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»We’ll understand it better, by and by.«

Tindley

Moss hatte geschlafen und fühlte sich ein bißchen besser.

Vom Fenster aus waren überall weiße Holzhäuser zu sehen, dazu ein Stück einer himmelhohen Brücke, ein Stück Meer, ein Junge, der auf einem Fahrrad bergab fuhr, mit vorgebeugtem Kopf und nassen Haaren, die ihm auf der Stirn klebten, glänzende Dachziegel, eine segelnde Möwe.

Der Regen wurde in Böen gegen die Scheibe gepeitscht, es hatte angefangen zu dämmern.

Moss saß mit Harry, Tom und einer erschöpften Blondine in den Vierzigern, John Dillingers Freundin, in Harry Hesthaugs Küche.

Sie war schon fast bereit, dem Vorschlag zuzustimmen.

Entscheidend war dabei weniger, daß sie hierbleiben mußte, sondern daß es ihr erspart bleiben würde, nach Hause zu fahren.

»Das sieht schon noch ein bißchen blau aus«, sagte Harry Hesthaug und betrachtete sie im schwindenden Licht.

»Blau?« sagte Moss. »Ich bin gelb und blau und lila, wartet nur bis übermorgen, dann werd ich auch noch grün!«

Die erschöpfte Blondine sah sie entschuldigend an.

Elfrid hieß sie, fiel Moss wieder ein.

Das Ganze hatte was von einer verschworenen Gemeinschaft, insbesondere seitdem sie alle zum vertraulicheren Du übergegangen waren.

»Na?« sagte Harry Hesthaug.

Sie zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ihr müßt mir erst noch ein paar Informationen geben.«

Und sie ließen sich von Moss löchern, bis sie eine Stunde später den Kopf in die Hände stützte und aufgab.

Der einzige, den Tom am Orrestrand vielleicht erkannt hatte, war ein Typ namens Tonny, ein kleiner, dünner Kerl, der sich in einer Kneipe herumtrieb, in die auch Tom manchmal ging. Aber er war sich nicht sicher.

Es war, wie gesagt, dunkel gewesen und zu weit weg. Das eine Auto hatte dem von Tonny ähnlich gesehen, und der am Steuer hätte durchaus Tonny gewesen sein können. Als das Auto rückwärts fuhr und wendete, hatten die Scheinwerfer des anderen Wagens ihn gestreift, und Tom hatte gedacht, der Typ habe Tonny ganz schön ähnlich gesehen.

Also nur ähnlich gesehen.

Ansonsten wußten sie wenig, was ihr nützen konnte. Von der Schmuggelei wußte der »halbe Ort«. Die Leute behaupteten zwar, daß bei Rune Reiedal nicht alles mit rechten Dingen zuging, aber niemand am Küchentisch hatte irgendwelche Beweise. Daß Kolbein Vågevik sich in den letzten Monaten große Sorgen gemacht hatte, ja geradezu panische Angst vor irgendwas gehabt hatte, war dagegen sicher.

Ebenso sicher war, daß er am Abend zuvor zu Tode geprügelt und getreten worden war.

Das war auch das einzige, was Moss mit Sicherheit sagen konnte, schließlich war sie dabeigewesen – Kolbein hatte zunächst noch gelebt, und am Ende war er tot.

Die Polizei habe die Mutter verhört, erzählte Tom. »Aber sie hat keinen blassen Schimmer.«

Er blickte in seine Tasse. Das strähnige Haar fiel ihm ins Gesicht.

»Warum hast du dich nicht bei der Polizei gemeldet«, erkundigte sich Moss, »und erzählt, was du gestern gesehen hast?«

Er antwortete nicht.

»Hast du Angst?« fragte sie.

Er hob beinahe unmerklich die Schultern.

»Verdammt, das ist doch wohl klar, daß er Angst hat«, sagte Harry scharf.

»Und deine Mutter – bist du ganz sicher, daß sie nicht mehr von dieser Sache weiß als du?« fragte Moss nach einer Weile.

Jetzt blickte er endlich hoch. Die dünnen Augenbrauen zogen sich über der Nase zusammen, und seine Augen leuchteten, dann beugte er sich vor, und das Haar rutschte wieder vors Gesicht.

»Sie hat keinen blassen Schimmer«, wiederholte er nur.

»Wo ist sie jetzt?« fragte Moss und hatte das Gefühl, so sehr auf dem Holzweg zu sein wie schon lange nicht mehr. Die Geschichte schien aussichtslos, ein paar hilflose, wohlmeinende Leute, die von nichts eine Ahnung hatten. Die ihr trotzdem zutrauten, daß sie ihnen helfen konnte, das sah sie ja.

»Sie ist zur Andacht gegangen«, sagte Tom schniefend. »Ich bin nach Hause, weil ich dachte, sie wollte heute abend nicht allein sein, und dann lag da bloß ein Zettel. Aber gegen sieben wollte sie zurück sein.«

Arna Vågevik war mit ihrer Trauer zu den Pilgerbrüdern gegangen.

Sie machten sich auf den Weg zum Mietshaus in Tasta, wo Tom und seine Mutter wohnten. Auf getrennten Wegen: zuerst Tom, der mit gebeugtem Kopf und hochgeschlagenem Jackenkragen an den Häuserwänden entlanghastete, und eine ganze Weile später Moss, mit der Karte von Stavanger in der Manteltasche und einer geborgten Schirmmütze (Harrys), die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, um das blaue Auge so gut wie möglich zu verbergen.

Sie hatte auch Harry Hesthaugs schwarzen Regenschirm dabei. Einer der Stäbe ragte heraus, und in den Windböen drohte der Schirm umzuschlagen. Atemlos blieb sie an einem Zebrastreifen stehen.

Ihr war viel schwindliger, als sie gedacht hatte.

Die Erde schien unter ihren Füßen zu schwanken, und es sauste in den Ohren.

Sie hob die Hand und befühlte das Auge.

Es war weich und geschwollen wie eine überreife Pflaume.

Auch an der Stirn schmerzte es, denn die Kante der Schirmmütze preßte gegen die Stelle, wo die Taschenlampe sie getroffen hatte.

Ein Stück entfernt leuchtete ein Taxischild, sie streckte die freie Hand aus, und wenig später fuhr der Wagen an den Straßenrand und blieb stehen.

Moss quetschte sich mit dem nassen Schirm ins Auto. Probierte einen nicht näher definierbaren Vestlanddialekt aus, als sie die Adresse angeben sollte. Man wußte ja nie, ob Taxifahrer später möglicherweise gebeten wurden, sich an ihre Kunden zu erinnern.

Moss war vielleicht nicht die beste Detektivin der Welt, aber ein bißchen hatte sie gelernt.

Sie ertappte den Fahrer, wie er sie im Spiegel anstarrte.

»Das da sollten Sie der Polizei melden«, sagte er und reihte sich in den Verkehrsfluß ein.

Moss zog die Mütze tiefer ins Gesicht und murmelte etwas davon, daß sie Rücksicht auf die Kinder nehmen müsse.

»Das dankt der Ihnen aber nicht«, sagte er und betrachtete sie wieder verstohlen im Spiegel. »Sehn Sie zu, daß Sie von diesem Schuft wegkommen!«

Als sie vor Toms Wohnblock aus dem Auto stieg, steckte der Taxifahrer seinen Kopf aus dem Fenster und sah erst das Haus an und dann sie. »Soll ich mit raufkommen?« fragte er. »Ich tu das gern. 1954 war ich Juniorenmeister vom Bezirk Rogaland im Mittelgewicht.«

»Vielen Dank«, sagte Moss matt. »Aber ich glaube, das geht nicht. Außerdem ist er sowieso gerade nicht zu Hause.«

Toms Mutter dagegen war da.

Arna Vågevik war klein und dünn, hatte nikotingelbe Finger und einen Blick, der Margaret Moss mißtrauisch betrachtete.

Sie begriff nicht, warum diese Frau aus Oslo sie in ihrer Trauer und Verzweiflung mit Fragen quälte.

Tom hatte sie als alte Freundin von Harry Hesthaug vorgestellt, was Arna offenbar für keine gute Empfehlung hielt. Auch ihr blaues Auge schien kein besonderes Mitleid zu wekken, und Moss konnte ja schlecht sagen, wo es herstammte.

»Wir glauben, daß wir herausfinden können, wer Ihren Mann umgebracht hat«, sagte Moss und setzte sich ein bißchen unmotiviert hin. Es pochte in der Stirn, und die Haut über dem Auge spannte.

»Warum können wir nicht die Polizei einschalten?« fragte Arna Vågevik, die am Fenster stand und in ihrer zitternden Hand eine Zigarette hielt. »Außerdem sollten wir besser nicht in dieser Sache rumwühlen, irgendein Sinn wird da schon drinliegen. Der liebe Gott weiß, was er tut. Mein ist die Rache, spricht der Herr!«

»Mama«, sagte Tom. »Mama, sie will uns nur helfen. Setz dich doch auch hin!«

Nein, Arna Vågevik wollte sich nicht setzen. Sie wanderte rastlos von Fenster zu Fenster, drehte eine Runde in der Küche, aschte in der Spüle ab, kam wieder zurück.

»Darf ich mich wenigstens ein bißchen umschauen?« fragte Moss schließlich, nachdem Arna auf ihre Fragen mit Schulterzucken oder Kopfschütteln reagiert hatte. »Wo hat er zum Beispiel seine Unterlagen aufbewahrt?«

»Unterlagen?« Arna sah aus, als sei das ein Fremdwort.

»Ja, Versicherungspolicen, Rechnungen, Steuersachen und so. Vielleicht finden wir da ja was.«

»So was bewahre ich auf«, sagte Arna kurz angebunden.

Sie nickte zur großen Schrankwand, die aus demselben dunklen Holz war wie der Sofatisch. In einigen der Schranktüren steckten Schlüssel. »Und ich hab alles im Griff, da gibt’s nix, was ich nicht wüßte.«

»Hatte er keine Privatsachen, ich meine irgendwelche persönlichen Dinge? Wo hätte er so was denn aufbewahrt? Notizhefte, Ringbücher, so was in der Art?«

Arna zuckte wieder mit den Schultern.

»Glaub ich nicht, daß er so was hatte«, sagte sie kurz.

»Hat er alle Aufträge mündlich bekommen? Hat er sich irgendwo mit den Leuten getroffen, oder wurde er angerufen? Hier, zum Beispiel?«

Arna schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Und wenn er irgendwo hingefahren ist, nach Kiel oder nach Kopenhagen zum Beispiel, um Waren zu holen – ich meine legale Waren –, von wem hat er denn da die Aufträge bekommen?«

Arna drückte ihre Zigarette aus, die vierte, seit Moss da war. »Olav Næsvik«, sagte sie. »Der sitzt in einem Büro unten am Strandkai.«

»Was für Waren vertreibt Næsvik denn? Ich meine legal?«

»Alles Mögliche. Er hat eine Speditionsfirma.«

»Ach so«, sagte Moss. »Dann war Rune Reiedal also gar nicht der offizielle Auftraggeber?«

»Nein«, sagte Arna. »Aber Rune und Olav Næsvik sind ja befreundet. Næsvik hat seinerzeit mal bei Runes Vater im Bekleidungsgeschäft gearbeitet.«

»Wie ist der eigentlich, dieser Rune Reiedal?«

Arnas Gesicht wurde abweisend. »Weiß nicht, was ich sagen soll. Massenhaft Geld hat er. Zieht sich fein an. Hat eine Frau und ein ziemlich altes Haus mit Garten in Eiganes. Sie ist eine von der Sorte, die Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert und so. Ich kenn sie nicht. Sie ist irgendwo aus Ostlandet. Aber dem Rune seine Schwester, das ist eine nette Frau. Die ist nach England gegangen und Model oder so geworden, aber jetzt ist sie zurückgekommen und wohnt draußen in Bryne. Sie ist kein bißchen hochnäsig, obwohl sie inzwischen ganz schön reich ist, das sagen die Leute jedenfalls.«

Beim Gedanken an Runes Schwester war Arna aufgetaut.

»Wie heißt sie?«

Audhild, erzählte Arna, Audhild Reiedal Danielsen. In ihrer Londoner Zeit hatte sie einen norwegischen Reeder geheiratet, war aber mittlerweile wieder geschieden.

Moss notierte sich die Namen von Audhild und Næsvik.

Sie sah sich im Wohnzimmer um.

Im Bücherregal gab es nur wenige Bände, sie erkannte die Buchrücken des alten Arbeiterlexikons, das sie von irgend jemand geerbt haben mußten. Eine Reihe Videokassetten stand auf dem untersten Regal. Um überhaupt irgendwas auszurichten, ging sie ans Regal und hockte sich davor. Sah sich die Videos etwas genauer an.

Das Dschungelbuch, die Zeichentrickversion. Western und Actionfilme.

»Er hat sie gebraucht gekauft«, sagte Arna hinter ihr. »Als er arbeitslos war. Hat den ganzen Tag hier rumgesessen. Da hat er sich eine Menge Videos ausgeliehen, unten in der Videothek.«

Moss stand auf.

»Er hat sich auch mal eine Videokamera geliehen«, sagte Tom. »Er hat gesagt, er wollte seine alten Arbeitskollegen filmen. Aber da ist, glaub ich, nix draus geworden.«

»Wann war das?« fragte Moss.

Tom sah seine Mutter an. »Letzten Winter?«

»Nee, das ist länger her«, meinte sie. »Ich hab nicht verstanden, wie er das hinkriegen wollte, er hatte doch noch nie eine Videokamera in der Hand gehalten.«

»Die Kamera, ist die noch hier?«

»Nein, die hat er zurückgegeben. Ich weiß nicht, von wem er sie geborgt hatte.«

Arna erhob sich, schüttelte mechanisch das Sofakissen auf, an das sie sich gelehnt hatte. Packte die Zigarettenschachtel und ging zum Fenster. Sie wollte sich gerade eine Zigarette in den Mund stecken, als sie zusammenzuckte.

»Herrgott«, sagte sie. »Jetzt kommen sie.«

Noch bevor Moss reagieren konnte, war Tom aufgesprungen und drüben am Fenster.

»Das ist Olav Næsvik«, sagte er tonlos. »Und Tonny.«

Moss fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, packte ihre Umhängetasche und kam schnell hoch.

»Wenn die hierherwollen«, sagte sie, »würde ich sehr gern hören, was sie sagen. Kann ich mich irgendwo verstecken?«

Arna warf ihr einen Blick zu. Ihre Augen waren groß und glänzend, und ihr Puls pochte so stark, daß es außen am Hals zu sehen war.

»Vielleicht wollen sie ja nur kondolieren«, sagte sie nervös.

»Trotzdem«, sagte Moss.

Schlafzimmer und Einbauschränke, Badezimmer und Küche – alles gleichermaßen ungeeignet. Es gab die entfernte, aber nichtsdestoweniger unangenehme Möglichkeit, daß sie sich mal umsahen, wenn sie schon hier waren, die Typen, die gleich klingeln würden.

Der Balkon.

Noch während sie das dachte, griff sie nach der Türklinke und ging hinaus. Der Wind zerzauste ihr Haar.

Gerade als sie sich in die Ecke des Balkons hockte, gellte der Klingelton durch die Wohnung.

Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi

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