Читать книгу Die Siegel von Tench'alin - Klaus D. Biedermann - Страница 6

Kapitel 1

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Zärtlich berührte er im Halbdunkel ihr Gesicht. Er wollte sich vergewissern, dass diese Frau, die neben ihm lag und schlief, nicht das letzte, für immer unvergesslich bleibende Bild eines soeben verblassten, wunderschönen Traumes war. Erleichtert reckte er sich und atmete tief. Er lächelte, denn damit stand für ihn fest, dass auch die letzten erlebnisreichen Tage Wirklichkeit gewesen waren.

Gott sei Dank, dachte er noch. Nikita war aus Fleisch und Blut und sah überirdisch schön aus. Wie aus einer anderen Welt kommend, nicht wahr?, flüsterte es in ihm. Und dann dachte er, dass das ja auch stimmte. Er kannte durchaus intensive, sehr lebendige Träume, aus denen er manchmal schweißgebadet aufwachte und dann quälende Minuten brauchte, um herauszufinden, was von all dem zuvor Durchlebten Realität war.

HEUTE NACHT TRÄUMTE ICH, ICH SEI EIN SCHMETTERLING. UND NUN WEISS ICH NICHT, BIN ICH EIN SCHMETTERLING, DER TRÄUMT, ER SEI CHUANG TSE, ODER BIN ICH CHUANG TSE, DER TRÄUMT, ER SEI EIN SCHMETTERLING.

Dieser, in Großbuchstaben auf goldfarbenem Büttenpapier gedruckte Spruch eines chinesischen Weisen, der angeblich vor mehr als zweitausend Jahren lebte, stand noch in dunklem Holz gerahmt an einer Wand des Schlafzimmers gelehnt. Er würde ihn, so beschloss er in diesem Moment, noch vor allen anderen Bildern, die er in seinem neuen Haus noch aufzuhängen hatte, gleich neben der Tür zum Badezimmer anbringen. Vom Fußboden neben seiner Seite des Bettes hörte er Sams tiefe gleichmäßigen Atemzüge. Der große Wolfshund durfte seit der Rückkehr auch die Nacht in seiner Nähe verbringen, wie er es auf der abenteuerlichen Reise immer getan hatte. Vorher war das Schlafzimmer, genauso wie das Bad, seine Tabuzone gewesen. Nun aber war der von Sendo liebevoll geflochtene Weidenschlafkorb mit dem Lammfell, der im Hauseingang gleich hinter der Tür stand und ein sehr komfortables Hundebett abgab, verwaist.

Auf Effels Nachttisch lag die Alraunenwurzel, die ihm Perchafta geschenkt hatte und die ihrer Form nach beinahe etwas Menschliches hatte. Er wusste, dass diese Pflanze äußerst selten war, und selbst wenn man sie gefunden hatte, war man ihrer noch lange nicht habhaft. Ihr wurden magische und heilende Kräfte zugesprochen und es sollten schon merkwürdige Dinge geschehen sein, wenn man bei ihrer Ernte nicht ganz bestimmte Rituale sehr genau eingehalten hatte. Doch von dem Krull hatte er noch mehr erfahren: Irgendwann würde sie ihm einmal von großem Nutzen sein. Seitdem trug er sie tagsüber immer bei sich und auch nachts bewahrte er sie sorgsam in seiner Nähe auf.

Effel schlug die Bettdecke zurück, stand auf, trat mit drei Schritten an das Fenster und öffnete es leise. Sam erwachte, fand alles in Ordnung, legte seinen Kopf wieder auf eine Vorderpfote, tat einen zufrieden klingenden Seufzer und schlief weiter.

Die Nacht, in der es geregnet hatte, wich allmählich dem Tag. Am Horizont ging die Sonne auf. Ganz sanft erfüllte sie den Himmel in feurigen Tönen. Wolken ritten auf dem kühlen Herbstwind und erste Vogelstimmen waren zu hören. Der nahe Wald, jetzt noch in dunklem Grau, aus dem langsam weißer Nebel stieg, bildete einen starken Kontrast zum Rest des Himmels. Es würde nur noch wenig Zeit verstreichen, bis er im vollen Licht der Sonne seine ganze Farbenpracht zeigen würde.

Der frühe Morgen war seine liebste Tageszeit. Er hatte es sich schon vor Jahren zur Gewohnheit gemacht, noch vor dem Frühstück zusammen mit Sam eine halbe Stunde oder länger durch den Wald zu laufen. Heute tat er das nicht, denn er wollte jeden Moment mit Nikita genießen. Gerade erinnerte er sich daran, was Perchafta während ihrer gemeinsamen Reise an einem Abend gesagt hatte: »Wenn etwas zur Gewohnheit wird, egal was es ist, sei es noch so gesund oder meditativ, kann es schädlich sein. Unterbrich ab und zu den Rhythmus, dann bleibst du wach. Gewohnheiten verleiten zum Schlafen ... und auch von gesunden Dingen kann man abhängig werden.« Dabei hatte er wieder sein verschmitztes Schmunzeln gezeigt.

Das war nicht das einzige Mal, dass er Effel dazu gebracht hatte, eine Überzeugung in Frage zu stellen. Die Begegnung mit Perchafta gehörte, und da war er sich vollkommen sicher, zu den wichtigsten seines Lebens. Bis vor Kurzem hatte er zwar hin und wieder von der Existenz dieser seltsamen Wesen gehört, aber noch nie eines von ihnen gesehen. Ihm war schnell klar gewesen, dass Perchafta damals, am ersten Tag seiner Reise, von ihm erkannt werden wollte. Nachdem der weise Gnom dann sein Begleiter geworden war, hatte Effel auch andere Krulls sehen können und deren warmherzige Gastfreundschaft genossen. Er hatte viele ihrer erstaunlichen Fähigkeiten selbst erfahren. Dass das längst noch nicht alle waren, sollte die Zukunft ihm noch zeigen.

Mindevol, der Dorfälteste, hatte nach seiner Rückkehr mit einem wissenden Augenzwinkern zu ihm gesagt: »Na, mein Lieber, die gemeinsame Zeit mit Perchafta hat dich verändert, nicht wahr? Im Außen war deine Reise zwar kurz, im Innen war sie dagegen um einiges länger ... und tiefer gehend. Die Begegnung mit Nikita hat sicherlich dazu beigetragen, aber das ist eine andere Geschichte.« Die noch längst nicht zu Ende ist und in der du noch eine Menge dazulernen wirst, sagte er ihm nicht.

»Du hast völlig recht, Mindevol. Perchafta ist ein Geschenk. Er verbindet Lernen mit unmittelbaren Erfahrungen, mit tief gehenden und manchmal auch recht heftigen Erfahrungen. Manchmal hatte ich das Gefühl, als wüsste er immer, was passieren wird ... so als ob er die Situationen erschaffen würde. Ich habe mich immer sicher gefühlt ... auch wenn ich während meiner Innenreisen an weit entfernten Orten und in anderen Zeiten gewesen war, habe ich immer gespürt, dass er bei mir ist. Er zeigt eine große Präsenz bei allem, was er tut oder sagt.

Das größte Geschenk aber ist die Begegnung mit Nikita und ich hoffe sehr, dass dieses Erlebnis noch lange andauert. Dass du mich für diese Mission ausgewählt hast, werde ich dir mein Leben lang danken, egal was noch geschieht.«

»Danke nicht mir, danke dir selbst, Effel. Wenn du dich nicht auf alles eingelassen hättest, wäre nichts geschehen. Ich wusste ja, dass du wissbegierig bist ... und mutig«, fügte er lächelnd hinzu, »immerhin kenne ich dich ja schon eine ganze Weile.«

Und du wirst noch sehr viel mehr Mut brauchen, fügte er noch im Stillen an.

Wie schön es hier ist, ging es Effel gerade durch den Kopf. Er hatte von Mindevol gelernt, auch Altbekanntes immer mal wieder mit neuen Augen zu betrachten. Und nach einer kleinen Pause, in der er seinen Blick über Seringat schweifen ließ, dachte er: Ich werde alles dafür tun, dass Flaaland so friedlich bleibt, wie es ist ... sofern es in meiner Macht liegt. Er schaute zu dem breiten Doppelbett hinüber, wo Nikita im Schlaf gerade leise stöhnte, als ihn ein anderer Gedanke anflog. Würde ich in deiner Welt leben können und ... wollen, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe? Würde ich für dich das alles hier aufgeben? Er schüttelte diese Vorstellung so schnell wieder ab wie ein lästiges Insekt. Wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte, könnte er immer noch darüber nachdenken, obwohl er eine leise Ahnung davon hatte, wie er sich entscheiden würde. Aber im Moment zählte nur das Hier und Jetzt.

Unten im Dorf krähte ein Hahn. Zunächst zaghaft und leise, so als wolle er überprüfen, ob seine Stimme noch funktioniert, dann lauter. Unmittelbar darauf antwortete ihm ein zweiter, offenbar noch verschlafen, dann ein dritter. Innerhalb kurzer Zeit war daraus ein Konzert geworden, in das bestimmt jeder Hahn des Dorfes eingestimmt hatte. Und es schien so, als versuchte dabei jeder, alle anderen an Lautstärke zu übertreffen. Manche Stimmen überschlugen sich im Übereifer, worüber Effel innerlich leise lachen musste.

Fast so, wie manchmal auf unseren Versammlungen, dachte er und erinnerte sich an den letzten April, als beraten worden war, wie man auf die Vertragsverletzung der Anderen reagieren sollte. Nach dem überraschenden Besuch von Schtoll, der mitten im Winter nach langer Reise mit eisigem Bart vor Mindevols Haus gestanden hatte, um Verbündete zu suchen, war der Ältestenrat einberufen worden. Bis auf wenige, die krank oder anderweitig verhindert waren, waren alle gekommen und Effel konnte sich noch gut an die stickige Luft im Saal erinnern, den man trotz der winterlichen Kälte gar nicht hätte zu heizen brauchen.

Für Effel hatte damit das größte Abenteuer seines Lebens begonnen und er wurde das Gefühl nicht los, dass es noch lange nicht zu Ende war. Er würde Schtoll gerne bald wiedersehen. Nicht nur, um ihm berichten zu können, was aus seiner Mission geworden war, die er ja ausgelöst hatte. Das würde gleich nach den Beratungen des Rates der Welten auf anderem Wege ohnehin sehr viel schneller geschehen. Nein, er wollte mehr wissen. Er wollte mehr über die Lebensweise und die Kultur dieses so weit entfernt lebenden Volkes aus dem Süden erfahren. Schtoll hatte während seines kurzen Besuchs viel zu wenig davon erzählen können und das, was er erzählt hatte, war in mancher Beziehung so völlig anders gewesen als das, was Effel kannte. So wie er den Fürstensohn einschätzte, würde dieser nicht Däumchen drehen und darauf warten, was andere entschieden, ganz egal, wer das war. Leute wie er nahmen die Dinge selbst in die Hand, das hatte er ja schon bewiesen.

In Seringat waren einige Fenster bereits erleuchtet und aus einem flackerte unruhig rötliches Licht. Soko ist also schon dabei, das Feuer in der Werkstatt anzufachen, dachte Effel. Der Schmied war ebenfalls Frühaufsteher und Effel sah ihn förmlich vor sich, wie er mit nacktem, muskulösem Oberkörper die beiden mächtigen Blasebälge in seiner Werkstatt bediente. Diese lehnte sich mit ihrem weit ausladenden, riedgedeckten Vordach, das zur Wetterseite hin fast bis zum Erdboden reichte, ziemlich windschief an das Wohnhaus aus Backstein an. Dort wohnte Soko mit seiner alten Mutter Susa, die nach einem Treppensturz seit einiger Zeit pflegebedürftig an ihr Bett gefesselt war und um diese Stunde sicher noch schlief.

Agata, die kinderlose Witwe Berthors, der vor zwei Jahren im Hochgebirge bei der Verfolgung einer verletzten Gämse abgestürzt und ums Leben gekommen war, hatte ihre Pflege übernommen und schaute mehrmals am Tag nach ihr. Sie versorgte die alte Frau liebevoll, aber es gab auch Leute die wissen wollten, dass ihr größeres Interesse Soko galt. Weil sie am anderen Ende des Dorfes wohnte, war es für sie manchmal, wie sie es nannte, ein kleiner Spießrutenlauf, wenn ihr aus einem der Gärten oder einer geöffneten Haustür, an der sie vorübergehen musste, zugegebenermaßen öfter als vielleicht nötig, zugerufen wurde: »Na, Agata wie geht es denn Susa heute, ist Soko auch da?« Oder: »Soko ist aber nicht zu Hause!« Selbst wenn dabei gekichert wurde, war dies durchweg freundlich gemeint, denn jeder im Dorf hätte Agata wieder einen Mann gegönnt ... und Kinder. Und wenn sich die junge Frau dann der Schmiede näherte, kam sie sich wie eine Sechzehnjährige vor, in deren Bauch Schmetterlinge ihre ersten Flugübungen vollführten.

Bestimmt hatte Soko heute in der Frühe schon die kranken oder verletzten Tiere versorgt, die er hinter dem Haus in einem geräumigen Stall, in unzähligen Käfigen und kleinen Gehegen beherbergte, denn das war stets seine erste Arbeit des Tages. Scherzhaft hatte er einmal gesagt, dass er nicht genau wüsste, ob er nun Schmied und im Nebenberuf Tierarzt sei oder umgekehrt. Er war bekannt für seine heilenden Hände. Besonders durch die meist erfolgreiche Behandlung von Pferden hatte er sich einen Namen gemacht.

Bei Effels Ankunft in Seringat war er jedenfalls nicht zu Hause gewesen, da er in einem der Nachbardörfer war, um einem Freund beim Beschlagen der Pferde eines großen Gestüts zu helfen. Er würde wohl an einem der nächsten Tage vorbeikommen, vermutete Effel. Jetzt hatte er sicher viel zu tun, wenn er seine unerledigten Aufträge noch fristgerecht fertigstellen wollte. So groß und stark er auch äußerlich war – viele fanden ihn sogar grobschlächtig – so weich war doch sein Herz. Wer ihn nicht näher kannte, hätte in diesem oft lauten und manchmal auch cholerischen Mann, den man besser nicht reizte, niemals eine sanfte Seite vermutet, es sei denn, man hatte ihn schon bei der Behandlung von kranken Tieren erlebt. Wenn er mit seinen großen Händen behutsam die Wirbelsäulen seiner vierbeinigen Patienten abtastete, verschobene Wirbel wieder einrenkte oder Hüftgelenke begradigte, schien er sich in einen Menschen zu verwandeln. Erst im letzten Jahr hatte er Effels Lieblingspferd, das sich bei einem Ausritt vertreten hatte, mit zwei kurzen Handgriffen kuriert.

An Soko hatte Effel sehr deutlich erkannt, dass jede Medaille zwei Seiten hat. Wenn er den fünfzehn Jahre älteren Schmied in ein Nachbardorf zur Arbeit begleitet hatte, was gelegentlich vorkam, hatte dieser ihm in langen Gesprächen auch diesen Teil seiner Persönlichkeit offenbart. Stets hatte er ein offenes Ohr und Effel konnte mit ihm über alles reden. Soko war ein einfühlsamer Zuhörer und wenn er einen Rat gab, so tat er dies immer so, dass es nicht wie ein Ratschlag aussah. Er hatte die Gabe, es für den anderen so aussehen zu lassen, als sei es dessen eigene Idee gewesen. Mit der Zeit waren sie schließlich Freunde geworden.

In diesem Moment sah und hörte Effel seine Vermutung über die Vorgänge in der Schmiede auch schon bestätigt, denn eine dünne Rauchfahne stieg kräuselnd aus dem Kamin des mit dunkelroten Schindeln bedeckten Hauses und zerteilte den inzwischen rosafarbenen frühmorgendlichen Himmel. Soko musste gerade ein Fenster geöffnet haben, denn das Zischen der Blasebälge war jetzt auch hier auf dem Hügel deutlich zu vernehmen. Es hörte sich an, als würden zwei hungrige Riesenschlangen durch das Dorf kriechen, die bereit waren, alles zu verschlingen, was ihnen unvorsichtigerweise oder todesmutig begegnen würde.

Von seinem Fenster aus konnte Effel das ganze Dorf überblicken. Er hatte etwas oberhalb von Seringat nicht weit vom Waldrand gebaut. Das Haus stand auf einem Stück Land mit einer kleinen Quelle, die er eher zufällig während einer Jagd entdeckt hatte, und erst kurz vor seiner Abreise war er dort eingezogen.

Jetzt war er mit der Frau zurückgekehrt, mit der er hier leben wollte, und er hoffte, dass dies auch ihr Wunsch war oder bald werden würde. Saskia, seine Jugendliebe und Freundin, hatte während seiner Abwesenheit viel Arbeit in den Garten gesteckt. Das hatte er bei seiner Rückkehr mit einem Blick gesehen und sofort ein schlechtes Gewissen bekommen, das sich seitdem auch hin und wieder zu Wort gemeldet hatte.

Seit seiner Ankunft in Seringat hatte er sie nur einmal kurz aus der Ferne gesehen und seitdem war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Sogar Mira wusste angeblich nicht, wo sie war.

»Ich weiß auch nicht, wo sie sich verkrochen hat«, hatte sie auf sein Fragen geantwortet. »Es ist wohl besser, sie erst einmal in Ruhe zu lassen. Wenn sie Hilfe braucht oder einfach nur reden will, wird sie zu mir kommen ... da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube, dass sie etwas geahnt hat, denn nach deiner Abreise hat sie etwas von zwei Tauben erwähnt. Sie sagte mir, die Vögel hätten zunächst beisammen gesessen, seien dann aber in getrennten Richtungen davongeflogen. Für Saskia hatte es wohl eine Bedeutung, denn sie hatte Tränen in den Augen, als sie mir davon erzählte.« Mira ahnte zwar, wo die junge Frau sich aufhielt, wollte es aber für sich behalten.

»Mir ging es genauso, Mira, und ich hatte gehofft, sie hätte es nicht gesehen. Aber das war wohl zu optimistisch gedacht, denn sie hat von euch gelernt und ist es gewohnt, solche Zeichen zu deuten.«

Effel fröstelte ein wenig, wie er jetzt so nackt am Fenster stand, und das kam nicht allein von dem kühlen Morgenwind, der in das Zimmer wehte. In den Bergen wird bald schon der erste Schnee fallen, wie wohl der Winter wird?, dachte er. Und dann: Ob Sas nach Haldergrond geht? Ich werde sie suchen und mit ihr reden. Ich möchte ihr alles erklären, das bin ich ihr schuldig. Ich werde ihre Mutter fragen, wo sie ist, dann Ihna und wenn die beiden es mir nicht sagen, werde ich Brigit bitten, mir zu helfen.

Brigit war eine Seherin, die weit über die Grenzen von Seringat hinaus bekannt war und etwas außerhalb des Dorfes alleine mit ihren Katzen in einem kleinen Haus mit wunderbar verwildertem Garten lebte. Von überall her kamen die Leute, um sich bei ihr Rat zu holen. Effel hatte inzwischen durch seinen Bruder von dem Überfall auf Brigit erfahren. Auch dass Vincent, der verwöhnte Erbe von Raitjenland, mit dem Mordanschlag in Verbindung gebracht wurde. Seitdem war Vincent verschwunden – und er würde es auch bleiben, was aber hier noch niemand wusste.

Für den Fall, dass sich Perchafta an diesem Morgen nicht melden würde, um von den Beschlüssen des Rates der Welten zu berichten, was eher unwahrscheinlich war, wollte Effel nach dem Frühstück aufbrechen, um Brigit aufzusuchen. Er fragte sich, ob Nikita wohl mitkommen wollte und wenn, was sie als Wissenschaftlerin der Neuen Welt von einer Frau halten würde, die hellsehen konnte oder aus der Hand las. Er war sehr gespannt.

Die weißen Vorhänge, die Saskia genäht hatte, bauschten sich leicht im Wind. Sie sehen aus wie die Segel unserer Schiffe, mit denen wir aus Frankreich fliehen mussten ... es war verdammt knapp damals, dachte er und fast schien es ihm, als würde er wieder den stark salzigen Geschmack der Meeresbrise auf seiner Zunge schmecken, als sie den Hafen von La Rochelle hinter sich gelassen hatten und Fahrt aufnahmen. Er wollte aber den jetzigen Moment genießen und nicht wieder von einer der so überaus lebendig erlebten Zeitreisen in Bann genommen werden, von denen er mit Perchafta und später auch im Tal mit Nikita einige unternommen hatte.

Er blickte sich um. »Die ganze Welt in einem Raum«, flüsterte er »ich liebe dich so sehr, Leila.« Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass Leila in diesem Leben Nikita hieß. Er hatte keine Gelegenheit, sich weiteren Gedanken zu überlassen, denn plötzlich fühlte er eine feuchte Hundeschnauze an seinem Oberschenkel. Effel beugte sich zu seinem Hund hinunter, streichelte ihn und sagte ganz leise: »Na Alter, hast du gut geschlafen? Wir haben wohl einiges an Schlaf nachzuholen.« Obwohl Mindevol jetzt sicher sagen würde, dass man im Leben nie etwas nachholen kann. Der Hund antwortete mit leisem Grunzen und verhaltenem Schwanzwedeln, gerade so, als wolle auch er Nikita nicht aufwecken.

Nach ihrer Rückkehr aus Angkar-Wat war der Wolfshund der Held des Dorfes gewesen, nachdem Effel von dem Erlebnis mit dem mächtigen Grizzly erzählt hatte. Damals hatte Sam ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Suna hatte daraufhin seinem vierbeinigen Freund zur Belohnung einen mächtigen Knochen aus der Metzgerei ihres Bruders gebracht, mit dem er zwei Tage hingebungsvoll beschäftigt gewesen war, bevor er ihn dann irgendwo im Garten verbuddelt hatte. Dort würde er eines Tages wahrscheinlich von einem Waschbären oder einem anderen hungrigen Waldbewohner gefunden werden.

»Guten Morgen ... bist du schon lange wach?«, fragte Nikita mit belegter Stimme vom Bett her. Sie räusperte sich und stützte ihren Kopf auf einem Arm auf, während sie mit der anderen Hand eine Haarsträhne vor ihren Augen wegwischte. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Mit einem mächtigen Satz war Sam auf dem Bett und begrüßte die Frau, die seit einigen Tagen zu seinem Leben gehörte und bereits sein Hundeherz erobert hatte.

»Hey, nicht so stürmisch, Sam«, lachte Nikita, »lass mich erst einmal richtig aufwachen!« Der Hund legte sich sofort nieder, hielt ihr seinen Kopf hin und ließ sich hinter den Ohren kraulen ... und wenn Hunde verliebt schauen können, schaute er verliebt. Wie macht sie das nur?, dachte Effel, bei ihr wird er zum Schoßhündchen ... na, ja, ist ja auch nur ein Mann ... oder aber sie hat ihn mit Schokolade bestochen, gluckste er in sich hinein.

»Was ist so lustig?«, fragte Nikita, die sein breites Grinsen durchaus bemerkt hatte – dafür hätte sie nicht jahrelang Psychologie studieren müssen.

»Oh, ich dachte nur gerade über Männer und Frauen nach ... genauer gesagt ... über zwei Männer und eine Frau.«

»Und, ... was hast du dabei gedacht, verrätst du es mir?«

»Nein, lieber nicht ... später vielleicht.«

»Da bin ich aber gespannt ... ich werde dich daran erinnern.«

»Da bin ich mir sicher.«

»Effel, es ist wunderschön hier, einfach herrlich.« Nikita räkelte sich. »Die Ruhe und die gute Luft ... ich habe geschlafen wie in Abrahams Schoß. Ich fühle mich so wohl in deinem Haus ... aber diese Nacht hatte ich einen sehr merkwürdigen Traum«, und jetzt erschienen zwei Längsfalten in der Mitte ihrer Stirn, »ich erinnere allerdings nur noch Bruchstücke. Irgendetwas von meinem Vater habe ich geträumt ... er wurde verfolgt ... von einem Mann mit einem merkwürdigen großen Hut ... wo immer mein Vater hinging, er folgte ihm wie ein Schatten ... richtig unheimlich ... mir stellen sich alle Haare auf, wenn ich jetzt davon erzähle ... dann war wieder alles dunkel ... dann tauchte plötzlich Jimmy, der Sohn unserer Haushälterin, auf ... und wieder war alles wie im Nebel ... Als Nächstes sah ich eine dunkelhaarige, wunderschöne Frau, deren Augen hin und wieder rot leuchteten. Sie stand in einer großen Muschel ... und sie hielt eine Rede in einem großen Saal, der mit wunderschönen Bildern bemalt war, und viele merkwürdige Wesen hörten ihr zu. Es waren jedenfalls keine Menschen ...«, Nikita seufzte. »Ich glaube, ich muss das Träumen wieder lernen. Mit unseren Pillen, die wir nehmen, schlafen wir zwar sehr tief, aber sie verhindern Träume. Ich kann mich nicht erinnern, je mehr als vier Stunden am Stück geschlafen zu haben. Aber das ist bei uns ganz normal. Bisher fand ich das vorteilhaft, weil man dadurch Zeit für all die anderen Dinge hat.«

»Ich hoffe, von dem Teil, den du über deinen Vater geträumt hast, wird nichts wahr. Es wäre ja schlimm, wenn ihm etwas geschehen würde ... aber wie du erzählt hast, wird er ja gut beschützt. Der Rest deines Traumes hat bestimmt vom Rat der Welten gehandelt ... darauf möchte ich fast wetten ... Sam, komm jetzt runter vom Bett!«, sagte Effel dann so streng, wie ihm dies gerade möglich war, denn innerlich amüsierte er sich immer noch über das Verhalten seines Hundes. Der schien das gespürt zu haben, denn er bequemte sich nur sehr langsam und widerwillig vom Bett herunter, wo es doch gerade so gemütlich war und, wer konnte das schon wissen, vielleicht später noch eine schöne Balgerei hätte geben können. Er warf Effel einen schrägen Blick zu, so als wolle er sagen: Nie gönnst du mir etwas, was natürlich nicht stimmte, aber zeigte, dass Hunde wirklich nur im Hier und Jetzt leben.

»Jetzt tu nicht so beleidigt, Alter«, lachte Effel, »wir toben schon noch mit dir ... später, draußen im Garten.« Dann setzte er sich zu Nikita, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss.

»Du kennst Abraham?«, grinste er. »Sag bloß, ihr lest die Bibel.« Fast hätte er sie wieder bei ihrem früheren Namen genannt, weil dieser ihm immer noch vertrauter war. »Haben wir dich aufgeweckt?«

»Nein, Fran ..., Effel«, korrigierte sie sich gleich, » ... es ist gar nicht so einfach, sich an die jetzigen Namen zu gewöhnen, nicht wahr? Nein, ihr habt mich nicht aufgeweckt, es waren wohl die Hähne. Und außerdem, mein Lieber, die Bibel habe ich gelesen. In unseren Philosophiekursen an der Uni nehmen wir alle alten Religionen durch«, lächelte sie augenzwinkernd und streichelte sein Gesicht. »Du hast ein wunderschönes Haus. Du bist reich, Effel. In meiner Heimat muss man dafür in einer solchen Lage ein Vermögen bezahlen ... wenn man es überhaupt noch bekommen kann.«

»Wirklich reich fühle ich mich erst jetzt, Nikita, weil wir uns gefunden haben ... nach so langer Zeit. Diesen Platz hier habe ich eigentlich Sam zu verdanken. Ich war auf der Jagd und er hetzte einen waidwunden Eber. Ich folgte den beiden durch ein dichtes Gestrüpp ... und als ich dann wieder im Freien stand, entdeckte ich diesen mächtigen, seltsam geformten Felsen, der nahezu senkrecht aus dem Erdboden ragte ... seltsam deshalb, weil er aussah, als sei er irgendwann einmal bearbeitet worden ... und gleich daneben sprudelte eine Quelle.

Es war viel Arbeit, alles freizulegen. Der Stein ist heute Teil der Wand, an die ich den unteren Kamin gebaut habe, und die Quelle versorgt das Haus mit Wasser ... mit dem Wasser, das dir so gut schmeckt. Fast alles andere, was du hier siehst, ist aus der Werkstatt meines Bruders. Mein Vater und viele Freunde haben beim Hausbau geholfen. Im Garten ist allerdings noch Arbeit, denn jetzt ist Pflanzzeit ... obwohl Saskia schon viel getan hat.

Sie hat wirklich einen grünen Daumen. Auch im Keller sollte ich bald für Ordnung sorgen, einige Kisten sind noch immer nicht ausgepackt. Ich werde mich wohl in den nächsten Tagen an die Arbeit machen müssen.«

Während er das sagte, stand er auf und ging wieder zum Fenster.

»Im Garten helfe ich dir gerne«, sagte Nikita hinter ihm, »ich wollte schon immer mal in der Erde wühlen ... ich meine, außerhalb eines Golfplatzes«, kicherte sie. »Ich freue mich jedenfalls darauf.« Sie bemerkte gerade, dass sie ihren Lieblingssport, dem sie zu Hause in jeder freien Minute begeistert nachgegangen war, überhaupt nicht vermisste.

Sie war erleichtert gewesen, dass Saskia hier noch nicht gewohnt hatte, denn sie hätte sich schlecht dabei gefühlt, wenn Effels Freundin wegen ihr hätte ausziehen müssen.

»Was denkst du, wie lange der Rat der Welten für seine Entscheidung brauchen wird? Werde ich die Pläne bekommen?« Nikita setzte sich im Bett auf, sie hatte sich inzwischen das Kopfkissen hinter den Rücken gestopft und schaute ernst aus ihren blauen Augen. Ihr war durchaus bewusst, welche Gedanken sie bei Effel mit ihrer Frage anstoßen würde. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, was geschehen würde, wenn sie die Pläne wirklich erhielte. In Angkar-Wat hatten sie vereinbart, immer den jeweiligen Moment zu leben und auszukosten. Beiden war durchaus bewusst, dass die Zukunft Entscheidungen von ihnen verlangen würde.

»Ich weiß es nicht, Perchafta hat sich dazu nicht geäußert. Er hat aber gesagt, wir seien die Ersten, die etwas erfahren werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr allzu lange brauchen werden. Sie müssten jetzt gerade zusammen sein. Ich wäre dort nur allzu gerne Mäuschen. Alleine die Vorstellung, dass dort mehr als zweitausend Teilnehmer zusammenkommen ... da wird es für die Krulls eine Menge Arbeit geben.«

»Ich wäre auch gerne dabei«, gab Nikita zur Antwort. »Ich habe dem Professor versprochen, mich heute zu melden. Er ist sicherlich ungeduldig. Wie ich ihn kenne, übernachtet er seit Tagen im Büro.«

»Was wird der Professor sagen, wenn er erfährt, dass du die Pläne gefunden hast?«, fragte Effel.

»Was er sagen wird? Er wird vollkommen aus dem Häuschen sein und alles daransetzen, dass sie möglichst schnell in seine Hände gelangen. Dabei wird er mir jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen wollen ... wenn er wüsste, wie es hier ist ... ob er sich das vorstellen kann?«, Nikita lächelte. »Ich glaube nicht, dazu denkt er viel zu rational und wissenschaftlich. Das Myon-Neutrino-Projekt ist für unsere Firma außerordentlich wichtig, deswegen werden sie ihm auch alle Mittel zur Verfügung stellen. Mithilfe der Pläne könnten wir wahrscheinlich Maschinen bauen, mit denen wir die Energieprobleme unserer Welt endgültig lösen würden. BOSST würde damit eine Menge Geld verdienen. Davon ganz abgesehen brächte es dem alten Professor Rhin großen wissenschaftlichen Ruhm ein – na ja, und mir natürlich auch«, fügte sie leiser hinzu und Effel glaubte, so etwas wie Sehnsucht aus ihrer Stimme herauszuhören.

»Haben sie bei euch denn keine Angst vor den Konsequenzen ihres ... Vertragsbruches?«, erwiderte er und war inzwischen zu einem Stuhl gegangen, um sich Hose und Hemd überzuziehen, die er in der letzten Nacht dorthin geworfen hatte; ein Hosenbein war auf links gedreht. »Schließlich handelt es sich nicht um eine Bagatelle.«

»Ich glaube, Mal Fisher, mein oberster Boss, hat vor gar nichts Angst«, meinte Nikita trocken. »Wir werden sehen, was der Rat der Welten beschließt, und dann können wir immer noch darüber nachdenken ... Was wohl gerade in unserem Tal geschieht?«

Nikita und Effel hatten in Angkar-Wat die großartige Gastfreundschaft der Krulls genossen. Diese hatten dem Paar ein Zelt aufgebaut, das mit seinen weichen Teppichen ein ideales Liebesnest gewesen war. Sie hatten sich um nichts kümmern müssen, denn auch für ihr leibliches Wohl war bestens gesorgt worden. Wenn sie nicht ineinander verschlungen waren oder sich aus ihrem Leben erzählt hatten, hatten sie die Reste der stark verfallenen Burganlage Gisor erkundet. Hier hatte vor so langer Zeit ihre verschworene Gemeinschaft eine neue Heimat gefunden.

Sam hatte die Gelegenheit zu kleinen Jagdausflügen genutzt und hin und wieder war aus der Ferne sein aufgeregtes Bellen zu hören gewesen, wenn er wieder etwas Interessantes aufgestöbert hatte. Die Krulls hatten auch ihn verwöhnt, denn er schlief nachts zufrieden unter einem kleinen Busch vor dem Zelt, so als hätte er die Liebenden nicht stören wollen.

Während ihrer gemeinsamen Streifzüge durch das Tal waren ihnen immer wieder alte Erinnerungen gekommen. Sie hatten sich dann unter einen Baum gesetzt, die Augen geschlossen und waren gemeinsam in ihre Vergangenheit eingetaucht.

Mal waren vor Effels geistigem Auge Szenen des früheren Lebens entstanden, ein anderes Mal hatte Nikita einfach zu erzählen begonnen. Die Worte waren dann regelrecht aus ihr herausgesprudelt. Oft hatten sie vor der Ruine ihres einstigen gemeinsamen Hauses gestanden und geweint. Ab und zu hatte ihnen Perchafta Gesellschaft geleistet, soweit es ihm seine Zeit erlaubt hatte, denn die Krulls waren mit den Vorbereitungen für das Treffen des Rates der Welten beschäftigt gewesen.

Die Gespräche mit ihm waren stets von Weisheit und Humor geprägt. Einmal hatte er sie in die Eingangshalle der Höhlen von Tench´alin mitgenommen, in der er die beiden einige Tage zuvor erwartet hatte, nachdem Nikita die Pläne gefunden hatte.

»Weiter darf ich euch nicht hineinlassen«, hatte er gesagt. »Schon dass ihr bis hierher gekommen seid, ist ein besonderes Privileg. Keines Menschen Fuß hat diese Hallen je betreten.«

»Befinden sich die Siegel in der Nähe?«, hatte Nikita ganz unschuldig gefragt.

Perchafta hatte sie aus großen Augen überrascht angeschaut: »Woher weißt du von den Siegeln, Nikita?«

»Keine Ahnung, ich weiß es nicht, Perchafta, die Frage kam von irgendwo tief aus meinem Inneren – ich musste sie einfach stellen. Ich dachte an euer Buch Balgamon und die geheimen Schriftzeichen, an den Code mit dem man sie entschlüsseln kann und diesen Rat der Weisen ... von all dem hast du uns erzählt ... vor ein paar Tagen im Höhleneingang.«

Perchafta hatte sich schnell gefasst und war fast wieder die Ruhe selbst. »Lass uns von etwas anderem reden«, hatte er dann gesagt. »Ihr dürft niemandem, wirklich niemandem den Zugang zu diesem Tal verraten, hört ihr? Ich könnte euch dann nicht mehr schützen. Ich könnte niemanden schützen, der sich Zugang zu den Höhlen verschaffen wollte ... und wenn dadurch die Siegel erwachen würden ... da endet meine Macht«, Perchaftas Stimme war jetzt leise, aber umso eindringlicher. »Versprecht mir das!«

»Wir versprechen es«, hatten beide wie aus einem Munde geantwortet und Effel hatte gefragt: »Was sollen wir denn den Leuten sagen? Jeder wird den Weg hierher wissen wollen. Sie werden fragen, wie und wo wir uns getroffen haben. Ich muss dem Ältestenrat Bericht erstatten. Sie haben mich ausgesandt, unseren Feind aufzuhalten«, dabei deutete er lächelnd auf Nikita. »Ich kann und will weder Mindevol noch den Ältestenrat belügen ... Mindevol würde es sowieso gleich bemerken.«

»Niemand«, hatte Perchafta wieder ernst das Wort ergriffen, »niemand darf je erfahren, wo der Eingang zu diesem Tal und den Höhlen ist. Alles andere dürft ihr erzählen.«

Die Art, wie Perchafta das sagte, ließ die beiden nach ihrem Versprechen gleich das Thema wechseln und sie hatten den Eindruck, als wenn der kleine Krull an diesem Tag nicht mehr zu seiner gewohnten Lockerheit zurückfand.

An anderen Abenden hatten sie dann, meist Hand in Hand, vor dem Zelt gesessen, einen schweren, süßen Wein aus großen kristallenen Gläsern genossen und den Zikaden und dem Nachtvogel gelauscht, der klagend seine eintönigen Weisen durch das Tal schickte. Sie waren stets von den Emurks bewacht worden, die auf Bitten der Krulls unsichtbar geblieben waren und nebenbei mit ihrer eigenen Abreise und dem bevorstehenden Fest ihre Arbeit gehabt hatten.

Am dritten Tag ihres Aufenthaltes in Angkar-Wat hatten sie bei einem ihrer kleinen Ausflüge ein Seitental entdeckt, das ihnen bisher nicht aufgefallen war. Sam, der wie immer vorausgelaufen war, war auf einmal verschwunden gewesen und man hörte nur noch sein Bellen, das er immer dann hören ließ, wenn er etwas gefunden hatte. Effel war losgerannt und als Erster bei ihm gewesen. Dort war er wie angewurzelt stehen geblieben. Wenig später hatte Nikita neben ihm gestanden und war nicht weniger über das erstaunt, was sich ihren Blicken bot. Effel hatte nur fassungslos seinen rechten Arm ausgestreckt und auf das große Segelschiff gedeutet.

»Kneif mich, ich glaube, ich träume.« Er hatte sich die Augen gerieben, aber das Bild war geblieben. Nikita hatte mit großen Augen auf die Brigg geschaut, die mit drei leicht im lauen Wind flatternden, trapezförmigen, strahlend weißen Rahsegeln an beiden Masten und einem zusätzlichen rot-weiß gestreiften Briggsegel am Hauptmast auf mächtigen hölzernen Pfosten stand. So konnte weder Kiel noch Schwert durch die Last beschädigt werden. Sie hatte schnell das Schiff auf gut neunzig Fuß Länge und dreißig Fuß Breite geschätzt.

Über dem Oberbramsegel hatte eine hellblaue Fahne am Ende des sicherlich hundertzwanzig Fuß hohen Großmastes geflattert. Auf ihr waren drei fliegende Albatrosse abgebildet gewesen, ein roter, ein schwarzer und ein grüner. Knapp darunter hatte sich der Bootsmannstuhl leise knarrend träge im Wind gedreht. Der große Anker hatte auf dem Boden gelegen und die eiserne Ankerkette hatte matt in der Sonne geglänzt. Die Schäkel waren vorbildlich poliert gewesen und ihr Anblick hätte sicher dem strengsten Kapitän Freude bereitet. Fender aus Kork hatten über der Reling gehangen und die Fenderleinen waren locker darüber geworfen. Nikita hatte von unten durch die Klüsenöffnungen sogar zwei Poller aus Messing erkennen können.

Das Paar hatte langsam das Schiff umkreist, um es von allen Seiten betrachten zu können, und war sich neben der Brigg ziemlich klein vorgekommen. An beiden Bordseiten, auf denen in goldenen Lettern der Name ›Wandoo Ii‹ zu lesen war, hatten jeweils drei große Rettungsboote gehangen, deren Dollen ebenfalls matt schimmerten. Die Gangway war heruntergelassen, zwei dicke Taue hatten als Handläufe gedient. Aber es war nirgends eine Menschenseele zu sehen gewesen, die an Bord hätte gehen können. Den geschwungenen Steven hatte eine kunstvoll geschnitzte und bemalte Galionsfigur geziert. Sie hatte einen aus dem Wasser springenden Merlin dargestellt, der von einem fremdartigen Wesen harpuniert wurde.

»Schau«, hatte Nikita gesagt und dabei auf die Figur gedeutet, »ein Mensch ist das jedenfalls nicht.«

»Nein, dann müsste sich der Künstler schon sehr viele Freiheiten genommen haben«, hatte Effel geantwortet, »was ich aber nicht glaube, denn der Schwertfisch ist sehr naturgetreu nachgebildet.«

»Was glaubst du, was das ist? Eine Sagengestalt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht treffen wir ja den Künstler hier irgendwo, dann können wir ihn fragen. Ich bin mir sicher, dass es Perchafta weiß.« Sie waren langsam weitergegangen.

Die gesamte Reling hatte ebenfalls von der Kunst der Holzschnitzer gezeugt, die hier am Werk gewesen sein mussten. Das mächtige eichene Ruderblatt war an seinen Rändern mit Metall beschlagen gewesen. Das ganze Schiff war auf Hochglanz gewienert und hätte an einem geeigneteren Ort sicher sofort in See stechen können. Gerade hatte der Wind ein wenig kräftiger geblasen und sofort hatten sich Brigg- und Rahsegel für einen Moment leicht aufgebläht. Die Fenderleinen waren langsam hin- und hergeschwungen und irgendwo an Deck hatte eine Glocke leise angeschlagen.

»Die Schiffsglocke«, hatte Effel geflüstert.

»Ja, der Wind muss sie bewegt haben«, hatte Nikita zurückgeflüstert, »denn ich sehe niemanden an Bord.«

»Ich glaube nicht, dass wir flüstern müssen«, hatte Effel grinsend gesagt, »denn wenn jemand hier wäre, hätte er uns längst entdeckt.«

Ein lautes, knarrendes Geräusch war plötzlich an ihre Ohren gedrungen, die Segel hatten sich in einem Windstoß gebläht und man hätte fast meinen können, das Schiff wolle sich aus seinem hölzernen Gerüst befreien. Aber es war offensichtlich gut befestigt gewesen.

»Ein Geisterschiff«, hatte Nikita gesagt, es aber nicht wirklich ernst gemeint. Sie hatte Effel zugezwinkert, auf dessen Gesicht sofort ein noch breiteres Grinsen erschienen war.

»Ja, gewiss, und wenn der Wind noch zunimmt, wird es einfach lossegeln«, hatte er ergänzt, »und schau ... gleich daneben ist das Geisterhaus.«

Ein niedriges, sicherlich fünfzig Fuß langes und dreißig Fuß breites Gebäude, halb aus Stein, halb aus Holz, hatte in einer Entfernung von vielleicht siebzig Schritten vor der Felswand gestanden. Zwischen dem Haus und dem Schiff hatte sich eine ebene, gepflegte Rasenfläche befunden, die so gar nicht zum Rest des wilden Tals passen wollte. Es musste viel Arbeit gewesen sein, diese Fläche so perfekt einzuebnen.

Von dem mit Holzschindeln gedeckten Dach des Hauses herab hatte die Fahne mit den Albatrossen geweht. Nur eines der vier mit schweren Holzläden gesicherten Fenster an der Vorderfront des Gebäudes war geöffnet gewesen. Jeder Holzladen war mit einem geschnitzten Anker verziert. Wenn sich jemand im Inneren des Hauses aufgehalten hatte, so war er wohl nicht erpicht darauf gewesen, die Bekanntschaft des Paares zu machen. Es war auch hier niemand zu sehen gewesen. Die einzigen Geräusche waren vom Schiff hergekommen, wenn die Segel sich an der übrigen Takelage rieben.

»Hallo?«, hatte Nikita in Richtung des Hauses gerufen. Das leise Schließen des offenen Fensters – und das war nicht der Wind – war die Antwort gewesen. Der Holzladen war von innen verriegelt worden. Sam hatte leise geknurrt.

»Das war deutlich«, hatte Effel gemeint.

»Vielleicht ist nicht aufgeräumt«, hatte Nikita gescherzt, »aber seltsam, seltsam. Wir scheinen hier nicht erwünscht zu sein.« Dann, mit dem Kopf in Richtung des Schiffes deutend, hatte sie stirnrunzelnd ergänzt: »Meinst du nicht, dass es selbst für ein Trockendock ein wenig weit weg vom Meer ist? Verstehst du den Sinn des Ganzen? Irgendwie ähnelt es dem Schiff, auf dem wir damals fliehen mussten. Unseres hatte aber drei Masten und es war irgendwie ... breiter«, hatte sie nach einer kleinen Pause hinzugefügt.

»Ja«, hatte Effel genickt und Nikitas Hand genommen, »das habe ich auch gesehen, aber findest du das hier nicht einfach alles sehr merkwürdig? Wer mag wohl dort in dem Haus sein?«

»Das ist in der Tat merkwürdig«, war eine vertraute Stimme hinter ihnen zu hören gewesen und sie hätten sich nicht umdrehen müssen, um zu wissen, dass es Perchaftas war. Er hatte neben Effel gestanden und auf das Schiff gedeutet.

»Das haben die Emurks gebaut, bald nach ihrer Ankunft in Angkar-Wat vor mehr als dreihundert Jahren. Und es ist ihr ganzer Stolz. Sie haben immer daran geglaubt, eines Tages wieder in ihre Heimat zurück kehren zu können. Hier in der Schule für Nautik haben sie ihre Nachkommen mit der Seefahrt vertraut gemacht. Hinter der nächsten Biegung haben sie ihre Hütten gebaut, sicherlich tausend Fuß lang an beiden Seiten des Tales. Bitte geht dort nicht hin, sie würden das sicherlich als aufdringlich empfinden und ich glaube, sie würden sich wegen der schäbigen Bauweise schämen. Sie sind ein stolzes Volk und haben das Tal stets nur als vorübergehende Bleibe betrachtet.«

Sowohl Effel als auch Nikita wussten, wer die Emurks waren, wenn sie auch selber noch nie einen zu Gesicht bekommen hatten.

»Nachdem klar war, dass ihre Verbannung ein Ende gefunden hatte – du weißt warum, Nikita«, hatte der Krull gelächelt und die Frau freundschaftlich in die Seite geknufft, »dachte ich eigentlich, sie hätten nichts Besseres zu tun, als ihre Sachen zu packen. Ich wähnte sie schon weit weg, als sie mir berichteten, sie wollten sich gebührend von uns und dem Tal verabschieden. Wie geprügelte Hunde seien sie hier angekommen, meinten sie, und mit Pauken und Trompeten würden sie uns verlassen. Sie werden ein großes Fest feiern und haben alle Krulls eingeladen. Es wird etwas dauern, bis meine große Familie hier eingetroffen ist, und ich glaube, wir werden über die Mengen an Essen staunen. Die Getränke werden wir beisteuern, das haben wir ihnen versprochen. Ihr solltet sehen, was ein Emurk verdrücken kann – über das Wie kann man sich sicherlich streiten «, hatte er amüsiert hinzugefügt.

»Aber wo sind sie?«, hatten die beiden wie aus einem Munde gefragt.

»Ich zog es vor«, hatte Perchafta geantwortet, »sie darum zu bitten, diskret im Hintergrund zu bleiben.«

»Wir können sie uns jetzt ungefähr vorstellen«, hatte Effel gemeint und auf die Galionsfigur geschaut, »nicht wahr Leila, eh, Nikita. Ich werde wohl etwas Zeit brauchen, um mich an deinen neuen Namen zu gewöhnen.« Nikita hatte nur kurz zustimmend nicken können, weil Perchafta wieder das Wort ergriffen hatte.

»Ihr Schulschiff, die Brigg, die ihr hier seht, haben sie in nur drei Monaten gebaut, ihre besten Schiffsbauer hatten sich mächtig ins Zeug gelegt. Sie mussten zunächst das Holz weit unten im Tal schlagen und dann die ganze Strecke bis hier nach oben transportieren. Eine gewaltige Kraftanstrengung, selbst für Emurks. Und was ihr hier seht«, der Krull hatte auf das Gebäude gedeutet, »war ihre Schule für Nautik. Allerdings hat niemand – weder die Lehrer noch die Schüler – je das Meer gesehen, na ja, außer Vonzel vielleicht, als er bei dir in deiner Welt war, Nikita.

Der Kapitän, der das Volk hergeführt hatte, ist bald nach der Ankunft gestorben. Sein Grab befindet sich etwas weiter oberhalb den Berg hinauf, damit sein Geist immer das Schiff sehen kann. Mit der Zeit sind dann auch alle anderen gestorben, die mit ihm zusammen an der Küste Flaalands gelandet waren. Sie hatten unterwegs hohe Verluste gehabt, aber das ist eine andere Geschichte. Ich wünsche ihnen jedenfalls, dass sie genügend über die Seefahrt gelernt haben und wohlbehalten ihre alte Heimat erreichen. Das Meer ist ja doch noch mal etwas anderes als die Trockenübungen hier oben. Wir werden sie jedenfalls nach besten Kräften unterstützen und gegebenenfalls unsere Beziehungen spielen lassen«, hatte der Krull seine Ausführungen mit einem Augenzwinkern beendet.

Dies war ihr letzter Tag in Angkar-Wat gewesen. Früh am nächsten Morgen hatten sie ihre Heimreise angetreten. Allerdings hatten da beide noch nicht gewusst, dass sie sich nicht an den Zugang zu diesem Tal würden erinnern können. Perchafta war auf Nummer sicher gegangen.

Nikita schaute Effel zu, wie er sich anzog, und fuhr fort: »Fisher wird sagen, dass nichts ewig ist. Ich sehe ihn geradezu vor mir mit ... wie komisch ... einem süffisanten Lächeln. In der Regel ist er freundlich, ja verbindlich. Er lebt für die Firma. Von seinem Privatleben ist nichts bekannt, weder ob er verheiratet ist, noch ob er Kinder hat. Manche Kollegen behaupten sogar, er wohnt auch dort unten in seinem unterirdischen Reich. Eigene Interessen und die der Firma scheinen dasselbe zu sein. Jedenfalls schert er sich in diesem Fall nicht um irgendwelche Verträge, da bin ich mir sicher. Mal Fisher ist der geheimnisvollste Mann des gesamten Konzerns, manchmal ist er mir ein wenig unheimlich. Er scheint seine Augen und Ohren überall zu haben, jedenfalls ist er immer bestens informiert. Kannst du dir vorstellen, dass sein Büro zweihundert Fuß tief unter der Erde liegt?«

Was Nikita nicht wissen konnte, war, dass sie genau in diesem Moment und an dem von ihr beschriebenen Ort, Mittelpunkt eines Gesprächs von Mal Fisher war.

»Das fällt mir schwer ... so wie vieles, was du von ... der Neuen Welt erzählst liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft.« Beinahe wäre ihm ›von deiner Welt‹ herausgerutscht. Er wollte das aber vermeiden, denn sein tiefer Wunsch war es, dass sie bei ihm bliebe und irgendwann seine Welt als die ihre empfinden würde.

»Warum jemand sein Büro oder seine Wohnung unter der Erde haben sollte, ist mir wirklich ein Rätsel. Ist es wirklich so schlimm da drüben?«, meinte Effel mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung Westen. »Du hast mir neulich noch erzählt, wie du in den Ferien mit deinem Vater am See auf die Jagd gegangen bist ... und auch alles andere, was du von der Neuen Welt erzählst, hört sich nicht so an, als wenn es nur grässlich wäre.« Wenn man mal von dem ganzen Roboterzeug und euren Hochhäusern absieht ... von diesem Chip einmal ganz zu schweigen, fügte er im Stillen hinzu. Effel hatte sich inzwischen auf die Bettkante gesetzt und kraulte Sam, der jetzt mit dem Kopf auf seinem Schoß neben ihm saß, den Nacken.

»Ja, bei uns ist es schön«, sie sagte ›uns‹, »und es gibt auch noch Gegenden, die diese Bezeichnung sogar im Vergleich zu dem, was ich hier bis jetzt gesehen habe, verdienen. Sonst ist es wirklich völlig anders ... aber grässlich ist es sicher nicht. Man kann es überhaupt nicht vergleichen. Man sollte nie etwas vergleichen, meinst du nicht auch? Wenn man vergleicht, ist man nicht bei dem, was gerade ist. Nein ...«, sie wurde von Effels Lachen unterbrochen.

»Warum lachst du? Was ist daran so lustig?«

»Weil dein Satz über das Vergleichen von Mindevol stammen könnte, fast genauso hat er ihn zu mir auch gesagt ... und nicht nur einmal. ›Wer vergleicht kann nur verlieren‹, meint er.«

»Ein kluger Mann, dieser Mindevol«, schmunzelte Nikita und fuhr fort: »Aus Angst haben sie wichtige Gebäudeteile in die Tiefe der Erde verlegt, Effel, fast alle Firmen. Sie haben Angst, es könnten wieder Flugzeuge in ihre Hochhäuser stürzen, wie schon einmal, vor langer Zeit. Diese Angst ist wohl immer noch in ihren Köpfen, obwohl solch ein Anschlag heute nicht mehr möglich wäre.«

»Aber wenn sie glauben, unter der Erde wären sie sicher, haben sie sich gewaltig getäuscht. Es soll Wesen geben, die durch nichts und niemanden aufzuhalten sind, Nikita, und ich wünsche uns nicht, solche Geschöpfe zum Feind zu haben. Frag´ Mindevol oder Perchafta, die können dir sicher Genaueres sagen.«

»Ich glaube, das will ich gar nicht wissen. Außerdem habe ich schon zwei kennengelernt, nämlich Perchafta und auf meiner Herfahrt Andaro. – Warum, meinst du, hat Perchafta so ... so seltsam reagiert, als ich ihn nach den Siegeln fragte? Ich hab´ mir schon den Kopf zerbrochen, was ich mit meiner Frage da wohl losgetreten haben könnte. Er war ja fast ... erstarrt.«

»Ja, so habe ich ihn noch nicht erlebt, da hast du an etwas gerührt ... mmh, wie soll ich sagen ... na ich weiß nicht, jedenfalls ist dieses Myon-Projekt wohl ein kleiner Fisch dagegen. Er hat mir gegenüber auch nur Andeutungen gemacht. Die Siegel sind wohl auch nicht das, um was es wirklich geht, sondern es geht vielmehr um das, was die Siegel verschließen ... oder in diesem Fall ›bewachen‹. Das ist das eigentliche Geheimnis. Dazu hat Perchafta sich nie näher geäußert, außer dass es sich bei den Siegeln um etwas sehr Mächtiges handelt, an dem man angeblich nicht vorbeikommt und was dich das Leben kostet. Wie bist du überhaupt auf die Frage gekommen?«

»Ich weiß es nicht, sie tauchte ganz plötzlich auf, wie aus ... den Tiefen irgendeiner Erinnerung. Komm, lass uns über etwas anderes reden – oder besser noch irgendwas unternehmen ... vielleicht fällt mir dann noch etwas dazu ein. Zeig´ mir mehr von deiner Heimat, Effel, ich will alles sehen. Mit jedem Stück lerne ich auch dich besser kennen. Sind wir heute Abend nicht bei deinen Eltern eingeladen? Ich bin gespannt, was es zu Essen gibt ... mein Gott, ich bin total verfressen, seit ich hier bin«, kicherte sie. Nikita sprang dann, so wie Gott sie erschaffen hatte, unternehmungslustig aus dem Bett und lief in das nebenan liegende Badezimmer. Während sie dort die Dusche aufdrehte, rief sie durch das Rauschen des Wassers: »Das alles hier müssten meine Eltern sehen, die würden staunen ... ich glaube, es würde ihnen gefallen. In jedem Fall werde ich mich gleich nach dem Duschen mit dem Professor in Verbindung setzen und ihn bitten, mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen, damit sie wissen, dass es mir gut geht.«

»Dann werde ich mich inzwischen um unser Frühstück kümmern«, rief Effel, »oder soll ich unter die Dusche kommen?«

»Wenn du dich traust«, lachte sie.

»Nikita wie geht es Ihnen?«, rief ein aufgeregter Professor Rhin einige Zeit später. »Ist alles in Ordnung dort drüben? Sie haben sich lange nicht gemeldet. Warum tragen Sie die Brille nicht ständig? Ich hatte Sie darum ... gebeten ... es ist für unsere Operation wichtig. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

Nikita hatte sich mit ihrer MFB auf die Fensterbank im Schlafzimmer gesetzt und dann hatte es nicht lange gedauert, bis die Verbindung aufgebaut war und sie ihren Chef hören konnte. Dass er statt ›gebeten‹ eigentlich ›befohlen‹ hatte sagen wollen, war ihr nicht entgangen und sie stellte fest, dass sie sich vor gar nicht langer Zeit noch darüber geärgert hätte. Heute reagierte sie darauf mit einem Lächeln.

»Ja, Herr Professor, bei mir ist alles in Ordnung, es ist so viel passiert, das werde ich Ihnen alles berichten, wenn ich zurück bin ... Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Alles erzähle ich sicher nicht, dachte sie noch.

»Na, Sie haben Nerven, Nikita. Haben Sie sich zurechtgefunden? Hatten Sie ... ›Kontakt‹? Hatten Sie Schwierigkeiten? Brauchen Sie etwas?« Dann machte er eine kleine Pause. »Wo sind Sie da, Nikita, ist das ein ... Hotelzimmer?« Sein Erstaunen war dem Professor anzuhören.

»Nein, das ist kein Hotelzimmer, Herr Professor, aber das erzähle ich Ihnen auch später«, Nikita musste schmunzeln, ihr Chef überschlug sich ja fast am anderen Ende der Welt. »Obwohl das zu den für Sie eher unwichtigen Details gehören dürfte«, fuhr sie fort, dann: »Herr Professor, stellen Sie sich vor, ich habe gefunden, wonach ich suchen sollte ... aber so leicht ist das nicht gewesen und es ist auch immer noch nicht einfach. Ich weiß allerdings nicht, ob ich mit den Plänen zurückkommen kann. Aber eines kann ich Ihnen versprechen ... Sie werden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen, wenn ich Ihnen alles erzählt habe.«

»Was soll das heißen, Nikita? Werden Sie bitte etwas deutlicher ... oder können Sie gerade nicht sprechen?«

»Nein, ich glaube, ich komme hier alleine besser klar. Hilfe von außen würde alles unnötig verkomplizieren. Ich kann die Brille auch nicht ständig tragen, ich muss wirklich vorsichtig sein, Herr Professor. Ich erkläre es Ihnen, wenn wir uns wiedersehen ... und ich kann sprechen, denn ich bin alleine, wie Sie sehen können.« Nikita drehte ihren Kopf nach allen Seiten.

»Bitte, Nikita, spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was soll das heißen, dass Sie nicht wissen, ob Sie mit den Plänen zurückkommen können?«

Nikita konnte sich gut vorstellen, wie der Professor am Schreibtisch saß und vor Ungeduld auf seinem Sessel hin- und herrutschte oder wie ein Zirkuslöwe in einem viel zu engen Käfig, der spürte, dass er gleich in die Manege musste, herumlief. Was sie nicht wissen konnte war, dass ihr Chef nicht alleine war und dieses Gespräch auch nicht von seinem eigenen Büro heraus führte.

»Haben Sie nun die Pläne oder nicht, Nikita?«

»Nein, es wurde mir verwehrt, sie von dem Ort, an dem ich sie gefunden habe, mitzunehmen ... bisher jedenfalls.«

»Verwehrt? Was soll das jetzt wieder heißen? Ich denke, Sie haben sie gefunden? Wer hat es Ihnen verwehrt?«

Nikita verdrehte die Augen und atmete tief durch. Wie sollte sie ihrem Chef erklären, dass ein Wesen, das zuweilen nicht viel größer war als seine Kaffeetasse, im Stande war zu verhindern, dass sie einfach mit den Plänen im Gepäck aus diesem Land herausspazieren konnte.

»Nun, Herr Professor, wie soll ich sagen, dass es hier anders ist als bei uns, das war uns ja klar, aber doch wissen wir nicht alles ... längst nicht alles. Ich melde mich wieder, wenn ich Ihnen sagen kann, wie es weitergeht. Es kann nicht mehr lange dauern, so viel steht fest.«

»Nikita, Sie sprechen in Rätseln, das ist mir alles zu hoch.«

Professor Rhin klang irgendwie merkwürdig förmlich, fand Nikita, fast beleidigt, nicht so verbindlich wie sonst. Eine Alarmglocke tief in ihrem Inneren meldete sich, verstummte aber augenblicklich, als sie ihren Blick nach draußen richtete und das Dorf unter inzwischen blauem Himmel so friedlich dort unten liegen sah. Dort war das morgendliche Leben jetzt in vollem Gang. Vielleicht tut dieser Blick ihm auch gut. Dann schenkte sie ihrem Chef wieder ihre Aufmerksamkeit.

»Herr Professor, ist irgendwas? Geht es Ihnen nicht gut? Wir sollten doch froh sein, so weit gekommen zu sein. Es gibt die Pläne! Ich habe das Gefühl, dass wir sie bekommen können, wenn das auch vielleicht mit ... Auflagen verbunden sein wird.«

»Auflagen? Bedingungen? Nikita wer sollte uns Auflagen machen?«

»Genau das werde ich Ihnen später erklären, Herr Professor. Ich habe noch eine Bitte, können Sie meinen Vater kontaktieren und ihm sagen, dass es mir gut geht?«

»Ja, Nikita, ja, das mache ich«, kam die etwas zögerliche Antwort vom Professor.

»Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Professor«, antwortete Nikita, der das Zögern in der Stimme ihres Chefs nicht entgangen war. »Ich muss jetzt Schluss machen, ich melde mich bald wieder.«

Nikita setzte die MFB ab und verstaute sie wieder sorgfältig in ihrem kleinen Rucksack. Dann ging sie, nachdem sie einen kurzen Blick in die Küche geworfen hatte, hinaus in den Garten, wo Effel bereits den Tisch gedeckt hatte.

»Es ist ein so schöner Morgen, da dachte ich mir, wir nutzen das aus und frühstücken in der Sonne, mein Schatz ... schau mal diese wundervollen Farben des Waldes.« Er wies mit seinem Kopf in die Richtung.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Nikita, »den Wald habe ich mir schon eben vom Schlafzimmerfenster aus angeschaut«, und ihn auch meinem Chef gezeigt, »er ist einfach herrlich ... so viele Farben«, und nach einer kurzen Pause, in der Effel ihr Tee einschenkte, fügte sie hinzu: »Er war irgendwie komisch, der Professor.«

»Was meinst du mit komisch?«

»Ich weiß nicht, er war ... reserviert, fast distanziert ... ja, so kann man es nennen. So als wenn er sich nicht hätte freuen dürfen, von mir zu hören. Ach egal, vielleicht hat er auch gedacht, ich serviere ihm die Pläne auf einem Silbertablett, und war einfach nur enttäuscht. Komm, lass uns mit dem Frühstück beginnen, ich habe einen Mordshunger.«

»Hey, dann müssen wir uns ja in Acht nehmen, was meinst du Sam?«, sagte Effel zu seinem Hund, der schon wieder bettelnd neben ihm saß, obwohl er sein Frühstück bereits hatte.

»Keine Angst ihr beiden«, lachte Nikita, »ich nehme erst einmal von dem frischen Brot hier.«

* * *

Die Siegel von Tench'alin

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