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Der springende Punkt
Оглавление„… und sprach die geflügelten Worte“: Aus diesem Homerischen und dann Vossischen Versschluss hat Georg Büchmann seinen trefflichen Buchtitel „Geflügelte Worte“ gewonnen, und wie der Titel dieses „Zitatenschatzes des deutschen Volkes“ selbst, so haben sich die Scharen der darin versammelten bildhaft sogenannten „geflügelten“ Worte durchweg von einem literarischen Nistplatz in den Zitatenhimmel aufgeschwungen. Aber eines von den vielen ist doch auch ganz unbildlich, wie es sich für derlei Federvieh gehört, aus einem richtigen Vogel-Ei ausgekrochen oder vielmehr aus einem unausgebrüteten, lediglich während dreier Tage angebrüteten Hühner-Ei aufgeflogen: Das ist das lateinische „Punctum saliens“, der heute meist auf deutsch zitierte „springende Punkt“.
Der „springende Punkt“ ist einem griechischen Exzellenz-Zentrum, dem Forschungslabor des Aristoteles, entsprungen. In seiner „Tierkunde“ beschreibt der grosse Zoologe – oder einer seiner Schüler – die Entwicklung des Kükens im Ei; da heisst es am Anfang: „Bei den Vögeln verläuft die Entwicklung aus dem Ei bei allen Arten auf die gleiche Weise, nur die Brutzeiten bis zum Ausschlüpfen sind verschieden lang. Bei den Hühnern tritt die Entwicklung erstmals nach Ablauf von drei Tagen und Nächten in Erscheinung, bei den grösseren Vögeln nach längerer, bei den kleineren nach kürzerer Zeit. Zu dieser Zeit … erscheint, nur eben so gross wie ein Punkt, blutrot im Weissen, das Herz. Dieser Punkt springt – Túto de to semeíon pedái – und bewegt sich wie ein belebtes Wesen …“
Es kann nicht verwundern, dass der grosse Zoologe diesen springenden Punkt, dieses erste Zeichen des keimenden Lebens, sogleich als das schlagende Herz angesprochen hat. Anders als Platon hat Aristoteles das Zentrum des Lebens nicht zuoberst im Hirn, sondern zuinnerst im Herzen gesucht. In seiner Schrift „Über die Teile – die Organe – der Tiere“, einer Vergleichenden Morphologie, beschreibt er das Herz als ein ganz besonderes Organ: als das Zentrum aller Lebensfunktionen von Ernährung und Fortpflanzung bis hinauf zum Empfinden und Denken und zugleich als den Sitz der lebenserhaltenden Wärme. Es bedürfe ja, erklärt Aristoteles dort, „gleichsam eines Herdes, in dem die Lebensglut der Natur verwahrt liegen kann, und dies wohlgeschützt“, und gleich darauf nennt er dieses zentrale Zentrum des Lebens mit einem Bild, das zuvor Platon für das Hirn gebraucht hatte, „sozusagen die Akropolis des Körpers“.
In der Aristotelischen „Tierkunde“ finden wir die weitere Entwicklung des Hühner-Embryos von jener ersten Lebensregung an mit frappierender Genauigkeit beschrieben: die vom Herzen ausgehenden verschlungenen Adern, die Herausbildung des anfangs übergrossen Kopfes, das Hervortreten der „aufgeblasenen“ Augen, die ins Gelbe hinüberführende „Nabelschnur“, die allmähliche Bildung der inneren Organe und schliesslich die Lage des fertig bebrüteten Kükens in seiner Hülle. „Um den zwanzigsten Tag lässt es bereits einen Laut hören und bewegt sich in seiner Hülle, wenn man das Ei aufschlägt und das Küken berührt …“
Für die in jenem Forschungsprojekt eingesetzten Hühnereier und -embryonen war die Entwicklung nach jenem dritten Tag und spätestens nach diesem zwanzigsten Tag abgeschlossen; aber dafür ist aus diesen Tag für Tag serienweise aufgeschlagenen Eiern ein geflügeltes Wort aufgeflogen. Aus dem Aristotelischen Bericht „Dieser Punkt springt …“ und der lateinischen Übersetzung des Theodoros Gaza von 1476 „Quod punctum salit …“ meinen wir neben den ersten Herzschlägen des dreitägigen Hühner-Embryos noch das erregte Herzklopfen des glücklichen Entdeckers herauszuhören. Bald darauf, im zweiten, 1610 in Frankfurt erschienenen Band seiner gelehrten „Ornithologia“ spricht der Bologneser Sammler Ulisse Aldrovandi erstmals geradezu von einem „Punctum saliens“, dem „springenden Punkt, in dem der Philosoph – Aristoteles – das Herz erkannt hat“. Das Wort hat in der Folge zunächst in seinem eigentlichen Sinne Verbreitung gefunden, über die Fachwissenschaft hinaus und bis in die hohe Dichtung hinauf: In seiner Elegie „Der Genius“ rühmt Schiller das „grosse Gesetz, das oben im Sonnenlauf waltet/und verborgen im Ei reget den hüpfenden Punkt“.
Seither ist dieses „Punctum saliens“ seinem angestammten zoologischen Biotop vollends entsprungen. Wer denkt bei einem „springenden Punkt“ noch an ein Hühner-Ei? Der Anwalt oder der Politiker, der heute seine Argumente Pro und Contra mit dem Beamer auf die Leinwand projiziert und mit dem Laserpointer auf den einen „springenden Punkt“, dieses eine schlagende Argument verweist, versteht darunter allenfalls den soundsovielten „Punkt“ seiner Beweisführung. Da hat dieser alte, bis heute springlebendige Punkt einen dreifachen Salto aus dem zoologischen Forschungslabor in die forensische oder politische Arena vollführt: von dem springenden Punkt im Ei, „blutrot im Weissen“, aus dem einmal ein schlagendes, pochendes Hühnerherz werden sollte, zu dem springenden Punkt auf der weissen Leinwand, der hüben oder drüben im Wortsinne ausschlaggebend in die Waagschale springt.
Vgl. „Natura non facit saltus“, unten Seite 94.