemand rausbekommen und aufdecken würde, sondern auch die Leute, die für ihn arbeiteten«, sagte Harry und warf Moss einen düsteren Blick zu. »Aber da war ja Geld zu holen. Viel Geld. Und wer ist schon wählerisch und beharrt auf seinen Prinzipien, wenn ganz offensichtlich in der Gesellschaft kein anderer welche hat!«

»Stimmt«, sagte Moss.

»Die Solidarität ist den Bach runtergegangen«, sagte Harry und aschte ab. »Die Kapitalisten haben alles im Griff, und kein Arsch kümmert sich noch um irgendwas. Das hat sich Kolbein wohl auch gedacht und – na ja, ich weiß, daß er so gedacht hat, und dann hat er sich wohl auf eine weitere Schmuggeltour mit dem großen Lastzug eingelassen, den er von einem Typen namens Næsvik gemietet hat. Wer ist schon ein Prinzipienreiter und denkt ans Wohl der Gesellschaft, wenn die Mächtigen es nicht mehr tun!«

»Und was ist mit Arna, seiner Frau?« fragte Moss und sah kurz zu Tom hinüber.

Er saß mit hängenden Schultern dabei, und man konnte nur vermuten, was er gerade dachte. Oh, Arna habe wohl geahnt, was sich da abspielte, meinte Harry. Tom nickte kurz.

Arnas Nacken hatte noch mehr als früher geschmerzt, und sie hatte doppelt soviel geraucht. Als sie eines Abends mit leuchtenden Augen und roten Wangen nach Hause gekommen war, hatte Kolbein für einen kurzen Moment geglaubt, sie sei mit jemand anders im Bett gewesen. Ihm sei aufgegangen, daß er wohl doch nicht so hoch im Rennen lag, wie er glaubte, hatte er Harry gegenüber gesagt. Doch dann hatte sie ihm erzählt, sie habe zu den Pilgerbrüdern zurückgefunden, einer kleinen freikirchlichen Gemeinde, aus der sie ausgetreten war, als sie seinerzeit Kolbein getroffen hatte, der ein ungläubiger Kerl war und damals nur der Arbeiterbewegung getraut hatte.

»Um so besser«, hatte Kolbein zu Harry gesagt, sobald er sich vom Schock mit den Pilgerbrüdern erholt hatte. »Um so besser! Dann hat sie wenigstens eine Beschäftigung.«

Tom erzählte, daß er selbst immer häufiger mit Freunden unterwegs und nur noch selten zu Hause gewesen sei. Sie hätten zusammen eine Band, die sie »Öl« nannten, das sei natürlich ironisch gemeint, sagte er, lächelte etwas schief und sah Moss durch seine Gardine von Haaren hindurch an. Sie spielten Rockmusik, die sein Vater nicht leiden konnte und als Höllenlärm bezeichnete, weit entfernt von den Beach Boys und anderen Gruppen, die Kolbein und Harry und ihre Kumpels in ihrem Alter gemocht hatten. Arna, die sonst nur Schlagersänger wie Jan Høyland mochte, halte das Gitarrenspiel des Sohnes erstaunlicherweise besser aus als der Vater, aber das liege wohl eher an ihrem Mutterherz als an der Musik, sagte Harry und lachte ein wenig.

Tom sagte nichts.

So verging die Zeit. Kolbein Vågevik transportierte Waren für den Teil von Rune Reiedals Unternehmen, von dem niemand etwas wissen durfte. Ab und zu lieh er sich die Garage eines Vetters draußen in Madla, der ohnehin kein Auto besaß und immer Platz für zwanzig bis dreißig Kanister Alkohol oder Kartons mit Zigaretten hatte, bevor sie weitertransportiert wurden.

Seine Probleme mit dem Magen hätten zugenommen, und er sei immer dünner geworden, sagte Tom. Er habe sich angewöhnt, nachts wach zu sitzen und zu rauchen. Wenn Arna morgens aufgestanden war, um Tom in die Schule zu schicken – er besuchte die letzte Klasse des Gymnasiums –, war das Wohnzimmer grau von altem Zigarettenrauch und das Sofa voller Tabakkrümel gewesen. Kolbein hatte sich nie an Fertigzigaretten gewöhnen können, egal, wie viele Schachteln er sich umsonst hätte beschaffen können.

Arna hatte sich Sorgen gemacht, aber wenn sie darüber reden wollte, hatte er abgeblockt.

»Ach, halt doch den Mund«, hatte er nur gesagt und war aus dem Zimmer gegangen.

Eines Abends hatte sie mit Tom darüber geredet. Hatte erzählt, wovor sie Angst hatte – daß diese Freunde von der Trabrennbahn in größere und schlimmere Dinge verwickelt sein könnten als die Schmuggeltouren nach Kiel.

Tom hatte sie über den Küchentisch hinweg angesehen und mit den Schultern gezuckt. Er trieb sich nicht dort herum, wo sein Vater verkehrte. Zwar wußte er, wer Rune Reiedal war, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß der Vater sich traute, nebenher etwas anderes und Größeres als Schmuggel zu betreiben.

Das Schmuggeln war ja außerdem nur ein Gerücht.

Kolbein selbst hatte nie etwas davon erzählt. Er befördere ganz gewöhnliche Waren, sagte er. Das tat er auch.

Zusätzlich.

Eines Tages hatte Tom zusammen mit Harry und dem Typen, der John Dillinger genannt wurde, in der Kneipe gesessen, was er normalerweise nicht tat. Es war reiner Zufall, an ihrem Tisch war ein Stuhl frei gewesen, und sonst war niemand im Lokal, den er kannte.

Seit seiner Kindheit hatte er gewußt, daß die beiden Männer Arbeitskollegen seines Vaters bei Rosenberg gewesen waren.

Sie hatten sich über Fußball unterhalten, und Harry, der gerade seine Spendierhosen anhatte, bestellte dem Jungen ein großes Bier und fand es richtig nett. Er war aufgeräumt und redselig und begann von Kolbein zu erzählen, wie er früher gewesen sei.

»Der war richtig geschickt auf der Gitarre, weißt du. Konnte verdammt gut spielen, dein Vater.«

Tom war hinterher mit zu Harry nach Hause gegangen. Harry hatte irgendwo eine Gitarre stehen, von der er glaubte, daß sie mal Kolbein gehört hatte, aber sie war nicht dort, wo er gedacht hatte, und deshalb setzten sie sich statt dessen hin und tranken.

Plötzlich war die ganze Geschichte aus Tom herausgebrochen.

Vom Vater, der so krank wirkte, und von der Mutter, die sich Sorgen machte und in die Andachten bei den Pilgerbrüdern flüchtete, um Trost zu finden. Schließlich war er so betrunken, daß er zu weinen anfing, wofür er sich am nächsten Tag schämte.

Während Tom Vågevik mit einer Wolldecke zugedeckt auf dem Sofa schlief, saß Harry in der Küche, sah draußen den Tag dämmern, trank starken Kaffee und dachte nach, was ihm nicht immer sonderlich leicht fiel. Und als Tom blaß und übernächtigt, die Hände in die Taschen der Jeansjacke vergraben, an diesem Vormittag nach Hause ging, hatte er ein Versprechen an seine Mutter dabei: Harry Hesthaug würde versuchen, mit Kolbein zu reden.

Sie waren trotz allem Kumpel. Ehemalige Arbeitskollegen. Sie waren doch zusammen zur Realschule gegangen.

Margaret Moss saß im Bett und betrachtete Harry mit dem einen Auge. Sie hatte das Brot gegessen und das Bier getrunken. Tom lehnte wie ein umgeknicktes Schilfrohr an der Wand. Von irgendwoher erklang ein Radio.

»Und haben Sie mit ihm reden können?« fragte sie und dachte, wenn sie jetzt nicht bald eine Kopfschmerztablette bekäme, müsse sie sterben.

Ja, Harry hatte mit Kolbein geredet. Er hatte sich als erstaunlich offen und umgänglich erwiesen, und es hatte den Anschein gehabt, als freue er sich, daß Harry sich Sorgen machte. Es stimmte schon, er sei an einer Sache dran, »einer großen Sache«, hatte er gesagt. Etwas, worüber er nicht reden konnte. Aber er wollte mit der ganzen Sache aufhören. Er kam mit diesem Streß nicht mehr zurecht.

Um was für einen Streß es sich handelte, hatte er nicht gesagt.

Noch am selben Tag hatte er einen Anruf auf dem Handy bekommen, woraufhin er vom Mittagstisch aufgestanden war, mitten beim gebratenen Hering, und gesagt hatte, er müsse los.

Bevor er gegangen war, hatte er sich übergeben. Das hatten Arna und Tom, die in der Küche sitzengeblieben waren, beide gehört.

Tom hatte nicht weiteressen können, sondern gleich nach dem Vater das Haus verlassen. War durch die Straßen gelaufen und hatte bei Harry angeklopft. Es sei dringend, hatte er gesagt. Der Vater sei krank und habe Todesangst, das könne jeder sehen.

»Ich hab selber Angst«, hatte Tom gemurmelt und mit den Zähnen geklappert, als er da in dem schwachen Westwind auf Harrys Treppe stand. »Ich glaub, da braut sich was zusammen.«

Harry hatte einen Moment nachgedacht und dann nach Kolbeins Handynummer gefragt.

Die hatte Tom in seiner Brieftasche.

Harry hatte die Nummer gewählt und einen kurz angebundenen und beschäftigten Kolbein am anderen Ende gehabt. Nein, er habe jetzt keine Zeit für ein Bier. Er sei gerade beruflich unterwegs. »Aber«, hatte Harry geschickt geschwindelt, »ich hab dich doch vor zehn Minuten hier auf der Straße gesehen!«

Nein, da habe er sich geirrt, hatte Kolbein mit gedämpfter Stimme gesagt, als wollte er nicht, daß jemand ihn hörte. »Ich bin auf dem Weg zum Orrestrand, du kannst mich also gar nicht gesehen haben.«

Dann hatte er Harry versprochen, ihn ein anderes Mal anzurufen, und aufgelegt.

Harry hatte sich damit zufriedengegeben, aber Tom nicht. Er war zu John Dillinger gegangen, der in der Dachwohnung desselben Hauses wohnte, und hatte gefragt, ob er dessen Auto borgen dürfe, einen alten, rostigen Opel mit der roten Feder des Lions-Clubs auf der Heckscheibe.

»Kommt gar nicht in Frage«, hatte John gesagt. »Da fahr ich lieber selbst. Der Wagen ist antik, Junge!«

Dann waren John Eimeland alias Dillinger, groß, rothaarig und laut, seine Freundin Elfrid und Tom Vågevik, Gymnasiast und der einzige Sohn, in Richtung Süden gefahren. Doch sie bemerkten nichts Auffälliges und waren irgendwann der ganzen Sache überdrüssig gewesen. Inzwischen war es dunkel geworden, und John und der Junge hatten sich an die Motorhaube gelehnt und eine geraucht, während Elfrid auf der Rückbank Nägel gekaut hatte. Da hatten sie plötzlich Automotoren gehört.

John, der trotz seines verbrecherischen Spitznamens ein vorsichtiger Mann war und sich nicht gern auf zwielichtige Angelegenheiten einließ, insbesondere nicht, wenn vielleicht Leute wie Rune Reiedal in die Sache verwickelt waren, hatte das Auto abgestellt und sich mit Elfrid hinter eine dichte Hecke verzogen, während Tom die Gegend erkundete.

Als er acht bis zehn Minuten später zurückkam, war er ganz blaß um die Nase und wollte die Stabtaschenlampe aus dem Auto mitnehmen. Dann war er wieder verschwunden, und John und Elfrid hatten im Opel gesessen, von weitem den weißen Schein der Lampe gesehen und durch das Brausen von Wind und Wellen vereinzelte kurze Rufe gehört.

»Verdammt«, hatte John Dillinger gesagt und Elfrid einen dunklen Blick zugeworfen. Elfrid, die dasaß wie die Heldin in einem alten Stummfilm, die eine Hand an die Wange gepreßt und die andere an die Brust, hatte nur genickt.

Als die Autos schließlich weggefahren waren, ohne daß Tom zurückgekommen wäre, hatte John beschlossen, nach ihm zu suchen. Elfrid, die nicht allein im Auto sitzenbleiben wollte, kam mit. Nachdem sie das Sumpfgebiet überquert und endlich Tom entdeckt hatten, zogen sie die falsche Schlußfolgerung, als sie die Gestalt sahen, die sich über Toms Vater beugte, der am Boden lag. John hatte dem Jungen die Taschenlampe aus der Hand gerissen und zugeschlagen.

»Er hat nicht mal gesehen, daß Sie eine Frau sind«, sagte Harry bedauernd.

Dann hatten sie Moss so weit geschleppt, wie sie konnten, und waren schließlich mit dem Auto so nahe wie möglich herangefahren und hatten sie auf die Rückbank gepackt.

Kolbein Vågevik hatten sie in den Kofferraum gelegt.

»Er hat es ja sowieso nicht mehr mitgekriegt, wissen Sie«, sagte Harry in beinahe flehentlichem Ton, und Toms Blick begann wieder zu flackern.

Sie hatten ihn vor der Notaufnahme des Zentralkrankenhauses abgeladen, geklingelt und waren dann losgefahren.

Eine Stunde später hatte ein Krankenpfleger aus der Klinik Arna Vågevik angerufen.

Kolbein war schon aufgebahrt und geschminkt gewesen, als sie ihn sehen durfte. Er sah wächsern aus, zeigte jedoch einen edlen Gesichtsausdruck, den sie noch nie an ihm gesehen hatte.

Tom hatte nicht mitkommen wollen, die Mutter hatte gemeint, es läge an der Angst der Jugend vor dem Tod. Tom hatte sie in dem Glauben gelassen. Er hatte nämlich Angst, sich zu verraten. Große Wut und wachsende Verzweiflung hatten seinen mageren Körper erfüllt, und jetzt wollte er wissen, wer seinen Vater zu Tode geprügelt hatte, und er wollte Rache, Rache um jeden Preis.

»Rache?« sagte Moss und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. »Das ist ein schlechter Ausgangspunkt. Außerdem habe ich gedacht, du hättest gesehen, wer es war.«

Nein, Tom war zu weit entfernt gewesen.

Zuerst hatte er nicht verstanden, was da eigentlich passierte, und als es ihm langsam dämmerte, waren sie schon weg gewesen.

»Hören Sie mal zu«, sagte Harry Hesthaug, der noch immer auf der Bettkante saß, und beugte sich vor. »Sie können sich die Sache ja mal überlegen! Wir haben zusammen zehntausend Kröten, Dillinger und ich. Und wir sind bereit, das Geld einzusetzen, wenn Sie nur ein paar Tage für uns arbeiten. Sie können ja sowieso nicht nach Oslo zurückfahren, so wie Sie aussehen.«

»Was um alles in der Welt könnte ich denn für euch tun?« fragte Moss mit schwacher Stimme.

»Hier im Ort kennt Sie niemand«, sagte Harry. »Sie können herumschnüffeln, ohne daß sich einer wundert. Wenn ich oder Dillinger oder Tom versuchen, was aus den Leuten rauszukriegen, dann ist der Bär los. Dann läuten alle Alarmglocken.«

»Hm«, sagte Moss.

Die ganze Sache war natürlich völlig verrückt.

Aber verrückte Sachen hatten sie immer schon gereizt.

Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi

Подняться наверх