Читать книгу Erinnerungen aus dem deutschen Kriege 1866 - Klarwelt Verlag - Страница 6
3. Eine kurze Erinnerung an das erste Wetterleuchten des Kriegs in Leipzig.
Оглавление„Die Preußen kommen!“ – Wollen wir uns gestehen, mit welchem Gefühl die Mehrzahl der Bewohner Leipzigs diese Kunde vernahm? Furcht war es nicht; wenn auch auf jedem vaterlandsliebenden Herzen der Druck der Sorge vor einem Bürgerkrieg lastete, und wenn man die Befürchtungen nicht verschwieg über die Nachteile, welche selbst bei einem auf Böhmen und Schlesien begrenzten Kampfgebiet aus einem solchen Kriege für Capital und Arbeit erwachsen würden, – so konnte sich doch Niemand die Preußen als Feinde denken. Seit der Völkerschlacht hatte keine preußische Armee Leipzig wieder betreten, und was sie damals der Stadt war? Vor dem Gerbertor stecken noch heute die preußischen Kanonenkugeln, die gegen die Stadt gezielt waren, in den Häuserwänden, während vor dem Grimmaischen Tor dem ersten preußischen Erstürmer der Stadt von dieser selbst eine Ehrensäule errichtet ist. Und in wie engen Beziehungen steht der wichtigste Handels- und Messplatz des deutschen Binnenlandes mit dem nächsten Nachbar; fast kein Geschäft, keine Fabrik, kein Comptoir, in welchem nicht preußische Hände tätig, in weitem Umkreis fast keine größere Ortschaft, die nicht für Leipziger Häuser arbeitet, ein ewiges In- und Miteinandergehen von Fleiß und Lohn. Und all diese treuen Arbeitsgenossen sollen im Werktagskittel uns die Hände zum Abschied reichen, um im blauen Waffenrock als unsere Feinde zurückzukehren? Man muss nichts Unmögliches vom Volksgefühl verlangen. Durchgreifend war bei allem Volke nichts herauszufühlen, als neben den Befürchtungen des Geschäftsmanns und den Besorgnissen des Patrioten die nach so langem Frieden und endlosem Parteigezänke sehr natürliche Neugierde, einmal zu sehen, wie es ist, wenn es einmal anders ist, als bisher. Greife Jeder in seine Brust, und kein Ehrlicher wird von dieser Neugierde sein Teil verleugnen.
Sobald das Resultat der Bundestags-Abstimmung vom 14. Juni bekannt war, stand die Überzeugung fest: „Nun kommen die Preußen.“ Der Morgen des Fünfzehnten fand die Straßen, besonders der Innerstadt, voll ungewöhnlich gedrängter Bewegung. Wer Leipzig außer der Messzeit kennt, weiß, dass für die Bevölkerungsdichtigkeit dieser Stadt ihr Straßenleben während der allgemeinen Geschäfts- und Arbeitszeit ein verhältnismäßig geringes ist, trotz der siebzehn- bis zwanzigtausend Menschen, welche jeden Morgen von den nächstliegenden sogenannten Vorstadt-Dörfern zu allen Toren herein die Bevölkerung der Stadt noch vermehren. Von diesen Tausenden betreten von da an nur Wenige, und diese nur in eiligem Geschäftsschritt, die Straßen. Es wird rastlos in dieser Stadt gearbeitet, sie gehört zu den fleißigsten Deutschlands, ja vielleicht der Welt. An diesem Freitagmorgen kannte man sie jedoch kaum wieder, sie hatte ihre Straßenbevölkerung erhalten und leider nur allzu zahlreich durch die teilweise Schließung oder wenigstens Arbeitseinschränkung vieler Fabriken und Geschäfte. Blieb trotzdem die öffentliche Ordnung unverletzt, so war doch die volle Schwüle vor einem Unwetter über die ganze Stadt hereingebrochen.
Das Gerücht und der Telegraph arbeiteten an diesem Tage wahrhaft ins Große. Das erste Gerücht ließ die Preußen in Dahlen einrücken, das zweite ihre Heerzüge vom Nicolai-Kirchturm aus von Eilenburg heranziehen sehen, das dritte die Brücken bei Riesa und Meißen gesprengt, das vierte die Preußen in Zittau und Bautzen eingedrungen sein, das fünfte meldete das Herannahen der Bayern und prophezeite bereits ein Zusammentreffen derselben mit den Preußen bei Leipzig, das sechste beruhigte mit der Besetzung des Altenburger Bahnhofs durch die Preußen von Zeitz her, das siebente sagte sogar die Einquartierung der Preußen für die kommende Nacht an. Tag und Nacht war indes vergangen, aber die Preußen waren nicht gekommen.
Der Sechszehnte, ein ohnedies durch den großen Wochenmarkt stark belebter Tag, führte aus dem dumpfen Gefühl heraus in die bittere Wirklichkeit – durch die erste Verkehrshemmung. Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn war nur bis Riesa offen; die alten gelben Postkutschen kamen wieder aus den Remisen, um die alte Landstraße zu befahren. Von den Gerüchten des vorigen Tags bestätigten sich einige, andere kamen hinzu. Den härtesten Schlag versetzte jedoch dem großen Verkehr die Erklärung der Postbehörde, dass sie für Wertsendungen keine Garantie mehr leisten könne. Wer bedenkt, dass, außer dem ungeheuren Warentransport, täglich in Leipzig über fünfzehnhundert Geldsendungen ankommen und noch weit mehr abgehen, der erkennt, dass diese plötzliche Unsicherheit des wichtigsten Verkehrsmittels ein Stoß war, der fast in jedem Haus verspürt wurde. Dazu die telegraphische Botschaft von dem Bundesbeschluss in Frankfurt a. M., durch welchen Österreich und Bayern Sachsen ihre BundesHilfe zusicherten, und das Gerücht, dass die Preußen bis Wurzen vorgerückt seien. Das Gerücht ließ Preußen schon in Grimma gesehen sein, aber in Leipzig hatten auch diesen Tag die Neugierigen vergeblich an allen Toren gestanden.
Als am Siebzehnten die Leute in der Dresdner Vorstadt und dem daranstoßenden Dorfe Reudnitz (nebenbei bemerkt das größte Dorf Sachsens und eins der größten Deutschlands, denn es zählt über achttausend Einwohner) in den Sonntagmorgen hinaussahen, hatten die Meisten das lange erwartete Ereignis verschlafen: die ersten Preußen waren in aller Frühe dagewesen, eine Dragoner-Patrouille, die auf der Dresdner Chaussee dahergesprengt kam, Erkundigungen einzog, ob und welches Militär in der Stadt liege, und in sausendem Galopp verschwand, wie sie gekommen war.
Die Kunde von diesem Morgenbesuch lief rasch durch die Stadt; es war nun ausgemacht, dass heute die Preußen kommen mussten. Auf allen Straßen hastige Bewegung, Fragende und Berichtende; an allen Straßenecken größere Gruppen vor den Proklamationen und Extrablättern der Zeitungen und der fliegende Zeitungshandel in vollem Flor; der Hauptzug der Volksbewegung drängte natürlich die Dresdner Straße und Chaussee entlang. Aber der Vormittag, der Mittag ging vorüber, und ebenso der Nachmittag, und der Abend kam, vergeblich hatten die gemütlichen Familiengesellschaften, Mann und Weib, Kinder an der Hand, Kinder auf dem Arm, Kinder im Korbwagen, inmitten des freien, leichter beweglichen Volks des nach und nach, man möchte sagen, ersehnten Einzugs geharrt und wandten sich endlich unmutig zur Heimkehr: – da führte die unbezähmbare Neugierde die Überraschung herbei, die nicht von selbst hatte kommen wollen.
„Um die Preußen zu sehen“, fuhren am Nachmittage nicht wenige Sonntags-Vergnügliche nach Wurzen. Dort fanden sie Bahnhof, Brücke und Stadt von den Preußen besetzt, sie selbst aber sollten zugleich einen Vorschmack kriegsmäßiger Behandlung empfinden. Alle, deren Reisezweck nur das Vergnügen war, wurden kurzweg von Wurzen zurückgewiesen, nur diejenigen, welche Geschäftsbesorgungen hatten oder vorgaben, bis zur Erledigung derselben von Soldaten begleitet und dann auf den Heimweg eskortiert. Eine solche Eskorte stillte auch den Leipzigern ihr Verlangen.
Es war zwischen acht und neun Uhr, als herankommendes und staubaufwirbelndes Reitertraben und Räderrasseln die Menschen auf der Chaussee durch Sellerhausen, Reudnitz und in der Dresdner Straße Leipzigs in ihrem Gange festbannte, an dies Fenster trieb und alle Geschirre zur Seite scheuchte. Ein preußischer Dragoner mit hochgehaltener Pistole sprengte daher, hinter ihm jagte ein einspänniges Geschirr mit eskortierten Sonntagsreisenden, zu beiden Seiten Dragoner mit gezogenem Säbel, ein Vierter hinterher, so ging’s wie Wetter in die Stadt hinein. Hinter diesen noch ein Reitertrüppchen, von denen immer je ein Mann an einzelnen Straßenecken mit der Pistole in der Faust Posto fasste. Das ging Alles blitzartig. Auch Kontraste fehlten nicht. Einer der Reiter sprengt in wiegendem Galopp an einer Frauengruppe vorüber und grüßt sie mit der Hand am Helm aufs Eleganteste, während vor meinen Augen ein anderer einem Vorübergehenden die Pistole vor die Brust hält und eine barsche Frage an ihn richtet. Der Mensch kam mir leichenblass entgegen. Ich hatte von weitem den Dragoner die Pistole erst laden sehen und konnte, zu ihm herangekommen, die Bemerkung nicht unterdrücken, dass er in dem friedlichen Leipzig keine Ursache finden werde, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. „In Leipzig vielleicht nicht“, erwiderte der Reiter, aber da im Dorfe vorher (es war Reudnitz) seien sie von halbwüchsigen Buben und trunkenen Männern beschimpft und sogar mit Steinen geworfen worden. Übrigens sei die geladene Waffe Kriegsbrauch. – Im Moment galoppierten die ersten Reiter von der Stadt her zurück, die Einzelposten schlossen sich an, rascher, energischer Hufschlag, als ob in jedem Ross eine Soldatenseele stecke, und fort und vorüber ist das blitzende Kriegsbild. Es war wirklich wie ein Wetterleuchten.
Jetzt erst quollen aus der Innerstadt die Volksströme zum Grimmaischen Tore und nach Reudnitz hinaus, denn nun war’s sicher, dass die Preußen einziehen mussten. Fast bis Mitternacht wallten die Harrenden auf und ab und einzelne Familienglieder belagerten, wie Piketts der Neugierde, die Fenster. Es blieb ruhig.
Am kommenden Morgen, am 18., ging über Deutschland zum einundfünfzigsten Male die Sonne von Waterloo auf. Wer gedachte heute dieses weltgeschichtlichen Tags? Vor der Sorge des Augenblicks erblassen alle Sterne am Himmel unserer Vergangenheit. – Auf den Straßen dasselbe ruhe- und ziellose Treiben, Gerüchte, welche von blutigen Kämpfen der Sachsen, vom Brennen Löbaus, vom Nahen der Bayern erzählen, Gerüchte von Dresden und Oschatz und Meißen, welche Tage hierher brauchen, wo man durch die Telegraphendrähte und von fünf Bahnhöfen früher die Nachrichten aus den fernsten Teilen Europas in wenigen Stunden, aus allen Teilen Deutschlands in wenigen Minuten zu empfangen gewohnt war! Dieses plötzliche Abgesperrtsein von der Außenwelt machte den Zustand mehr und mehr zu einem unheimlichen, der die Sehnsucht nach einer Entscheidung, wie immer auch, erweckte. Dazu kam immer noch die Ungewissheit: wer wird Leipzig besetzen? Werdens die Bayern noch sein? Werden ihnen die Preußen zuvorkommen? So verging auch der Achtzehnte und täuschte alle Erwartungen.
Und die Preußen kamen, aber wiederum ganz anders, als man sich ihren Einzug nun einmal ausgemalt hatte.
In der Morgendämmerung des Neunzehnten weckte mich Männergesang und langandauerndes Räderrasseln auf der Dresdener Chaussee aus dem Schlafe. Ich eilte zum Fenster – und ein fröhliches „Gutmorgen!“ scholl mir aus einem Dutzend Kehlen entgegen. Die gemütlichste Leiterwagenpartie zog daher: je acht bis zehn Landwehrmänner auf einem Wagen, so hielt singend und grüßend die erste Kompagnie des schlesischen Garde-Grenadier-Landwehr-Regiments ihren Einzug in die schlafende Stadt.
Vor dreiundfünfzig Jahren waren es auch Landwehrmänner, die Helden von Königsberg, welche dieselbe Straße zogen, um als die ersten Stürmenden unter dem Kugelregen der Franzosen in das von ihnen befreite Leipzig einzudringen. An dem Denkmal, das dieser Landwehr und ihrem Führer an der Stätte ihres Kampfs und ihrer Ehre gesetzt und vor drei Jahren geweiht wurde, als die Veteranen der Befreiungskriege das fünfzigjährige Jubiläum des Völkersiegs bei Leipzig in der Begeisterung der Herzens-Einheit und Einmütigkeit der ganzen deutschen Nation feierten, zog an diesem Morgen die schlesische Landwehr vorüber. Konnten sie sich als Feinde in dieser Stadt fühlen? Vor drei Jahren standen noch zwölf der greisen Königsberger Landwehrmänner, der letzte Rest der Heldenschar vom Jahre Dreizehn, vor diesem ihrem Ehrendenkmal, die Tränen höchster Seelenerhebung in den Furchen der Wangen. Konnte dieselbe Stadt heute Feinde erkennen in Landwehrmännern, denen dasselbe Kreuz, wie jenen, das Haupt schmückt?
Auch der stattliche Einzug, wie die Menge ihn erwartet hatte, in Reih und Glied und unter dem Trommelwirbel, fand für sie noch selbigen Tages statt. Um elf Uhr marschierte das zweite Bataillon des vierten Garderegiments, eintausend Mann stark, von Torgau und Eilenburg her, wiederum durch die Dresdener Straße in der Stadt ein. Die seit dem Abzug der Sachsen verödeten Garnisonräume der Pleißenburg füllten sich nun wieder, die friedlichen Männer der städtischen Kommunalgarde wurden von allen, außer ihrem alten Rathaus-Posten, abgelöst, und am Abend lustwandelten in den Promenaden und Straßen die blauen Preußen so gemütlich, wie wenige Tage vorher noch die grünen Landeskinder.
Das ist das äußere Bild. Aber es gibt auch ein inneres, und zwar das von den Tausenden von Fäden, durch die der heutige Geschäftsbetrieb eine solche Stadt wie Leipzig mit der ganzen Welt verknüpft und verbunden hat und die durch das Sperren aller heutigen Verkehrswege plötzlich zerrissen werden. Man muss die Großartigkeit dieser Verknüpfung kennen. Der Jäger am Hudson und der Pelzhändler an der chinesischen Mauer spüren den Schlag einer plötzlichen Stockung in den Lebensadern Leipzigs so gut, wie die Arbeiter im Erzgebirg oder um Naumburg und Weißenfels. Es ist ein millionenräderiges Triebwerk, das unter den Hufschlag des Kriegsrosses gekommen, – und solch ein Bild dieser Zeit gehört auch mit auf die Waage, wo das Schicksal der Völker gewogen wird.
4. Das erste böhmische Quartier.
Es mag recht interessant sein, aus einem Fenster auf die vorbeimarschierenden Kolonnen hinabschauen zu können, aber dem, der in dieser staubumhüllten Kolonne mitmarschieren muss, sei es bescheiden zu Fuß, oder hoch zu Ross, oder auf dem Protzkasten der Kanone, ist wahrlich nicht wohl dabei zu Mute, zumal, wenn der Marsch bereits acht Stunden gewährt hat und die Aussicht auf Ruhe sich dem sehnlichst in die Ferne schauenden Blicke noch immer nicht zeigen will. Vorauf die Infanterie mit ihren blitzenden Helmen und Gewehrläufen, mit ihrem Tambour-Major und der Janitscharen-Musik an der Spitze; dann die Kavallerie mit schmetterndem Hörnerklang und zum Schluss die Artillerie mit den Tod und Vernichtung speienden Geschützen! Das sieht Alles recht hübsch aus.
Im ersten böhmischen Quartier. Originalzeichnung von A. Nikutowski
Wenn man aber wie wir seit dem 8. Juni teils in furchtbarer Sonnenhitze, teils in strömendem Regen tagtäglich sechs und acht Stunden die Landstraße getreten, wenn man die nicht ganz Arkadien gleichenden Gegenden von Jüterbogk, Warmbruck, Finsterwalde, Pockwitz etc. etc. mit gepacktem „Affen“ und warmen Mantel in fortwährenden Staubwolken durchwandert, Abends schlechte Quartiere bezogen und kein vernünftiges Bier gefunden, dann lernt man auch die Kehrseite des Soldatenlebens kennen. Aber, Gott sei Dank, den preußischen Soldaten verlässt der gute Humor nicht. Der gestrige Tag – wir hatten in Großhennersdorf in guten Quartieren uns erholt – hatte Vieles wieder gut gemacht und heute den 23. Juni sollte nun endlich die österreichische Grenze überschritten werden.
Kein Lüftchen regte sich, drückend, fast erdrückend lag die Sommerschwüle auf uns, vergeblich wurden die Helme gelüftet, vergeblich die Röcke aufgeknöpft, so weit das Marschreglement es erlaubte, kein kühler Wind fächelte die heiße Brust und die nasse Stirn. Die Feldflaschen waren geleert, die Marketender weit hinter der Kolonne, der betäubende Duft von Hoffmann’s Tropfen, Pfefferminze und anderen Universalmitteln, der bald hier, bald dort emporstieg, war keineswegs geeignet, die ermatteten Kräfte neu zu beleben. Diese Universalmittel erfüllen ihren Zweck nur für den Augenblick, sie reizen und spannen die Nerven an, die gleich darauf umso mehr wieder erschlaffen. Die hübsche Marketenderin, die hoch oben auf dem Gepäckwagen thronte und von diesem hohen Sitzpunkte aus recht vergnügt in die Lande hinausschaute und recht mitleidig auf mich herunterschaute, reichte mir eine gefüllte Weinflasche, die ich, ohne vorher ihren Inhalt zu prüfen, unverzüglich an die Lippen setzte und zur Hälfte leerte. Sie enthielt Branntwein, einen ganz gewöhnlichen Fusel, ich entdeckte es erst, als ich die Flasche absetzte, und ich bleibe auch heute noch bei dieser Behauptung, wenn gleich auch die Marketenderin mich belehren wollte, dass ich den feinsten Batavia-Rum getrunken habe! Die Gute! Sie ahnte wohl nicht, dass in dem staubbedeckten Rocke ein Mann steckte, der das würzige Aroma des Rums in mancher Tasse Tee mit Behagen geschlürft hatte. Der Labetrunk raubte meinem Geldbeutel fünfzehn Silbergroschen, und ich kann nicht leugnen, dass meine fünf Sinne die Wirkung desselben etwas stärker empfanden, als mir lieb war. Aber ich fühlte mich für den Augenblick neu gekräftigt und blickte geringschätzend auf die, welche es vorzogen, sich den Ärzten und Lazarettgehilfen anzuvertrauen, die mit Schachteln und Fläschchen bald hier bald da Trost und Hilfe zu spenden suchten.
Steh ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der stillen Wacht etc. etc.
Ich hatte es unzählige Male gehört, dieses alte Soldatenlied, wenn eine verstimmte Straßenorgel es ableierte oder eine wandernde Harfenistin in einer Restauration die Ohren der Gäste damit beleidigte, aber heute zuckte ich weder die Achseln noch rümpfte ich die Nase, als die Kameraden es anstimmten, es marschierte sich ganz vortrefflich nach dem Takt. Endlich sahen wir in der Ferne einige Helme blitzen, „die Quartiermacher sind da“, rief Einer dem Andern zu, und ein „Gott sei Dank!“ flüsterte manche Lippe. Da lag das Dorf, kaum eine Stunde von der böhmischen Grenze bei Grottau entfernt; mir entfiel der Mut, als ich die wenigen Schornsteine sah und hinter mich blickend die Truppenmasse überschaute, die dort Obdach finden sollte. Ich gedachte so manches guten Quartiers, welches ich in früheren Jahren auf Märschen und während der Manöver bezogen hatte, so mancher Flasche Wein und Champagner, so manches Rehbratens, die damals gespendet worden waren. Heute im Palast des Kommerzienrates, morgen in der Hütte des Taglöhners – es ist einmal nicht anders! Das Quartierbillet ist ein Lotterielos, Wenige ziehen einen Treffer, die Meisten erhalten eine Niete. Aber der Soldat begnügt sich gerne mit einer Strohschütte und einem frugalen Imbiss, wenn er nur sieht, dass der Quartierwirt ihn freundlich aufnimmt, dass er gibt, was er hat. Und zumal der Landwehrmann, der den eigenen Herd, der Haus und Hof, Weib und Kind verlassen hat, um für das Vaterland Gut und Blut zu opfern, verlangt eine freundliche Aufnahme; die Opfer, die er bringt, sind ja weit größer, als die, welche er von seinem Wirth fordern kann. Er macht keinen Anspruch auf die drei Viertelpfund Fleisch, vier Pfund Kartoffeln oder ein Viertelpfund Reis, ein Loth Kaffee, anderthalb Loth Salz, ein Zwölftel Quart Branntwein, ein Quart Bier, zwei Pfund Brot und sechs Zigarren, die er als tägliche Verpflegungs-Ration von seinem Quartierwirt verlangen kann, wenn er nur die Überzeugung erhält, dass man gibt, was man hat. Freilich, die Kavallerie schreitet gerne über den Verpflegungsetat hinaus, wenn eine Gelegenheit dazu sich bietet, das ermüdete Ross verlangt eine gute Streu und reichliches Futter.
Der sächsische Bauer hat’s erfahren und ich glaube, er wird’s nie vergessen! Ich meine jenen Bauer, der beim Einrücken der preußischen Kavallerie ein Päckchen Banknoten in Sicherheit bringen zu müssen glaubte. Der Husar, der bei ihm Quartier erhielt, dachte in erster Reihe an sein Pferd, er „furagierte auf eigene Faust“, die Häckselmaschine arbeitete recht wacker, dass der Bauer in ihr unter dem Stroh seine Wertpapiere versteckt haben könne, ahnte der biedere Sohn der Uckermark nicht, und das Rösslein fraß die Banknoten samt dem Häcksel. Eine gute Lehre war’s für den Bauer, der die Ehrlichkeit des preußischen Soldaten bezweifelte. Er hätte besser getan, seine Banknoten gegen Silber umzutauschen. Wer die strenge Mannszucht im preußischen Heere kennt, wer da weiß, aus welchen Elementen das Heer gebildet ist, der wird, auch wenn der preußische Soldat als siegender Feind einrückt, keine Furcht vor ihm empfinden. Die Quartiermacher waren freilich zur Stelle, aber das Quartier selbst lag noch eine Stunde entfernt. Ungefähr der dritte Teil unseres Korps rückte in das vor uns liegende Dorf ein, die Übrigen mussten weiter marschieren und zwei andere Dörfer besetzen.
Eine Viertelstunde Rast! Die Gewehre wurden zusammengestellt, die Tornister und Helme abgelegt, die Kavallerie saß ab, die Kanoniere verließen den Protzkasten und Alles gruppierte sich um die Marketender und Marketenderinnen, die ihren famosen „Batavia“- und Jamaika-Rum den durstigen Kehlen mit wahrhaft rührender Aufopferung spendeten. Alles lechzte nach Wasser und in der Nähe plätscherte ein Bach lustig über die Kiesel, aber die Herren Unteroffiziere, Ärzte und Lazarettgehilfen bewachten den Born der Erquickung mit Argusaugen. Und mit Recht! „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen“, und ein kalter Trunk hat schon mancher erhitzten Lunge den Todesstoß gegeben. Aber die Qualen des Tantalus kann nicht jeder Sterbliche ertragen, da werden dann alle Mittel und Wege versucht, die Wachsamkeit der Hüter zu täuschen, was hie und da auch einem Glücklichen gelingt. Das Kalbfell rasselt, gestärkt und erfrischt geht’s wieder weiter, die Zigarren und Pfeifen werden angezündet, der Kompagnie-Lustigmacher, deren jede Kompagnie, jede Schwadron einen besitzt, stimmt ein heiteres Lied an.
Endlich spät abends hatten wir unser Dorf erreicht, die Verteilung der Quartierbillets ging rasch von statten, die Aufsuchung des Quartiers selbst bot keine besonderen Schwierigkeiten, da das Dorf klein war und Jeder sich beeiferte, die erschöpften Soldaten zurechtzuweisen. Ein Billet auf „vier Mann für einen Tag mit Verpflegung“ lautend, war mir zu Teil geworden. Das Quartier war rasch gefunden, ein alter Bauer und dessen junge, hübsche Tochter empfingen uns. Der Alte bat mich, ihm zu sagen, was wir zu beanspruchen hätten, er habe nie Soldaten im Quartier gehabt, wir müssten ja besser wissen, als er, was uns zukomme. Ich führte ihm das ganze Register an. Zigarren habe er nicht, Bier könne er nicht beschaffen und mit der täglichen Fleischportion von drei Viertelpfund für den Mann werde es auf die Dauer auch nichts geben, meinte er. Ich beruhigte ihn, Zigarren hätten wir selbst, wenn kein Bier zu erhalten sei, nähmen wir auch mit Wasser vorlieb, und was die Fleischportion betreffe, so gelte das Billet mit Verpflegung ja nur für einen Tag, schon am nächsten Tage würden wir Natural-Verpflegung erhalten. Wir würden alsdann täglich Jeder Fleisch, Gemüse, Salz und Branntwein von den Armee-Lieferanten empfangen, er dagegen müsse uns das nötige Kochgeschirr und die Feuerung liefern. Die Tochter fragte etwas ungläubig, ob wir selbst uns die Mahlzeit zubereiten könnten, was mich zu der Gegenfrage veranlasste, ob sie vielleicht die Mühe für uns übernehmen wolle, was uns bereitwillig zugesagt wurde. Das junge Mädchen führte uns in die Scheune, eigentlich mehr ein Schuppen, dort sollten wir schlafen und uns so bequem wie möglich einzurichten suchen. Meine liebe Frau, die mich vor einigen Jahren mit einer Eiderdaunendecke überraschte, würde sich freilich über die Einfachheit meiner Schlafstätte gewundert haben. Schlechtes Stroh, auf dem sich Katzen und einiges anderes Ungeziefer breit gemacht, eine zerrissene Pferdedecke, statt der notwendigsten Möbel einige Heugabeln, Sensen, Karren etc. – das war unser erstes böhmisches Quartier. Aber wir schliefen später doch wie Ratzen.
Schon nach einer Stunde glich das Dorf einem wohlorganisierten Feldlager. Die Kanonen richteten ihre Mündungen drohend gegen den Feind, die Pferde der Kavallerie und Artillerie, welche in den Ställen kein Unterkommen fanden, standen gegen Wind und Wetter so gut wie möglich geschützt auf den freien Plätzen. Allenthalben ein reges Leben und Treiben! Gruppenweise standen hie und da die Soldaten beisammen und trotz dem Ernst des Augenblicks fehlte auch der Scherz nicht. Vor dem Dorfe, eine Viertelstunde von demselben entfernt, hatte die Feldwache sich aufgestellt, eine starke Abteilung Infanterie und Kavallerie bildete sie. Die Doppelposten waren vorgeschoben, sie zogen in Verbindung mit den Doppelposten der seitwärts liegenden Dörfer eine Kette entlang der Grenze, die der Feind unbemerkt nicht durchbrechen konnte. Die Schatten der Nacht senkten sich dichter, die Sterne zogen empor; ach, wie manches Menschenherz blickte in dieser Nacht bangend und hoffend zugleich zu ihnen hinauf! Das Gewehr im Arm, den Blick in die Ferne gerichtet und doch in Gedanken daheim bei Weib und Kind! Ob sie wohl auch jetzt an dich denken? Gewiss, und ihr frommes Gebet steigt für dich zum Höchsten empor!
„Und wenn du traurig bist und weinst,
Mich von Gefahr umrungen meinst,
Sei ruhig, bin in Gottes Hut,
Er liebt ein treu Soldatenblut!“
„Halt, wer da!“
„Gut Freund!“
„Steh’ – Parole!“
„Deserteure von den ungarischen Husaren.“
„Kehrt, legt die Waffen nieder. Marsch. Halt!“
Zwei österreichische Deserteure, die heimlich aus ihrem Lager entwichen waren und die Gefangenschaft dem Kriegsleben vorzogen. Sobald sie die Waffen niedergelegt und sich weit genug entfernt hatten, wurde ihnen „Halt“ geboten, mit dem Rücken gegen uns gewendet, mussten sie geduldig warten, bis die von unserer Feldwache ausgesendete Visitation-Patrouille erschien, die sie mit zur Feldwache nahm.
Die beiden Deserteure berichteten nichts Rühmliches über die Verpflegung der k. k. österreichischen Armee, der Hunger hatte sie im vollsten Sinne des Wortes zur Desertion bewogen. Wir schickten sie ins Dorf, dort wurden sie gastfreundlich bewirtet. Gleich nach Tagesanbruch wurden wir abgelöst wir marschierten ins Dorf zurück und fanden erst jetzt die längst ersehnte Ruhe.