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Das nationale Kulturgut Guy Debord

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Ob ihm der modernistische Monumentalbau der Bibliothèque Nationale de France (BnF) oder auch »Bibliotheque François Mitterand«, für das ein ganzes Viertel eingestampft wurde, immerhin eine Fläche von 60000 Quadratmetern, gefallen hätte, ist unwahrscheinlich, denn Debord hatte trotz avantgardistischer Vorstellungen von einem neuen Urbanismus und trotz seiner Sympathie für das »New Babylon«, das der holländische Maler Anton Nieuwenhuys Constant entworfen hatte, immer eine melancholische Ader für das alte Paris, einer Stadt, »die damals so schön war, dass viele Leute es vorzogen, dort lieber arm zu sein als irgendwo anders reich«. Aber das BnF hat 2009 das Archiv Debords für einen mehrstelligen Millionenbetrag gekauft, nachdem auch die Yale University Interesse gezeigt hatte. Die damalige Kulturministerin Christine Albanel erklärte auf Drängen des Bibliotheksdirektors Bruno Racine den Nachlass Debords zum nationalen Kulturgut, zum »tresor national«, womit Debord, wie die FAZ spöttelte, »unter kulturellen Heimat­schutz gestellt« wurde.

Und das ist erstaunlich, denn noch niemals geschah das mit einem französischen Autor, dessen Tod erst 15 Jahre zurück lag, und noch erstaunlicher ist es, weil Debord vor nicht einmal 30 Jahren als Unruhestifter und Revolutionär galt und auch heute noch gilt, denn noch 2008 schrieb die Antiterroristische Einheit in einem Bericht über Julien Coupat, dem eine Sabotageaktion auf den SNFC vorgeworfen wurde, dass er aus »der situationistischen Schule« käme, die sich »den Kampf gegen die aktuellen Strukturen der Gesellschaft« auf die Fahnen geschrieben hätte. Von der französischen Presse wurde Debord 1984 sogar der Mittäterschaft am Mord seines Freundes und Verlegers Gerard Lebovici beschuldigt. Damals jedenfalls hat wahrscheinlich niemand daran gedacht, dass Debord einmal die Ehre widerfahren würde, vom Establishment zum französischen Nationalheiligen ernannt zu werden. Und Debord selbst hat Auszeichnungen und Preise von offizieller Seite strikt abgelehnt.

Aber in Frankreich hat man ein anderes Verhältnis zu seinen Dissidenten, da avancierte sogar der Staatsfeind Nr. 1 Jacques Mesrine zum Volkshelden, dessen Lebensgeschichte noch zu seinen Lebzeiten verfilmt werden sollte, worüber sich Godard und Belmondo dann allerdings zerstritten. Mesrines Autobiographie »L'Instinct de mort« (der deutsche Titel »Der Todestrieb« enthält eine völlig andere Konnotation) wiederum soll Debord geschrieben haben, der angeblich vor seinem Tod alle Hinweise auf seine Autorenschaft in seinem Nachlass tilgte, was aber relativ unwahrscheinlich ist, denn auch wenn Debord Mesrine zumindest vermittelt über dessen Tochter Sabrina kannte, die im Verlag Champ Libre arbeitete, in dem auch »L'Instinct de Mort« erschien, so beschäftigte sich Debord weniger mit der abenteuerlichen Karriere eines Kriminellen, als vielmehr mit Clausewitz, Hegel, Marx, Machiavelli, Gondi, Cervantes und anderen Klassikern, die auf seine Initiative in den siebziger Jahren in Frankreich neu übersetzt wurden.

Debords Ruhm begründete sich durch seine Schrift »Die Gesellschaft des Spektakels«, die 1967 erschien und in den folgenden turbulenten Jahren zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen in alle wichtigen Sprachen erlebte, ein Buch, von dem gern behauptet wurde, dass es das beste über die ein Jahr später stattfindenden Mai-68-Ereignisse gewesen sei. Jedenfalls beeinflusste dieses Buch eine ganze Generation, die von den Unruhen infiziert wurde, aber es ist keine Bewegungsliteratur, an der der Zahn der Zeit nagt und die nach wenigen Jahren auf merkwürdige Weise antiquiert wirkt, wie z.B. »Das Handbuch der Lebenskunst« von Raoul Vaneigem, der zusammen mit Debord einer der wichtigsten Protagonis­ten der Situationistischen Internationale war.

Debords Buch analysiert die Strukturen von Macht und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft und wurde laut Libération zum meist gelesenen Buch der letzten dreißig Jahre, und das, obwohl es sich nach Greil Marcus um ein »Hegelsches Traktat« handelte, aber es war auch Pop, denn »die Ideen legten dieselbe unerbittliche Dynamik an den Tag, die die Rolling Stones ein Jahr später bei ›Sympathie for the devil‹ entfesseln sollten«. Auch wenn das Buch über Marx' Verdinglichung, Lucaks Entfremdungstheorie und die Rätetheorie nicht hinauskommt, so ist das Interesse an ihm in Architekturkreisen, in der Medientheorie und in der Kunstszene nach wie vor groß, worauf in Deutschland eine wachsende Sekundärliteratur über Debord hinweist, zuletzt beim Politologen Jan-Wer­ner Müller, der Debord in seiner »Politischen Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert« ein ganzes Kapitel widmete, in dem Debord jedoch weitgehend unbegriffen blieb.

Debords Nachlass konnte 2013 (vom 27. März bis 13. Juli) in einer Ausstellung, die von einem umfangreichen Katalog begleitet wurde, unter dem Titel »Guy Debord, un art de la guerre« besichtigt werden. Die Präsentation eines Archivs ist naturgemäß etwas schriftlastig. Die Kuratoren Emmanuel Guy und Laurence Le Bras beschränkten sich jedoch nicht nur darauf, die Notizzettel und Manuskripte zu zeigen, u.a. die Vorarbeiten zur »Gesellschaft des Spektakels« und die Exzerpte von Büchern, die die Einflüsse offenlegen, sondern sie ziehen auch anderes Material heran, wie z.B. bislang unveröffentlichte Fotos von Ed van der Elsken, von dem die wenigen Bilddokumente aus der frühen Phase der Lettristischen Internationale 1956 stammen, Fotos aus dem Café Moi­neau, das damals das Hauptquartier eines Haufens ver­lore­ner Jugendlicher war, von Tagedieben, Nachtschwärmern, Trinkern und Künstlern, die sich einig waren, niemals ein Kunstwerk zu hinterlassen und die stattdessen unter Mithilfe größerer Mengen Alkohol einen Hang zu melodramatischen Auftritten hatten. Damals hätten einige von ihnen gerne den Eiffelturm in die Luft gesprengt, weil die Beleuchtung ihren Schlaf störte. Oder der Skandal in Notre Dame, als der auf religiöser Sinnsuche sich befindliche Michel Mourre den Gläubigen verkündete, Gott ist tot. Debord liebte dieses Milieu und er verklärte es in seinen Erinnerungen auf liebevolle Weise:

»Zwischen der Rue du Four und der Rue de Bucci ging unsere Jugend so unwiderbringlich verloren, als wir einige Gläser tranken und es gewiß war, dass wir niemals etwas Besseres tun würden.«

Debord jedoch wollte mehr als nur in durchzechten Nächten endlose Debatten zu führen, die folgenlos blieben. Als Linksabspaltung der von Isidor Isou angeführten Künstlergruppe der Lettristen, gründete Debord zunächst die Lettristische Internationale, die dann später mit dem »Mouvement pour un Bauhaus imaginiste« und dem »Londoner Komitee für Psychogeographie« von Ralph Rumney zur Situationistischen Internationalen fusionierte. Er gewöhnte sich Bretons Haltung an, demzufolge es Gruppenmitglieder gab, damit man sie ausschließen konn­te. Notwendig jedoch war dieses Vorgehen, um nicht tatsächlich als Künstler ohne Kunstwerk in die Geschichte einzugehen, bzw. vielmehr in ihr zu verschwinden, wie man es ursprünglich eigentlich vorhatte. Debord notiert auf Zetteln immer wieder, wer genau für oder gegen wen oder etwas gestimmt hatte, wer ein einfacher Idiot war, wer ein nützlicher, wer zuverlässig und wer unzuverlässig. Das wirft im nachhinein ein eigentümliches Licht auf ihn, aber diese Haltung muss sich jemand zulegen, der in der Nachwelt Spuren hinterlassen will und der an den Ruhm nach seinem Tod glaubt.

Die Ausstellung ist chronologisch und nach Epochen geordnet und zeigt auch einiges von Debords schmalem künstlerischen Werk, meist übermalte Collagen mit entwendeten Zitaten, die in Kooperation mit Asger Jorn ent­standen wie das berühmte »Fin de Copenhague« oder die »Mémoires«. Jorn war in der Anfangsphase der SI einer der wichtigsten Protagonisten und der Motor der kleinen Künstlergruppierung und dann auch der einzige innerhalb der SI, der nie ausgeschlossen wurde, sondern auch nach seinem Ausscheiden eine Art assoziiertes Mitglied blieb. Als einer der wenigen damals schon bekannten Künstler finanzierte Jorn über den Verkauf seiner Bilder die Zeitschrift der SI.

1962 entwickelte sich auf Betreiben Debords die SI zu einer politischen Organisation, nachdem fast alle Maler und Architekten ausgeschlossen wurden. Debord näherte sich für kurze Zeit der von Castoriadis angeführten Gruppe »Socialisme ou Barbarie« an, er diskutierte mit Henri Lefevre über das Konzept des Alltagslebens und intervenierte mit Flugblättern und öffentlichen Bekanntmachungen auf politische Ereignisse. Die berühmteste Flugschrift war das den Skandal von Straßburg auslösende Traktat »Über das Elend im Studentenmilieu«.

Aber es gibt auch spielerische und weit weniger bekannte Elemente, auf die die Ausstellung aufmerksam macht. So hatte die damalige Frau Debords Michèle Bernstein 1960 einen kleinen Roman »Tous les chevaux du roi« geschrieben, eine moderne, ironische und distanzierte Version von Laclos' »Gefährliche Liebschaften«, in der sie auf fiktionale Art versucht, die situationistische Theorie einzufangen. Es geht um eine Dreiecksbeziehung mit einem subtilen Porträt Debords als jungen Libertin. Geschrieben wurde der kleine Roman angeblich aus Geldgründen, aber auch, um mit dem Literaturbetrieb zu spielen, denn als der Roman ein Erfolg wurde, folgte Bernstein einer Einladung in eine TV-Sendung, und in diesem Gespräch, das in der Ausstellung gezeigt wurde, kann man eine sehr junge und freundlich lächelnde Bernstein sehen, die den Moderator immer wieder auflaufen lässt, indem sie seine Erwartungen an den großen Roman dezent unterläuft, und man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass dieser Auftritt akribisch mit Debord vorbereitet worden war.

In Deutschland ist Debord nur als Theoretiker und als Autor von »Die Gesellschaft des Spektakels« bekannt. Das ist schade, denn erst durch die Vielfalt seiner Aktivitäten wird die Sache interessant und eröffnet sich das ganze Panorama einer Figur, die selbst sorgfältig inszenierte Kunst ist, denn nach der Situationistischen Internationale, die er 1972 mit der Schrift »Die wahren Spaltungen in der Internationalen« auflöste, begann er auch, sich zumindest partiell von der Politszene, in der er die meisten Anhänger hatte, zu verabschieden. Er drehte 1978 mit »In girum imus nocte et consumimur igni« (ein Palindrom »Wir irren des nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verehrt«) eine Art filmisches Vermächtnis und Rückschau auf sein Leben, das damals allerdings noch nicht zu Ende war, denn 1984 wurde sein Mäzen und Verleger, dem er lange Zeit als Berater des Programms von Champ Libre zur Seite stand, in einer Tiefgarage mit mehreren Schüssen in den Hinterkopf ermordet.

Debord widerlegt die in der Presse veröffentlichten Spekulationen um die Ermordung und seine angebliche Rolle darin in einem Buch. Er entwirft mit seiner 2. Frau Alice Becker-Ho »Le Jeu de la guerre«, ein strategisches Kriegsspiel, in dem es beeinflusst von Clausewitz und Sun Tse darauf ankommt, den Gegner vollkommen zu vernichten. Er schreibt mit »Panegyrikus« eine sehr poetische Autobiographie, die von vielen als sein bestes Buch angesehen wird. Sein Werk ist gemessen an anderen Schriftstellern und Künstlern schmal, aber wie Debord einmal notierte: »Das Schreiben muss etwas Seltenes bleiben, da man lange getrunken haben muss, bis einem etwas wirklich Hervorragendes einfällt.«

Debord hat auf sein Nachleben hingearbeitet, indem er jede Beteiligung am »Spektakel«, jedes Mitmachen ablehnte. Er gab niemals ein Interview, trat nie in einer Talkshow auf, unterschrieb keine Offenen Briefe, machte keine Werbung in eigener Sache. Und diese vollkommene Verweigerung brachte ihm die Bewunderung vieler Intellektueller ein, die das genaue Gegenteil von Debord waren, wie z.B. dem intellektuellen Tausendsassa Philippe Sollers, der immer wieder große Elogen auf Debord schrieb. Debord inszenierte sich schon zu Lebzeiten als Mythos, und als er am 30. November 1994 auf Grund einer durch Alkohol hervorgerufenen Polyneuritis mit einem Schuss ins Herz seinem Leben ein Ende bereitete, hatte er vorher noch dafür gesorgt, dass ein Film über ihn, über den er die vollständige Kontrolle hatte, kurz danach im Französischen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

In Paris schießen die Gerüchte um Debord ins Kraut und jeder in diesem Milieu hat eine Geschichte über ihn parat, die Debord als »Fürst der Finsternis«, wie er einmal in einer Zeitung genannt wurde, zeigen, als Drahtzieher im Hintergrund, als Intrigant, der seine Epigonen manipulierte, als jähzornigen und mürrischen Mann, aber auch als großen Kommunikator mit einer faszinierenden Ausstrahlung, und immer wieder als großen Trinker. Debord hat dies nie verheimlicht, sondern dem Trinken ein schönes Kapitel in »Panegyrikus« gewidmet, eine Huldigung des Rausches und der Volltrunkenheit, »ein herrlicher, schrecklicher Frieden, das wahre Genießen der vergehenden Zeit«. Schwer vorzustellen, dass Debord dies alles in Deutschland mehr als Gefängnis und Exil eingebracht hätte. Den Franzosen hingegen muss man das hoch anrechnen, dass sie gleich ein nationales Kulturgut aus ihm machten.

2013

Einige meiner besten Freunde und Feinde

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