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5. Am Saume des Nachoder Wäldchens.

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Da liege ich hier auf der blanken Diele, die nichts weniger als blank ist, und quäle mich vergeblich ab, das kleine Ding von Trommel als Schreibtisch zu benutzen, um Ihnen wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben.

Gesund bin ich, Gott sei Dank, geistig und körperlich, aber wo ich mich befinde? – in einem böhmischen Dorfe, heißt – ja, wie – eine große Anzahl unaussprechbar zusammengesetzter Konsonanten und daran ein itz gehängt. Wenn ich von Dielen sprach, so war dies freilich ein idealisierter Ausdruck, denn erst nach Abräumung einer dicken Schicht vegetabilischer und animalischer Reste stößt man auf Spuren einstiger Holzdielung, und die Merkmale eines Zimmers bestehen einzig in den leeren Löchern für Türen und Fenster, aber das Dach ist noch heil und so bivouakirt man unter dessen Schutz.

Wir haben wieder viel erlebt, seitdem ich nicht geschrieben. Freilich ist Nachod längst vorüber und die Berichte aller nachfolgenden herrlichen Schlachten sind Ihnen jedenfalls bekannt. Nichtsdestoweniger bleiben selbsterlebte Details stets interessant, zumal sie dazu beitragen, das Rätsel preußischer Schlagfertigkeit zu lösen, die mächtigen Resultate auf faktische Motive zurückzuführen. Die kolossalen strategischen Fehler, welche der Feind gleich bei Beginn der Feindseligkeiten beging, stärkten in uns die Zuversicht.

Während jeder Tambour bei uns begriff, dass die böhmischen Pässe für uns hätten verderblich sein müssen, zögerte der Feind mit den betreffenden Maßregeln, verließ sich auf seine Spionage und tat uns den Gefallen, uns und unsere Führer gering zu schätzen.

Die Lehre, den Gegner stets für vollkommen zu halten, war dem Feinde fremd, und dieser Mangel sollte ihm verderblich werden.


Am Saume des Nachoder Waldes.

Am Abend des 25. Juni hatten wir, das heißt die Avantgarde des alten Löwen Steinmetz, die Pässe nördlich von Nachod mit der äußersten Vorsicht durchschritten, wir glaubten in jedem Augenblick ein vernichtendes Feuer aus irgend einem Hinterhalt, von irgend einem Felsen her zu bekommen. Jeder von uns fühlte den Ernst des Augenblicks, Jeder fühlte den Tod unmittelbar über sich schweben und eine feierliche Stille herrschte in den Reihen. Hing doch von uns das Gewinnen der Pässe, die Sicherheit der Armee ab, und wir waren stolz auf unsere Aufgabe. Wohl mussten unsere Seiten-Patrouillen auf Feinde stoßen, denn alle Augenblicke knatterten Schüsse und jeder Schuss, so glaubten wir, verkündige den feindlichen Überfall. Ein prüfender Blick auf das treue Gewehr und entschlossen vorwärts! Aber nichts vom Feinde, außer einigen größeren Patrouillen, die nur einmal mit zwei Geschützen erschienen, von uns aber mit leichter Mühe und ohne Verlust unsererseits verjagt wurden. Endlich detachierten wir und – ich kann es wohl gestehen – ein Stein fiel uns Allen vom Herzen. Begreifen konnten wir das Unglaubliche freilich nicht.

Wir biwakierten und patrouillierten die ganze Nacht fleißig gegen Nachod und Skalitz hin, ohne vom Feinde etwas Bedeutendes zu entdecken. Die Nacht verging auch ohne besondere Ereignisse. Am nächsten Morgen des 27. Juni stand uns die schwierige Aufgabe bevor, das lange Defilee südlich von Nachod zu passieren. Würden die Österreicher wiederum geduldig zusehen oder uns eine große Falle bereiten? Der ganze Engpass, eine Straße, auf der kaum zwei Wagen nebeneinander fahren konnten, welche ein Abbiegen von der Straße durchaus unmöglich machte, war dicht gefüllt von einer ganz unabsehbar langen Kolonne von Kavallerie, Geschützen, Wagen jeder Art, Infanterie, Munitionskolonnen etc. Nur eine energische Disziplin, wie die preußische, konnte hier Ordnung festhalten und den Marsch ohne Aufenthalt fortsetzen. Allein ein starker Angriff hätte eine Katastrophe herbeiführen müssen, denn an ein Umkehren war gar nicht zu denken. Diese Gefahr verstand jeder unserer Leute zu würdigen, wir brauchten unsere Patrouillen nicht erst darauf aufmerksam zu machen, und so rückten wir, die Avantgarde unter General von Löwenfeld, mit wirklich indianischer Vorsicht weiter. Die braven Siebenunddreißiger und Achtundfünfziger, die fünften Jäger, die ersten Ulanen und vierten Dragoner, Alle fühlten sie sich stolz über die hohe Wichtigkeit der Aufgabe. Plötzlich gingen zwei Dragoner im leichten Trabe vor, bis zum Ausgange, wo sie hielten und sich umschauten. Sie mussten wohl etwas Besonderes bemerkt haben, denn der eine sprengte im Galopp zurück und General v. Löwenfeld ihnen entgegen. Jetzt endlich ist der Moment da! Die Adjutanten fliegen. Zwei Schwadronen gehen im Galopp vor, sie marschieren, so wie sie Platz haben, in Schwadronsfront auf und – richtig, der Kampf ist da. – Ventre à terre fliegen die Dragoner gegen einen überlegenen angreifenden Feind, zwei Schwadronen gegen zwei Kürassier-Regimenter, ein Wagnis, was an Übermut grenzt. Dadurch gewinnen wir, fünfte Jäger- und die siebenunddreißiger Füsiliere, Platz. Im heftigsten Dauerlauf hinaus aus dem Defilee und im rasendsten Lauf hinein in ein links der Straße gelegenes Wäldchen. Hurrah, der Feind ist nicht darin, wir haben den Saum, und nun her, treue Zündnadel, jetzt den Kameraden Zeit und Luft geschafft!

Die Schlacht kam zum Stehen und ich gewann Zeit mich umzuschauen. Zudem waren wir auch gezwungen eine kurze Pause zu machen, denn die Läufe unserer Buchsen waren heiß wie ein Ofen und Schweiß, Staub und Pulverschleim klebten uns fast die Augen zu.

Erlassen Sie mir die Schilderung dieses furchtbaren Zusammenstoßes der Reiterscharen. Die beiden Schwadronen kamen arg in die Klemme und wären sicher zusammengehauen worden, wenn nicht zur rechten Zeit die Zündnadelgewehre unserer Jäger und der Siebenunddreißiger und später noch eine Artillerieabteilung von zwölf Geschützen – fünfzig feindlichen gegenüber – so wacker unter den Gegnern aufgeräumt hätten, dass nicht nur die Reiter, sondern auch einige der unangenehmsten Geschütze abschwenkten. Die 58er und 37er setzten sich zum Sturme an.

Es war elf Uhr früh, von uns waren bereits etwa sechszehn Bataillone und eine imposante Artillerie im Gefecht. Allein die Österreicher waren doppelt so stark. Das ganze Korps Ramming, darunter die eiserne Brigade, vier Jägerbataillone, die Windischgrätzjäger und Kürassiere fochten gegen uns. Sie wollten uns ins Defilee zurückwerfen und dort vernichten. Wir aber überließen uns wirklich schon einer Art Sicherheit, und obschon wir von ferne her immer neue feindliche Streitkräfte heranziehen sahen, vermochte das nicht unsere momentane Ruhe zu stören. Überdies hatten wir Befehl, im Walde zu bleiben und weitere Zuzüge zu hindern. Wir lagen an dem Saume eines herrlichen Eichenwaldes und die prachtvollen alten Bäume gaben uns gastfrei nicht allein ihren Schatten her, sie schützten uns auch vor feindlichen Kugeln; üppige Farrenkräuter bedeckten dicht den Boden und das grüne Volk unserer Jäger fühlte sich so recht eigentlich in seiner Natur. Vor uns eine saftige Wiese und jenseits derselben die Straße nach Neustadt, die wir eben bestreichen sollten. Unterdes wogte der Kampf fort, ohne dass wir viel sehen konnten, wir hatten uns hinter unseren dicken Bäumen verborgen zu halten, der Feind sollte das Holz für unbesetzt halten und wir mussten uns schon darein fügen, einstweilen nur den Donner der Kanonen zu hören. Unsere Leute streckten sich behaglich auf den weichen Teppich, den die Natur so freigebig ausbreitete, und erfreuten sich an den kärglichen Gaben ihrer Brotbeutel.

Auf dem rechten Flügel unserer Stellung befand sich in dem Saume eine breite Lücke von hohen dichten Farrenkräutern bedeckt. Auf diese Lücke kroch unser Hauptmann auf allen Vieren zu und bog die üppigen Kräuter zurück, um einen Blick ins Freie zu tun. Wir selbst hatten natürlich zurückbleiben und nur der Hornist, der naseweise Patron, missbrauchte sein Privilegium, stets in der Nähe des Hauptmanns sein zu müssen, um auch seine Nase aus dem Dickicht hervorzustrecken. Der Hauptmann musste wohl Wichtiges sehen. Ein zischendes „Pst“ brachte uns auf, Jeder prüfte seine Büchse und gebückt schlichen wir zum äußersten Saum. „Kinder“, sagt er, „dort auf der Straße kommt feindliche Verstärkung, eine Munitionskolonne, weiter hinten Infanterie, die dürfen wir nicht vorüberlassen. Kamerad“, wandte er sich an mich, „lassen Sie die erste Sektion Ihres Zuges Explosionspatronen zur Hand nehmen, ich werde es auch tun, nehmen Sie die drei ersten Wagen, ich nehme die folgenden. Wir wollen einige Wagen in die Luft schicken.“ Ein freudiges Gemurmel folgte. Die Sektionen versorgten sich mit Explosionspatronen und mit gespanntester Aufmerksamkeit erwarteten die Jäger Weiteres. Nochmals begab sich der Hauptmann an die Lücke; hinter ihm, die schussbereite Büchse zum Anschlage fertig, die Gruppen seiner Jäger. Die Kolonne sollte erst so weit vor, dass ein Umkehren nicht mehr möglich. „Fünfhundert Schritt, Leute, Klappvisier, nehmt volles Korn und haltet mitten auf den Wagen. Bleibt aber gedeckt. Wir wollen ihnen eine Lehre geben. Ihr Andern schießt noch nicht. Und nun, Feuer!“ kommandierte er. Die Schüsse weckten das Echo des Waldes und drei Wagen explodieren! Große Verwirrung! Wer hätte geglaubt, auf diese Entfernung! Aber der Feind lässt sich dadurch nicht in Schreck setzen; rasch rasselt eine Batterie gegen uns herbei und im Nu kracht’s und schmettert den eisernen Hagel in die Eichen. „Achtung, Leute, Achtung vor den stürzenden Ästen, das Schießen geht uns nichts an, es gilt den Eichen. Nehmt die Bedienungsmannschaften aufs Korn. Die Unteroffiziere schießen auf die Offiziere, die Flügelleute auf den Kanonier, der die Kartätsch einsetzt. Es war eine Freude, wie die Leute ihrem geliebten Hauptmann folgten. „So recht, Leute“, rief er; „brav geschossen, Schmidt, da liegt er, dem Folgenden eine Warnung. Brav Kerls, diese Kanoniere, tun ihre Schuldigkeit!“ Die Batterie fängt an mürbe zu werden, denn unser Feuer vermindert sich nicht, und ihre Bedienungsmannschaft ist mächtig gelichtet. Da sprengt der Kommandeur derselben vor die Front, ein tapferer Offizier; er reitet näher zum Saume, um den Feind zu sehen, den noch Niemand zu Gesichte bekam. Ich sehe mir den Mann an. „Hertel“, sagte ich leise, „Ihre Büchse, ich werde ihn selbst nehmen; Schmidt, nehmen Sie das Pferd, schießen Sie aber unmittelbar nach mir.“ Ein Doppelschuss! Pferd und Mann wälzen sich am Boden. „Hädeke, Sie Sakramentskerl, ich schicke Sie zur Reserve, wenn Sie nicht Ihre schlechten Witze lassen.“ Hädeke wird mäuschenstill, die Drohung wirkt. Jetzt deployieren drei feindliche Bataillone, und drei lange Linien avancieren im Sturmschritt (tambour battant) auf den Saum los. Jede Kompagnie, heißt es, nimmt ein Bataillon, die vierte Kompagnie behält die Batterie. „Holla, Jäger“, rief der Hauptmann, „jetzt gilt’s Ruhe; Hertel, ich behalte Ihre Büchse noch, geben Sie mir Patronen. Sergeant Friedrich und Oberjäger Heinz, nehmen Sie den Kommandeur; die Unteroffiziere und besten Schützen die Offiziere; da wo kein Bajonett blitzt, da ist ein Offizier. Vierhundert Schritt, Leute, erste Klappe, Schulterhöhe.“ Ein mörderisches, ein vernichtendes Schnellfeuer beginnt, fast jede Kugel rafft ihren Mann; aber die braven österreichischen Bataillone wanken nicht, sind ebenbürtige Feinde und entschlossen, uns mit dem Bajonett zu vernichten. Noch dreihundert Schritt! Plötzlich bei uns das Signal „Gewehr in Ruh“. Kein Schuss mehr. „Teufel, wir werden doch nicht zurückgehen!“ Entsetzliche Stille. „Richtig, sie bringen uns ihre Fahnen“, meint Hädeke, der selbst in diesem furchtbaren Moment seine Bemerkungen nicht unterdrücken kann. „Aufgepasst, Leute“, ruft der Hauptmann, „herunter die Klappe. Dreihundert Schritt – Standvisier – Brusthöhe – legt an – Feuer! – Geladen! – Brusthöhe – legt an – Feuer! – Geladen!“ Die Salven krachen durch den Wald, die feindliche Batterie speit, wenn auch nur noch spärlich, Kartätschen und Vollkugeln. Dicke Äste prasseln herab, und unsere Verwundeten werden zurückgeschafft. Die Farrenkräuter sind jetzt mit Blut gefärbt, und zwischen dem Krachen unserer Salven hört man die dumpfe Trommel der stürmenden Bataillone. Der Pulverdampf nimmt die Aussicht, aber der Feind avanciert! Niemand denkt an die Möglichkeit eines Rückzuges. Kurze Pause. Der Dampf verzieht sich. Barmherziger Himmel, ist das der Rest des Bataillons? Die Linie ist nicht mehr halb so lang, aber dicht geschlossen und im Avancieren. Brave Soldaten, diese Österreicher namentlich die deutschen Regimenter. „Aufgepasst, Leute“, ruft wieder der Hauptmann – „einhundertundfünfzig Schritt, – Standvisier – Bauchhöhe – legt an – Feuer! – Geladen – Bauchhöhe – legt an – Feuer! – Geladen! Heraus jetzt mit dem Bajonett, flink, ihr Jäger, heraus aus dem Saume und nach dem rechten Flügel fest geschlossen. Bataillon, vorwärts Marsch! Zur Attacke Gewehr rechts! Fällt’s Gewehr! Marsch, Marsch! Hurrah!“ Und der Rest der Jäger-Kompagnie stürzt sich auf den Rest des stürmenden Bataillons. Den Kampf mit dem Bajonett mag ich Ihnen nicht schildern, er ist entsetzlich. Aber in dem Augenblick empfindet man das Entsetzliche nicht, man sprüht eben selber Vernichtung. Der Feind, zu drei Viertel vernichtet und völlig erschüttert, hält den Anprall nicht aus; nach kurzem Kampfe weicht er. Hurrah, Hurrah! ihm nach unsere Jäger. Leider sind die feindlichen Fahnen unerklärlich verschwunden, verschwunden auch die Batterie, die uns so viel zu schaffen gemacht. Auf allen Punkten beginnt der Rückzug des Feindes und wir, die wir die Ehre der Avantgarde gehabt hatten, verfolgten ihn zunächst. Dabei kamen wir wiederum mit demselben Bataillon Siebenunddreißiger zusammen. Wirklich, es gibt bei uns gar keine ausnahmsweise Bravour, denn die höchste Bravour ist bei unsern Leuten ausnahmslose Regel. Wir denken Wunder was geleistet zu haben, da erfahren wir, dass dies eine Bataillon ein Dorf zwei Stunden lang gegen eine ganze Brigade, d. h. gegen sechs tapfere Bataillone, gehalten habe, und bescheiden senkten wir unsere Augen. Dagegen war unser Tun Nichts. Aber kein Neid, eine warme Brüderlichkeit durchzog unsere Herzen, und Füsilier und Jäger umarmten sich, als ob zwei treue Freunde nach langer Trennung sich wiederfänden. In der Tat wiegen solche Stunden Jahrzehnte auf und bleiben unvergesslich.

Wir bezogen ein Biwak gegen Skalitz hin und kamen für diese Nacht zum Gros, um ungestörte Ruhe zu genießen. Mein Herr, eine solche Nacht auf der harten Erde, den blauen Himmel über sich, bedeckt mit dem Palletot, inmitten lieber Kameraden, das Bewusstsein treuer Pflichterfüllung im Herzen, eine solche Nacht, sage ich Ihnen, wiegt alle Gefahren, alle Strapazen auf. Die harte Erde verwandelt sich in weiche Daunen, süßer Schlaf stärkt den erschöpften Körper und der freundliche Traumgott führt uns zu den teuren Unsrigen, die für uns beten und arbeiten.

An diesem Briefe, mein Herr, habe ich zehn Tage geschrieben, meist auf einer Trommel, da ich meist mit Infanterie zusammenlag, zuweilen auf dreibeinigen Tischen. Ob Sie es werden lesen können, weiß ich nicht. Noch weniger weiß ich, ob Ihnen die Sache interessant erscheint. Wenn seitdem auch Großes geschehen, so wird mir das Bild an dem Saume des Waldes stets unvergesslich sein, und Nachod war das erste bedeutende Gefecht, hier lernte der Feind uns und unsere Waffen kennen, seitdem sind wir „verflixte Preußen“, und ich kann wohl sagen, Nachod bereitete Königgrätz vor.

6. Die Russen in Kissingen.

Die diesjährige Saison war auch in Kissingen nicht reich an Gästen; dennoch hatten sich hier gegen dreihundert ausländische Familien, vornehmlich Engländer und Russen, eingefunden. Still flossen die Tage der Kurzeit dahin und die meiste Abwechselung brachten noch die Taten der Preußen. Alle waren überzeugt, dass der Krieg das stille Asyl der Kranken verschonen werde. Anfang Juni begannen die Durchzüge bairischer Truppen, welche, auf der Straße von Schweinfurt nach Fulda und Meiningen, bis zum 27. Juni (alles nach altem Kalenderstyl) fortdauerten. Auch der König von Bayern kam nach Kissingen zur Heerschau. Man sagte uns, dass diese Truppen nach Sachsen gingen, um sich dort mit den österreichischen zu vereinigen.

Am 23. Juni wurden wir durch die Bekanntmachung des Kissinger Bademagistrats, das die Preußen Fulda (etwa zehn Stunden Fahrt von Kissingen) besetzt hätten, in einige Unruhe versetzt. Den ganzen Tag über sprengten Bayern durch die Stadt mit der Nachricht, dass die Preußen auf Kissingen losmarschierten. Wir gedachten die Stadt zu verlassen, aber es gab fast keine Pferde, so dass es nur sehr Wenigen gelang fortzukommen; gegen Abend machte übrigens der Magistrat durch Maueranschlag bekannt, dass das Gerücht von einem Herannahen der Preußen sich als grundlos herausgestellt habe, dass die Preußen nicht einmal in Fulda sich gezeigt hätten und dass der ganze Alarm nur in Folge eines unbedeutenden Scharmützels zwischen Bayern und Preußen an der Grenze entstanden sei. Alle fühlten sich beruhigt.

Am 26. Juni kamen bairische Ulanen und Artillerie nach Kissingen; bei ihnen befand sich u. A. Prinz Ludwig von Bayern, der sich bis zum Morgen des 27.in Kissingen aufhielt und sodann fortreiste, ohne dass man wusste, wohin. Hierauf verschwanden auch Ulanen und Artillerie. In der Stadt blieben nur anderthalbtausend Mann Fußtruppen und zwei Kanonen. Niemand wusste, wie viel bairische Truppen sich in der Umgegend befanden: es war dieses ein Kriegsgeheimnis. Still und ruhig ging der Morgen des 27. Juni vorüber; Niemand hatte eine Vorstellung davon, was sich für den andern Tag vorbereitete. Um vier Uhr nachmittags saß die ganze Gesellschaft im Kurgarten am Brunnen, in Erwartung der Musik, welche um sechs Uhr zu beginnen pflegte, oder musizierte im Kursaal, spielte Karten oder trank Kaffee. Plötzlich erscheinen bairische Soldaten und stellen sich in kleinen Abteilungen an verschiedenen Stellen des Gartens auf. Anfangs dachten wir, es seien Truppen, die, auf dem Durchmarsch begriffen, in Kissingen Halt gemacht hätten und nun, wie Ähnliches fast alle Tage geschah, den Abend im Garten zubringen wollten; aber alsbald erfuhren wir, dass die preußischen Truppen sich Kissingen näherten und dass nach einigen Stunden in der Stadt selbst eine Schlacht geliefert werden sollte. Man denke sich den allgemeinen Schreck und die Verwirrung bei dieser unerwarteten Nachricht! Alle eilten ihren Wohnungen zu, um einzupacken, abzureisen, aber, o weh! es waren weder Pferde noch Wagen zu bekommen; es gab keine. Diejenigen Kurgäste, deren Wohnungen sich jenseits des Flusses, der die Stadt in zwei Teile teilt, befanden, hatten nicht einmal die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, weil die Bayern die über den Fluss führenden kleinen Brücken abgebrochen und Barrikaden gebaut hatten. Die Hauptbrücke hatte man befestigt, es standen Kanonen darauf; Niemand durfte hinüber. Man musste in der Stadt bleiben, sich mit dem, was man anhatte und mit sich trug, begnügen und alle andern Effekten ihrem Schicksal überlassen. Noch immer tröstete der Bademagistrat die Kurgäste, es werde keine Schlacht geben, es würden nur einige Vorsichtsmaßregeln für den Fall getroffen, dass irgendein kleiner Trupp Preußen etwa plötzlich in die Stadt käme. Diejenigen, welche ihre Wohnungen erreichen durften, wurden gebeten, nur ganz ruhig dazubleiben, die andern, die obdachlos geworden waren, ersuchte man, sich ein Unterkommen in den Gasthöfen zu suchen.

Die Nacht verging ruhig. Ein, zwei Schüsse hörte man in den Bergen fallen – das war Alles. Um sieben Uhr morgens am 28. Juni wussten die Bayern noch nicht, wo die Preußen waren und in welcher Entfernung oder Nähe. Um acht Uhr gedachte der Anführer der bairischen Truppen eine Abteilung Soldaten zur Rekognoszierung auszusenden (dies sagte mir der Badekommissar um acht ein Viertel Uhr selbst), aber nach Verlauf von fünf Minuten schon erschallten die ersten Schüsse. Von halb neun Uhr an begann das Schießen stärker zu werden; häufiger und häufiger erschallten Kanonensalven, der Donner der Geschütze krachte, die Kugeln pfiffen; es begann Granaten und Kartätschen zu hageln, mit einem Wort, es begann ein heißer Kampf. Ich unterlasse es, die Einzelheiten des Gefechts zu erzählen, weil ich mit dem Kriegswesen durchaus nicht vertraut bin und auch, aufrichtig gesagt, bei dem Sausen der Kugeln keineswegs Lust verspürte, dem Verlaufe der Sache zu folgen; ich bemerke nur, dass der Kampf zuerst jenseits des Flusses stattfand, sodann auf der Brücke und endlich in der Stadt selbst und besonders im Kurgarten. Auf dem Berge hinter der Stadt waren von den Bayern drei Batterien errichtet worden (wir wussten davon nichts) und achtzehn Geschütze schleuderten ihre Kugeln, Granaten und Kartätschen über die ganze Stadt hinweg nach der Seite hin, von welcher die Preußen kamen, so dass in dem jenseit des Flusses gelegenen Teile der Stadt alle Häuser mit bairischen Mörsergeschossen wie besäet, einige stark beschädigt, ja halb zerstört wurden. In der Stadt selbst nahmen die Bayern viele Häuser ein, darunter mehrere, in denen sich Wohnungen von Kurgästen befanden. Von hier aus ward aus den Fenstern geschossen. Der Kampf dauerte bis halb zwei Uhr. Da begann das Feuern in der Stadt aufzuhören. Die Bayern, total geschlagen, verließen die Stadt und die Preußen zogen als Sieger ein. Das Handgemenge dauerte übrigens auch noch hinter der Stadt, in den Bergen und auf der Straße nach Schweinfurt bis in die Nacht hinein fort.

Nicht etwa eine Abteilung preußischer Truppen kam nach Kissingen, sondern ein preußisches Heer von fünfzigtausend Mann, und eine Stunde vor Ankunft dieses Heeres wussten die Bayern noch nichts davon!

Um zwei Uhr entschlossen wir uns, unsere Schlupfwinkel zu verlassen, und wagten uns auf die Straße hinaus. O Gott, welch’ furchtbaren Anblick die Stadt darbot! Die Häuser von oben bis unten mit Kartätschen besät, durchlöchert von Kugeln und Granaten, die hier und da selbst steinerne Wände gesprengt hatten. Auf den Straßen und im Garten eine Menge Toter und Verwundeter, Lachen von Blut, umhergeworfene Waffen, Patronen, Munition. Der Kursaal im Garten und die Galerien verwandelten sich in ein Lazarett und füllten sich im Verlauf weniger Minuten mit einigen hundert Verwundeten; unaufhörlich trug man sie von allen Seiten auf den Händen und auf Tragbahren herbei. Ein trübes, trauriges Bild!

Stattlich schritten die preußischen Truppen mit wehenden Fahnen, unter klingendem Spiel und Trommelwirbel durch die Stadt. Die Begleitung zur Musik lieferten die Geschützsalven und der Kanonendonner in den Bergen. Im Garten waren die Biwaks der preußischen Kürassiere und Husaren. Dorthin brachte man auch die gefangenen Bayern, von denen ich eine Stunde nach der Schlacht bis vierhundert zählte; aber auch später noch den ganzen Tag hindurch und sogar noch am folgenden Tage wurden truppweise Gefangene eingebracht, deren man sich in der Umgegend der Stadt und auf den Straßen bemächtigt hatte. Bisher habe ich keine genauen Angaben über die Zahl der Toten und Verwundeten sammeln können. Soviel ich herausbrachte, liegen jetzt im Kursaale und in fünfzehn Privathäusern, welche in Lazarette umgewandelt wurden, über fünfhundert Mann verwundeter Preußen und Bayern. Über dreihundert Tote wurden auf dem Kissinger Friedhofe bestattet, darunter ein Major aus Lippe-Detmold und zwei preußische Offiziere. Man sagt, es seien im Ganzen beiderseits zweitausend Tote und Verwundete.

Niemand von den Russen oder Ausländern ist, Gott Lob, getötet oder auch nur verwundet worden. Von den Bewohnern des Ortes ist der Provisor einer hiesigen Apotheke zum Opfer gefallen, wie man sagt, ein Preuße. Während des Gefechts war er im Laboratorium und bereitete eine Arzenei. Eine Bayerische Granate schlug in die Wand des Hauses ein, durch diese hindurch und ein Splitter traf den Unglücklichen gerade in die Brust.

Den ganzen Rest des 28., sodann am 29. und 30. Juni zogen fortwährend preußische Truppen über Kissingen nach Schweinfurt und nach Gmünden. Heute, am 1. Juli, ist die Stadt ruhig, nur gibt es keinen Telegraphen, keine Post, keine Pferde. Auch macht sich ein bedeutender Mangel an Lebensmitteln bemerklich; es giebt kein Brot, keinen Wein, kein Bier, keinen Kaffee, keinen Tabak; Alles hat das Heer aufgezehrt.

Zur Ehre der preußischen Truppen muss man bekennen, dass Niemand unter den fremden Kurgästen irgendwie gekränkt wurde. Es ist keinerlei Unordnung oder Gewalttat vorgekommen. Die Privathäuser blieben unangetastet; nur Küchen und Keller wurden völlig ausgeleert. Eine Ausnahme machte das „Hotel de Bavière“, welches gänzlich zerstört wurde; alles Glas, alle Spiegel zerbrochen, alle Vorräte vernichtet, das Hausgerät demoliert, Wäsche und Kleider verschleppt und verdorben. Als Ursache dieser Verwüstung, welche am Morgen nach der Schlacht angerichtet wurde, gibt man den Umstand an, dass, während preußische Soldaten in dem Hause einquartiert waren, von Seiten des Wirths und seiner Bedienung (Bayern) drei Schüsse gegen die Preußen abgefeuert worden sein sollen.

Ich gehe jetzt dazu über, zu erzählen, wie Gott an diesem schrecklichen Morgen uns beschützte und was sich mit einigen der russischen Kurgäste begeben hat. Ich will von mir anfangen. Mit meiner Familie war ich in der Zahl derjenigen, welche nicht in ihre Wohnung gelangt waren, ihre Habe dem Schicksal überlassen und in einem Gasthofe ein Unterkommen suchen mussten. Ich wählte das Hotel zum Kurhause gegenüber dem Kurgarten, in der Hoffnung, dass die auf demselben wehenden weißen und mit roten Kreuzen versehenen Flaggen die Unantastbarkeit des Hauses verbürgen würden. Die Fenster meiner Stube waren der Richtung, wo die Schlacht stattfand, entgegengesetzt; so hielt ich uns für geborgen. In demselben Hause befand sich die Familie eines russischen Gutsbesitzers, die kranke Frau eines russischen Konsuls, ein Kosaken-Stabsoffizier mit seiner Frau, einige Beamte aus Petersburg und fünf oder sechs englische Familien. Anfangs saßen wir bei geschlossenen Läden in unsern Stuben, als aber die Kugeln in die Laden einzuschlagen begannen, da gingen wir in die Korridore inmitten des Hauses. Die Frauen und Kinder hielten sich in der Nähe der Hauptmauern. Die Männer gingen in den Korridoren umher und stiegen von Zeit zu Zeit auf den Boden, um aus den Bodenfensterchen hinauszuschauen. Man muss dem Mute und der Geistesgegenwart aller Damen in der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren lassen: keiner wurde schlimm, keine ward ohnmächtig. Selbst die Kranke, welche aus ihrer Stube in einem Bette herausgebracht worden, weil eine Kugel neben ihr auf den Boden gefallen war, hielt sich so tapfer, wie ihre Krankheit es zuließ. Die Kinder weinten nicht, sondern saßen still und zupften Scharpie. Und doch war Grund zur Ängstlichkeit vorhanden: oft klirrten in den Stuben die Scheiben, von Kugeln zertrümmert; noch öfter hörte man das Pfeifen und Sausen der Granaten und Kanonenkugeln, die über das Haus hinwegflogen. Vor unsern Augen flog eine Kugel in ein Fenster des Korridors, in welchem wir uns befanden, zu uns herein; eine andere Kugel pfiff, nachdem sie ein Fenster zertrümmert hatte, so dicht an einer Dame vorüber, dass diese eine leichte Kontusion in der Hand verspürte. Übrigens traf keine Kanonenladung unser Haus. Ich wage es nicht, zu entscheiden, ob dieses den an dem Hause angebrachten Flaggen oder einfach dem Zufalle zuzuschreiben ist. Wir verließen unsern Zufluchtsort nicht bis zum Ende des Gefechts. Die ersten Preußen sahen wir bereits als Sieger in der Küche des Gasthofs, wie sie eifrig der Vertilgung unseres Mittagessens oblagen.

Nicht so sicher war die Lage, in der sich andere unserer Landsleute befanden. Hier folgen ihre eigenen Berichte von ihren Erlebnissen an diesem Morgen.

Der Generalmajor Preradowitsch war mit seiner Gemahlin in dem jenseit des Flusses gelegenen Teile der Stadt geblieben und zwar in dem Hotel Couronne de Rose, das hart an der Straße steht, auf welcher die Preußen daherzogen. Unglücklicherweise stand dieser Gasthof gerade gegenüber den auf den Bergen errichteten Bayerischen Batterien, so dass er dem Feuer der letztern in höchstem Grade ausgesetzt war. Einhundert dreiundsiebenzig Kanonenschüsse schlugen in das Haus ein, welches mit Kanonenkugeln, Granaten und Kartätschen förmlich besäet war. Der General hielt sich mit seiner Gemahlin in einem nach der andern Seite des Hauses gelegenen Zimmer auf, welches durch eine Kapitalmauer geschützt war. Die vorderen Stuben erscheinen ganz bunt von Kugeln und Kartätschen. Einige Granaten schlugen durch die Wände des Hauses und platzten in den Korridoren. Granatensplitter fielen in die Stube, wo sich der Generalmajor befand, zum Glück, ohne ihn oder seine Gemahlin zu verletzen. Sogleich beim Beginn des Kampfes nahmen die Preußen seine Wohnung ein und schossen vom Balcon oder aus den Fenstern. Ein Gutsbesitzer aus dem Wladimirschen, Herr Protassjew, wohnte mit Frau und Tochter im „Hotel Sanner“, dem letzten Hause an der Straße nach Schweinfurt. Als das Treffen begann, nahm Herr Protassjew gerade ein Bad; eine Kugel flog, als er aus der Wanne stieg, nahe an ihm vorüber, nachdem sie das Fenster zertrümmert hatte. Die Fenster der Wohnung waren nach der Straße gerichtet, auf welcher der Kampf wogte. Herr Protassjew nahm seine Zuflucht zur Nachbarswohnung. Nachdem die Preußen ihre Gegner von der Brücke verdrängt hatten, nahmen sie die Wohnung des Herrn Protassjew ein und schossen aus den Fenstern des Schlafzimmers. Seine Wohnung ist an vielen Stellen beschädigt; in dem Schlafzimmer ward ein Bayer getötet; dicht am Bett ist eine große Blutlache.

Der Sänger unserer russischen Opernbühne, Herr Komissarshewskij, der mit seiner Frau und seinem kleinen Kinde vor wenigen Tagen erst nach Kissingen gekommen war, wohnte inmitten der Stadt, am Markt, im „Hotel Wittelsbach“. Der Gastwirt hatte seine Gäste in dem Kellergeschoss seines Hauses geborgen, wo sie vor Kugeln und Kartätschen sicher waren. Als die Preußen sich der Stadt bemächtigt hatten, hörte man plötzlich laute Schläge an die verschlossene Tür und den Befehl zu öffnen. Der erschrockene Wirth hatte sich versteckt. Die Schläge wurden mit der Drohung wiederholt, dass, wenn man nicht öffnete, die Tür erbrochen und alle in dem Raume verborgenen Personen getötet werden würden. Herr Komissarshewskij entschloss sich, selbst die Tür zu öffnen. Sobald dies geschehen war, stürzten die Preußen herein und warfen sich mit Scheltworten auf Herrn Komissarshewskij. Einer der Soldaten schlug ihn mit dem Flintenkolben auf die Schulter. Herr Komissarshewskij sagte, er sei ein Ausländer, Russe; wo der Gastwirt sei, wisse man nicht. Die Preußen glaubten ihm nicht; er zeigte seinen Pass vor, den sie zerrissen und fortwarfen. Die Soldaten schleppten Herrn Komissarshewskij mit gefälltem Bajonett in die Wohnungen des Hauses. Oben befahl man ihm, die Türen der Wohnungen zu öffnen. „Ich habe keine Schlüssel“, sagte Herr Komissarshewskij; „ich habe schon erklärt, dass ich nicht der Wirth bin, brecht die Tür ein.“ Mit diesen Worten stieß er selbst mit dem Fuße die Tür ein. Die Preußen traten ein und untersuchten alle Wohnungen des Hauses. Sodann stiegen sie bis zu den Dachkammern hinauf. An der Tür des Bodenraumes richteten sie ihre Flinten gegen Herrn Komissarshewskij und sagten ihm: „Finden wir auch nur einen einzigen Bayern, so töten wir ihn und Dich.“ Zum Glück für Herrn Komissarshewskij war Niemand im Bodenraume, die Preußen beruhigten sich und sagten zu der Gemahlin des Sängers, dass sie demselben kein Leid hätten zufügen wollen, dass sie aber überzeugt gewesen seien, in diesem Hause seien Bayern verborgen. Man vergegenwärtige sich die Lage der Dame, während man ihren Gemahl im Hause umherführte!

Ich habe einige Fälle angeführt, um zu zeigen, dass die Bayerischen Behörden auch nicht im Entferntesten auf unsere Sicherheit bedacht waren, und wenn Niemand von uns getötet oder verwundet wurde, so verdanken wir dies lediglich dem Zufall und der Vorsehung.

Gegenwärtig kommen alle die erschreckten, verwirrten Ausländer allmählich zu sich. Einige haben Mittel und Wege gefunden, die Stadt zu verlassen. Andere – darunter auch ich – nahmen die unterbrochene Wasserkur wieder auf. Fast alle Damen haben sich in barmherzige Schwestern verwandelt und sind vom Morgen bis zum Abend mit der Pflege der Verwundeten beschäftigt, indem sie den Wundärzten hilfreich an die Hand gehen, Verbände anlegen und diejenigen speisen und tränken, die solcher Hilfe bedürfen. Aus den Häusern wird Wäsche, Bettzeug, Essen und Trinken gebracht.

Ich bin, wie erwähnt, durchaus nicht vertraut mit dem Militärwesen und maße mir nicht an, zu beurteilen, in welchem Grade die Bayern nötig hatten, gerade Kissingen zum Schlachtfelde zu wählen; aber im Namen der Nächstenliebe wage ich es, die Frage zu stellen: haben die bairischen Behörden uns gegenüber recht gehandelt, indem sie unser Leben, das Leben unserer Frauen und Kinder einer solchen Gefahr aussetzten? Hatten die Bayern einmal den Entschluss gefasst, Kissingen zum Kampfplatze zu bestimmen, warum haben sie uns nicht davon in Kenntnis gesetzt und uns aufgefordert, abzureisen oder in der Umgegend in sichern Orten eine Zuflucht zu suchen? Warum täuschte man uns bis zum letzten Augenblick mit der Angabe, es sei keine Gefahr; wir sollten unbesorgt sein? Als die Bayern auf den Bergen heimlich drei Batterien mit achtzehn Geschützen auffuhren, deren Mündungen gegen die Häuser gerichtet waren, konnten sie da wohl glauben, dass ihre Kugeln, Granaten und Kartätschen nur Preußen treffen würden?

Führen die Bayern mit den Preußen Krieg, so müssen nur diese und jene unter den Schrecknissen des Krieges leiden; macht man aber friedliche Ausländer, die in eine nicht im Kriegszustand befindliche Stadt, sondern an einen Kurort kamen, zu unfreiwilligen Teilhabern an diesen Schrecknissen des Krieges, so ist dieses eine direkte Verletzung der internationalen Beziehungen. War die Stadt in Gefahr, so hätte man sogleich es verkünden, die Kursaison schließen, die Kranken zur Abreise auffordern sollen, statt so ohne alle Umstände zu verfahren. Oder haben vielleicht die Bayern auf die Anwesenheit von Ausländern in der Stadt als aus ein Mittel zum Erfolg gerechnet, in der Hoffnung, dass die Preußen eine von Ausländern angefüllte Stadt nicht zu beschießen wagen würden?

In der Tat muss man sich bei der ungeheuren Artillerie, über welche die Preußen verfügten, darüber wundern, dass sie die Stadt nicht zerstörten, dass sie dieselbe ganz unversehrt ließen. Es fand sich keine einzige preußische Kugel, keine einzige preußische Kartätsche in der Stadt!

Die Bayern werden vielleicht ihre Handlungsweise mit der Plötzlichkeit des Überfalles zu rechtfertigen suchen. Es ist nicht wahr: ein plötzlicher Überfall kann von einer kleinen fliegenden Kolonne gemacht werden; von der Annäherung eines Heeres von fünfzigtausend Mann nicht vorher unterrichtet zu sein, ist unverzeihlich und undenkbar. Oder führen die Bayern mit verbundenen Augen Krieg? Wozu aber die Batterien? Wozu achtzehntausend Mann Truppen? Also sie wussten davon und rüsteten sich.

Aus dem in einer russischen Zeitung veröffentlichten Briefe eines Russen.

Erinnerungen aus dem deutschen Kriege 1866

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