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Kapitel 2

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Senator Paul Ferrer, Nikitas Vater, hatte schon seit einigen Tagen versucht, Dr. Will Manders telefonisch zu erreichen – bisher allerdings ergebnislos. Er wollte ihm mitteilen, dass er inzwischen wusste, wo sich Nikita unglaublicherweise aufhielt, und dem jungen Mann dadurch weitere Nachforschungen ersparen, die er für sehr gefährlich hielt. Er hatte stets über eine abhörsichere Leitung – als solche war sie deklariert – aus seinem Senatsbüro telefoniert. Falls doch irgendjemand Fragen stellen sollte, wollte er erklären, dass es um beantragte Forschungsgelder gehe. In seiner väterlichen Sorge hatte er allerdings übersehen, dass einem zufälligen Zeugen auf der anderen Seite solch ein Gespräch wohl sehr merkwürdig vorgekommen wäre. Nicht Will Manders, sondern Professor Rhin, wahrscheinlich sogar Mal Fisher selbst wären für Gesprächsinhalte dieser Art die formell richtigen Ansprechpartner gewesen.

Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihm mehr zugesetzt, als er es sich eingestehen wollte. Am wenigsten seiner Frau gegenüber, obwohl er genau wusste, dass gerade Eva der Mensch war, dem er nichts vormachen konnte. Wenn er abends nach Hause kam, genügte ihr ein Blick und sie schien dann genau zu wissen, was mit ihm los war. Nicht nur, dass sie seine Gemütsverfassung sofort erkannte – das konnte man nach mehr als fünfundzwanzig Ehejahren sicherlich erwarten –, sondern wie eine äußerst treffsichere Hellseherin nannte sie auch das Kind beim Namen.

Er hatte längst aufgegeben herauszufinden, wie sie das anstellte. Ihre einzige Tochter Nikita hatte das, was Frau Ferrer ›weibliche Intuition‹ nannte, ganz offensichtlich von ihrer Mutter geerbt und so war Paul Ferrer zu Hause ein offenes Buch. Da der Senator kein Mann war, der Geheimnisse vor seiner Frau hatte – außer denen, die ihm sein Amt auferlegten, und da konnte er stoisch sein wie eine Sphinx –, machte es ihm nichts aus, dass Eva die Gründe seiner Launen kannte.

Als er in seinem Büro die Ungewissheit nicht mehr aushalten konnte, fuhr er mit dem Wagen zu dem Haus des jungen Wissenschaftlers, der in seinen jungen Jahren schon akademische Preise gewonnen hatte. Er wohnte in der Vilmerstreet, einem der vornehmeren Stadtteile Bushtowns, der größtenteils von leitenden Angestellten und hohen Beamten bewohnt war. Vance, sein Bodyguard, war gerade in der Mittagspause, und so brauchte er sich keine Ausrede auszudenken, warum er alleine fuhr. Eigentlich waren seit Kurzem alle Senatoren aus Sicherheitsgründen dazu angehalten, nie ohne bewaffnete Begleitung zu fahren, egal wie kurz die Strecke auch sein mochte. Man hatte ihnen allerdings nicht die Gründe für diese Maßnahme mitgeteilt. Senator Ferrer hatte seinen Freund, den Innensenator Hennings, bei einem Arbeitsessen eher beiläufig danach gefragt und von diesem die Antwort bekommen: »Eine Sicherheitsübung, mehr nicht.«

Paul Ferrer konnte sich mit dieser lapidaren Antwort allerdings nicht abfinden.

Jetzt stehle ich mich schon vor meinem Aufpasser davon, das darf ich wirklich niemandem erzählen, dachte er, als er in seiner Rolls Royce-Replik saß. Auf der Fahrt beschlichen ihn wieder böse Ahnungen, die ihm fast schon zur lästigen Gewohnheit geworden waren, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er den Beginn einer Paranoia erlebte und schließlich sein Leben in einer Zwangsjacke beenden würde. Er ließ den Wagen zwei Straßenblöcke vor der Vilmerstreet stoppen und schaute sich um, bevor er ausstieg.

Verrückt ... welch ein Blödsinn, schalt er sich gleich darauf, als wenn mir jemand auf diese Weise folgen würde. Hab wohl zu viele alte Krimis geschaut. Das ist doch heute nicht mehr nötig, wenn man wissen will, wo sich jemand aufhält.

Nicht nur Regierungsfahrzeuge besaßen obligatorisch ein Ortungssystem. Wie er gelesen hatte, war es damals, vor einigen hundert Jahren, lächerlich einfach gewesen, den Leuten den Einbau aufzuschwatzen. Man musste ihnen nur klarmachen, dass man im Falle eines Diebstahls sein Auto innerhalb von Stunden zurückbekommen könne. So hatten die Leute auch noch für ihre eigene Überwachung bezahlt. Manchmal sind die Menschen wirklich dumm, hatte der Senator nicht nur in diesem Zusammenhang gedacht.

Auf seinem kurzen Weg bemerkte er, dass hier alles irgendwie gleich aussah, sogar die Vorgärten schienen sich gegen Abwechslung erfolgreich zur Wehr gesetzt zu haben. Alle zeigten kurz geschnittene Rasenflächen, die von akkuraten Blumenbeeten umrahmt wurden. Lediglich die Höhe der Buchsbaumhecke, die jedes Grundstück umschloss, gab Aufschluss über die Wohndauer der Besitzer.

»Wohl ein und derselbe Bauträger«, murmelte er, »es lebe der Individualismus.«

Als er auf das Haus von Dr. Manders zuging und es mit seinen Blicken abtastete, so als könne er von dem Gebäude einen wichtigen Hinweis über den Verbleib seiner Tochter erhalten, befand er, dass es ein sehr schmuckes Haus für einen jungen alleinstehenden Mann sei, der eher in dem Ruf stand, nur seine Forschungen im Sinn zu haben, und sicherlich die meiste Zeit in seinem Labor verbrachte. Passt eigentlich nicht zu ihm, zu dem jungen Abteilungsleiter bei BOSST, dachte er bei sich, während der weiße, feine Kies der Auffahrt leise unter den Ledersohlen seiner vornehmen, maßgefertigten Schuhe knirschte. Vielleicht hat er es ja geerbt, dachte der Senator noch, bevor er sich wieder dem Grund seines Kommens widmete. Auf sein zunächst zaghaftes, dann immer heftigeres Klingeln wurde allerdings nicht geöffnet. Was ist da bloß los?, fragte er sich, in der Firma ist er nicht, und hier ist er auch nicht.

Dr. Will Manders, der Kollege und schüchterne Verehrer seiner Tochter, der sich ebenfalls große Sorgen um Nikita gemacht hatte, hatte sich nach ihrer Abreise häufiger bei Paul Ferrer gemeldet. Er war eines Tages zu ihm ins Büro gekommen und hatte ihm sein Herz ausgeschüttet. Kurz darauf hatten sich die Männer bei einem geheimen Treffen im Clubhaus der Golfanlage weiter austauschen können. Schon nach ihrem ersten Kennenlernen hatte der Senator dem jungen Mann sein Vertrauen geschenkt und mit ihm alle Befürchtungen geteilt. Daher passte es so gar nicht, dass Will Manders auf einmal nichts mehr von sich hören ließ. Das konnte im Grunde nur Schlechtes bedeuten.

Jetzt war dem Senator klar, dass der junge Mann sich zu weit aus dem Fenster gelehnt haben musste. Er hatte wohl mit seinen düstersten Ahnungen recht behalten.

Wenn die gemerkt haben, dass du ihnen nicht traust und eigene Nachforschungen angestellt hast, war dies dein Todesurteil. Besonders dann, wenn du herausgefunden haben solltest, wo Niki wirklich ist.

Eine letzte Möglichkeit, an die sich Paul Ferrer gerade klammerte, bestand darin, dass der junge Mann alleine losgezogen sein könnte. Diesen Gedanken verwarf er aber sofort, denn in dem Fall hätte er sich sicher vorher bei ihm gemeldet. Oder auch wieder nicht, wenn Will Manders befürchtete, dass er ihn von diesem Vorhaben abhalten würde. Der Senator war verwirrt und zunehmend unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, was für ihn äußerst ungewöhnlich war. Im Kongress war er für seinen scharfen Verstand bekannt und wurde von seinen politischen Gegnern gefürchtet, weil er seine Gedankengänge auch rhetorisch sehr gewandt zum Ausdruck bringen konnte. Jetzt ging es um das Wohl seiner Tochter und da waren Logik und Verstandesschärfe seinen väterlichen Emotionen zum Opfer gefallen.

Zu Hause wurde er von seiner Frau Eva, die ihm aus der Küche entgegenkam, erwartet. Sie brauchte keine Fragen zu stellen. Schon an der Art und Weise, wie er sein Jackett über einen Stuhl in der Eingangshalle warf, und natürlich an seinem Gesicht, sah sie ihm an, dass er nichts Neues über die Umstände der Reise ihrer Tochter erfahren hatte. Er war in den letzten Tagen älter geworden, wie ihr schien. Tiefe Sorgenfalten hatten sich um Mund und Nase eingegraben.

»Paul, du musst dich ausruhen ... denk an deine Gesundheit, du machst dich noch ganz fertig ... hast du mal in den Spiegel geschaut?«, ermahnte sie ihren Mann und stand jetzt dicht vor ihm. »Ich mache mir Sorgen um dich. Wenn du krank wirst, hilfst du damit niemandem. Überlasse ab jetzt bitte Frank die Nachforschungen, er verfügt über die richtigen Verbindungen. Wenn jemand etwas erfahren kann, was man eigentlich nicht wissen darf ... dann er.«

»Ich habe ihn selbstverständlich angerufen, Eva, er ist im Urlaub, wie mir seine Sekretärin sagte. Wusstest du das? Nun, er muss uns ja nicht alles erzählen.«

Frank Murner, Pauls Studienfreund und Leiter einer militärischen Sicherheitsabteilung, die der Regierung direkt unterstellt war, war Nikitas Patenonkel. Er selbst hatte Kapitän Franch auf persönliche Order des Präsidenten hin befohlen, mit der U46 auszulaufen. Er wusste allerdings damals noch nicht, dass Nikita an Bord sein würde, und als er es erfahren hatte, war es schon zu spät gewesen. Da war sie längst in Flaaland und hatte das größte Abenteuer ihres Lebens begonnen.

Der Senator ließ, ohne auf die Ermahnungen seiner Frau einzugehen – er wusste, dass sie recht hatte –, einen Kaffee aus der Maschine und setzte sich auf einen der hohen Hocker an der Küchentheke.

»Wie kann ich mich ausruhen, Eva ... in dieser Situation? Will Manders ist bestimmt tot«, sagte er fast tonlos und blickte wie ein meditierender Kaffeesatzleser in seine Tasse, als könne er dort eine Antwort finden. »Ich hatte es zwar geahnt, aber jetzt bin ich mir sicher. Dass diese Leute vor nichts zurückschrecken, ist ja nichts Neues. Ich möchte gerne wissen, was unsere Tochter da drüben soll, ausgerechnet unsere Tochter. Was kann so wichtig sein, dass wir die Ewigen Verträge brechen und alles aufs Spiel setzen, was wir uns aufgebaut haben? Ich weiß jedenfalls nichts von irgendwelchen Projekten, die das auch nur annähernd rechtfertigen würden. Das ist vollkommen absurd.«

Er erwartete keine Antwort, sondern stützte seinen Kopf mit beiden Händen und sah dabei aus wie der Denker von Hamangia.

Leise fuhr er fort: »Ich werde niemanden mehr anrufen, das ist verschwendete Zeit. Die wissen jetzt sowieso, dass ich Will Manders suche. Das Haus wird selbstverständlich überwacht. Dass ich daran nicht gedacht habe ... ich bin bestimmt sehr gut zu erkennen ... ach, was soll´s.« Er lächelte bitter.

»Aber wenn du deine Nachforschungen einstellst«, entgegnete seine Frau besorgt, »wird man wissen, dass du Verdacht geschöpft hast. Wenn du irgendwie an der Sache dranbleiben möchtest, bitte einen Kollegen um eine offizielle Untersuchung. Rudolf zum Beispiel. Geh in die Offensive ... obwohl ich eine Ahnung habe, dass es Nikita gut geht. Ich kann mir nicht helfen, aber mein Bauchgefühl sagt es mir. Eine Mutter spürt so etwas.«

Frau Ferrer hatte sich ebenfalls einen Kaffee geholt und stellte sich jetzt ihrem Mann gegenüber an die Theke.

»Eva«, der Senator blickte seine Frau aus müden Augen an, »deine Ahnungen in allen Ehren, aber unsere Tochter ist einige Tausend Meilen weit weg in einem unbekannten, feindlichen Land, da hätte ich schon gerne mehr Sicherheiten als deine Ahnungen. Ich habe auch ein Bauchgefühl, ein väterliches, und das schlägt Alarm.«

»Wieso feindlich, Paul? Woher willst du wissen, dass die Menschen dort unsere Feinde sind?«

»Sie sind vielleicht noch keine Feinde, Eva, aber wenn sie merken, dass wir die Verträge verletzen, werden sie es ... da bin ich mir sicher. Eine offizielle Untersuchung durch den Senat wäre geradezu töricht. Da würden sich einige Medien freuen wie die Maus in der Backstube. Ich sehe schon die fette Schlagzeile: ›Durchgebrannt?‹ Und den Untertitel: ›Senator sucht jetzt offiziell nach dem Verehrer seiner erwachsenen Tochter, die ebenfalls verschwunden ist.‹ Ich sehe schon meine feixenden politischen Gegner vor mir ... nein, den Gefallen werde ich denen sicher nicht tun. Ich kann nur hoffen, dass diejenigen, die für all das verantwortlich sind, nie herausbekommen, dass wir wissen, wo Niki ist. Die Nachricht über den Verlust des U-Boots, mit dem sie gefahren ist, zeigt doch, dass etwas vertuscht werden sollte. Den armen Kapitän und seine Besatzung haben sie auch auf dem Gewissen. Er war so guter Dinge und hatte sich so auf das Wochenende mit seiner Familie gefreut. Frank und ich waren wahrscheinlich diejenigen, die ihn und seine Mannschaft zuletzt lebend gesehen haben.«

»Dann lass los, Paul. Vertraue darauf, dass alles gut geht. Eine Runde Golf würde dir mal wieder guttun«, versuchte Eva ihren Mann aufzuheitern. »Du kannst jetzt sowieso nichts tun, sie ist nun mal weg. Aber wenn sie wieder hier ist, wird sie vielleicht ihren Vater brauchen, was meinst du?«

»Golf, wie kann ich jetzt ans Golf spielen denken, wo unser Kind vielleicht in Gefahr ist! Und wie kommt es, Eva, dass du so gelassen sein kannst, weißt du irgendetwas? Verheimlichst du mir etwas?«

»Habe ich dir jemals etwas verheimlicht, Paul? Nein, wie gesagt, ich habe das Gefühl, dass es unserer Tochter gut geht. Halte mich für verrückt, aber ich weiß es einfach. Nenne es von mir aus ›Mutterinstinkt‹.«

»Eva, bitte! Du weißt es? Na gut ... ich weiß es aber nicht. Morgen werde ich in Nikis Wohnung fahren. Vielleicht entdecke ich doch noch einen Hinweis, irgendeine Botschaft, die sie oder jemand anderes dort gelassen hat und die wir bisher übersehen haben. Ich werde Mike Stunks bitten mitzukommen. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig.«

»Was soll Mike denn ausrichten?«, Eva Ferrer runzelte die Augenbrauen. »Bringst du ihn damit nicht in eine ... na ja ... missliche Lage?« Sie dachte an den inzwischen etwas fülliger gewordenen Mike, der Leiter einer Spezialabteilung der NSPO war. Ferrers waren ihm im letzten Jahr bei einem offiziellen Anlass im Festsaal des Ministeriums für Sicherheit begegnet.

Nichts schien den wachsamen Augen dieses Mannes zu entgehen, auch nicht an einem Ort, an dem er eigentlich hätte feiern und sich entspannen können. Eva erinnerte sich, dass es sich um eine Jubiläumsfeier gehandelt hatte. Jemand, der vor lauter Orden schon nicht mehr gerade gehen konnte, hatte noch einen dazubekommen. Eva hasste solche Veranstaltungen wie die Pest, war aber ihrem Mann zuliebe und der Etikette wegen mitgegangen.

Als Eva das College besucht hatte, vor hundert Jahren wie ihr manchmal schien, war Mike Stunks einer ihrer Verehrer gewesen und sie hatte sogar einmal zugestimmt, ihn auf einen Ball zu begleiten. Er hatte sich als recht hartnäckig erwiesen und sie hatte, eher um ihre Ruhe zu haben, seinem freundlichen Drängen nachgegeben. Es war dann doch noch ein lustiger Abend geworden, an dem sich Mike als charmanter Unterhalter und passabler Tänzer gezeigt hatte. Danach hatten sie sich aus den Augen verloren, nachdem sie ihm klargemacht hatte – und zwar diesmal unmissverständlich –, dass es bei der einen Verabredung bleiben würde. Er war ein netter Kerl, der obendrein noch das Gespür dafür hatte, wann es eine Frau ernst meinte, aber als potenzieller Ehemann war er für sie von vornherein nicht in Frage gekommen. Sie hatte nämlich damals schon ein Auge auf Paul Ferrer geworfen, der zu dieser Zeit gerade mitten in seinem juristischen Examen stand. Dennoch hatte der sie, und dafür hatte sie gesorgt, in der Mensa schon einige Male bemerkt und ihr sogar ein Lächeln geschenkt, das sie nur noch mehr motiviert hatte.

»Mike ist einer der Besten«, wurde sie von ihrem Mann aus ihren Erinnerungen gerissen, »und gerade deshalb will ich ihn dabeihaben. Auf sein Konto gehen die meisten Aufklärungen von Verbrechen. Erinnerst du dich an den Entführungsfall der Sisko-Kinder? Das hat er praktisch im Alleingang erledigt, auch wenn, wie man munkelt, Freund Zufall zu Hilfe kam. Aber nur dem Fleißigen winkt auch das Glück. Ich möchte einfach nichts unversucht lassen. Wenn du mit ›misslicher Lage‹ meinst, er müsse das seiner Dienststelle melden, nun, ich werde es ihm erklären, warum es erst einmal besser ist, es nicht zu tun.«

Der Senator hatte seinen Kaffee ausgetrunken und stellte die Tasse scheppernd auf den Unterteller. Sein neuer Plan schien seine Lebensgeister geweckt zu haben.

Natürlich erinnerte sich Eva an die Sisko-Kinder, auch wenn es jetzt 15 Jahre her war. Sie erinnerte sich sogar an das Datum, an dem sie zum ersten Mal von der Entführung gehört hatte, weil es am siebzigsten Geburtstag ihrer Mutter gewesen war. Es war der 2.8.2851 gewesen. Mike hatte ihr die ganze Geschichte außerdem an jenem steifsten aller steifen Abende im letzten Jahr ausführlich erzählt, zumindest das, was er für die ganze Geschichte hielt. Sie waren darauf gekommen, weil Kay, der eine der beiden Sisko-Söhne, irgendeine Auszeichnung seiner Universität erhalten hatte, was just an dem Tag in den Medien berichtet wurde.

Die damals achtjährigen Zwillinge des bekannten Industriellenehepaares Sisko waren entführt und drei Monate lang gefangen gehalten worden. Sie waren offensichtlich wie immer mit dem Wagen von der Schule abgeholt worden. Mr. Doutes, der Hausmeister, und zwei Lehrer hatten dies bestätigt.

Zu diesem Zeitpunkt war der echte Chauffeur, ein gewisser Claude Robbins, allerdings mit Reifenwechseln beschäftigt gewesen. Als der ehemalige Profiboxer, der damals bereits seit fünf Jahren als Leibwächter und Fahrer bei den Siskos arbeitete, losfahren wollte, um die Kinder abzuholen, hatte er bemerkt, dass beide Hinterreifen der schweren gepanzerten Limousine fehlten. Der Wagen war aufgebockt worden. Ob fehlende Schlussfolgerungen das Ergebnis vieler schwerer Kopftreffer gewesen waren oder einen anderen Grund gehabt hatten, würde für immer im Dunkeln bleiben. Jedenfalls hatte sein Hirn die Überlegungen nicht weitergetrieben als bis zu einem ganz einfachen Reifendiebstahl. Einen Ersatzreifen hatte er vorrätig gehabt, aber für den zweiten hatte er einen Servicewagen aus der Werkstatt kommen lassen müssen. Das hatte ungefähr eine halbe Stunde gedauert, was überhaupt nicht tragisch gewesen war, da es wegen des dichten Verkehrs manchmal hatte vorkommen können, dass er sich verspätete. In einem solchen Fall hatten die Kinder einfach in der Halle der Schule auf ihn gewartet und sich die Zeit mit ihren geliebten Computerspielen vertrieben.

»Es war exakt der gleiche Wagen«, so hatte es der beflissene Hausmeister unterwürfig der Polizei, die mit großem Aufgebot angerückt gewesen war, versichert.

»Durch die getönten Scheiben konnte ich doch nicht sehen, wer da am Steuer saß. Ich ging davon aus, dass alles seine Richtigkeit hat. Die Kinder sind ja auch hinten eingestiegen, so wie immer ... sie haben noch gelacht und rumgealbert. Da dachte ich mir doch nichts Schlimmes. Kann ja keiner mit rechnen. Aber ihr könnt sie doch finden, sie haben doch den Chip«, jammerte er, als wenn es sich um seine eigenen Kinder gehandelt hätte. Der Chip hatte aber in diesem Fall nicht helfen können, obwohl Kindesentführungen das Hauptargument bei seiner Einführung gewesen waren. Jeder hatte die Sinnhaftigkeit leicht nachvollziehen können.

Wie sich in diesem Fall später herausgestellt hatte, war der ICD fachmännisch entfernt und ausgetauscht worden. Die Ironie war, dass die ICDs von der Firma Sisko hergestellt wurden. Hundertschaften der Polizei, die fast das ganze Land auf den Kopf gestellt hatten, hatten unverrichteter Dinge aufgeben müssen. Alle Hinweise aus der Bevölkerung waren ins Leere gelaufen und dann versickert wie Wellen an einem Sandstrand. In der ersten Woche waren über fünfhundert Zeugenmeldungen eingetroffen. Alle hatten die Kinder irgendwo gesehen und viele hatten sogar ihren Kopf darauf verwetten wollen. In der zweiten Woche waren es nur noch dreißig Meldungen gewesen, obwohl die Medien fast stündlich von dem Fall berichteten und dafür gesorgt hatten, dass jeder im Land wusste, wie die Zwillinge aussehen.

Drei wirklich dummdreiste Trittbrettfahrer, die alle ein hohes Lösegeld gefordert hatten, waren schnell dingfest gemacht worden – zwei von ihnen bei der Lösegeldübergabe, zu der sie pünktlich selbst erschienen waren. Die Dummheit war auch im 29sten Jahrhundert noch nicht ausgestorben. Der Dritte, der auf diese Weise reich werden wollte, hatte seine Gesinnungsbrüder sogar noch übertroffen. Er hatte es irgendwie geschafft, aus dem Gefängnis, in dem er einsaß, anzurufen, um seine Forderungen zu stellen. Das hatte den Gefängnisdirektor seinen Job gekostet und allen Mitgefangenen eine sehr genaue Untersuchung ihrer Zellen eingebracht. Der Anrufer war ja schon gewesen, wo er hingehörte. Von da an noch einmal zehn Jahre länger.

Die Kinder aber waren wie vom Erdboden verschwunden geblieben und auch die Entführer schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Man hatte das Schlimmste befürchtet.

Zwei endlos lange Wochen waren weder Forderungen gestellt noch irgendwelche abgeschnittenen Ohren oder Finger geschickt worden – ein sehr beliebtes Druckmittel in ähnlich gelagerten Fällen – und Psychologen hatten die verzweifelten Eltern auf das Schlimmste vorbereitet. Mrs. Sisko hatte ergänzend dazu von ihrem Hausarzt starke Beruhigungsmittel bekommen, was dazu geführt hatte, dass sich die bedauernswerte Frau schlafwandlerisch und wie ein Schatten ihrer selbst durch das große Haus bewegt hatte, sofern sie einmal ihr Zimmer verließ. Keiner der Dienstboten hatte gewagt, auch nur ein lautes Wort zu sprechen, und alle waren nur mit gesenktem Blick umhergelaufen. Es hatte eine Grabesstimmung geherrscht, gerade so, als seien die Kinder bereits gestorben.

Als die Haushälterin der Siskos, Maria Gonzales, eine äußerst resolute Person und unter normalen Umständen nicht auf den Mund gefallen, in der dritten Woche der Entführung zum Einkaufen in einem nahe gelegenen Supermarkt gewesen war, war sie von jemandem im allgemeinen Gedränge an der Kasse angerempelt worden. Sie hatte dem leichten Rempler außer einem sehr kurzen bösen Blick aus ihren braunen Augen zunächst keine weitere Beachtung geschenkt. Erst als sie später beim Auspacken der Lebensmittel in ihrer Einkaufstasche einen Brief gefunden hatte – sie konnte sich nicht erinnern, jemals überhaupt einen in der Hand gehabt zu haben –, hatte die kleine Rempelei doch noch eine Bedeutung bekommen.

Von diesem Moment an hatte Mike Stunks Stunde geschlagen und bei den geplagten Siskos war neue Hoffnung aufgekeimt. Es war Mikes erster großer Fall bei der NSPO gewesen. Zuvor hatte er sich bereits bei der Kriminalpolizei, die ebenfalls an diesem Fall dran war, einen Namen gemacht und die Siskos wussten das. Er hatte sich in den Fall verbissen gehabt wie ein Terrier, dem man sein Lieblingsspielzeug wegnehmen wollte. Er war in das Gästehaus des Sisko-Anwesens eingezogen. Es war doppelt so groß wie sein eigenes Wohnhaus und es hatte zwei Wochen lang den Anschein gehabt, als würde er keinen Schlaf brauchen.

Als Erstes hatte er Maria Gonzales befragt, die kräftig gebaut und gut einen halben Kopf größer war als er. Jeder Angestellte des Hauses war selbstverständlich auf Herz und Nieren geprüft worden und alle hatten eine Weste, die so blütenweiß war wie frisch gefallener Schnee in den Rockys.

»Mrs. Gonzales, was genau haben Sie im Supermarkt gesehen? Bitte denken Sie genau nach. Jede noch so kleine Einzelheit ist wichtig ... ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme«, hatte Mike das Verhör ganz ruhig begonnen und dabei auf sein kleines Aufnahmegerät gezeigt, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Er hatte die Frau dabei fixiert wie die Schlange das Kaninchen. Er wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass jede noch so kleine Körperreaktion eines Zeugen einen Hinweis auf eine unbewusste Beobachtung geben konnte. Aus diesem Grund war er auch in die Küche, in ihr Reich, gekommen. Sie sollte möglichst entspannt sein.

»Mein Gott«, hatte die Haushälterin, mit einer Geste in Richtung des Aufnahmegeräts, die Mike als Zustimmung deutete, erwidert, »was soll ich schon gesehen haben? Ich war damit beschäftigt, die Kassiererin zu kontrollieren. Sie machen andauernd Fehler, komischerweise meist zu ihren Gunsten. Ich verstehe gar nicht, warum es wieder Geschäfte gibt, in denen Menschen an der Kasse sitzen. Aber der Laden ist nicht weit und ich wollte schnell wieder zu Hause sein ... Sie wissen doch ... die arme Mrs. Sisko, die ...« Von Entspanntheit war Mrs. Gonzales meilenweit entfernt gewesen, obwohl sie selbst vielleicht auf Nachfrage das Gegenteil behauptet hätte.

»Mrs. Gonzales«, hatte Mike den beginnenden Redeschwall unterbrochen, »ist Ihnen vielleicht vorher etwas aufgefallen, wurden Sie verfolgt oder hat Sie jemand beobachtet?«

»Hören Sie, Sir, ich war damit beschäftigt, alles was auf meinem Display stand, einzukaufen, da schaue ich nicht nach anderen Leuten. Wissen Sie, wie viele Menschen in Supermärkten rumlaufen? Da hätte ich viel zu tun ... aber sagen Sie doch Maria zu mir, das machen alle hier.« Maria war aufgestanden und hatte begonnen, in der Küche herumzuhantieren, was eher planlos ausgesehen und wohl dem Abbau ihrer Nervosität gedient hatte. Mike hatte sich aber nicht so schnell abschütteln lassen.

»Danke, Frau Gonzales, ... äh, Maria, bitte setzen Sie sich doch«, sein Ton war um eine Nuance schärfer geworden. »Ich weiß, wie viele Leute sich in Geschäften aufhalten ... ich gehe hin und wieder selber einkaufen. Aber manchmal kann man fühlen, dass man beobachtet oder verfolgt wird, kennen Sie das nicht? Es ist wie ein sechster Sinn.«

»Doch, klar kenne ich das«, in Marias Stimme hatte jetzt leichter Trotz gelegen und daran hatte Mike erkannt, dass seine kleine Stresserhöhung funktioniert hatte, »aber neulich war es nicht so ... bestimmt, glauben Sie mir, Sir, Mr. Stunks. Was soll ich sagen, ich hab´ nix gesehen.« Sie hatte sich auf einen Stuhl fallen lassen, ihre Schultern waren herabgesunken und sie hatte ihre Hände in den Schoß gelegt, als ihr linkes Augenlid auf einmal wild zu zucken begonnen hatte, als ob ihr etwas ins Auge geflogen wäre, was Mike nicht entgangen war. Er hatte den Atem angehalten, um einer möglichen Erinnerung Zeit zu geben. Und diese war gekommen, wenn es auch nicht viel gewesen war. Maria hatte für einen Moment die Augen geschlossen. Das Zucken hatte so plötzlich aufgehört, wie es begonnen hatte.

»Jetzt ... ich erinnere mich doch!«, hatte Maria dann gerufen.

»Da war ein Mann, der hat sich an allen vorbeigedrängt! Er hatte nichts eingekauft, hatte keinen Korb, keine Tasche ... nichts. Der hat mich angerempelt und so komisch geschaut! Jesus!«, es klang wie ›Jesses‹. »Meinen Sie, das war das Monster, das unsere Engelchen entführt hat? Ich weiß noch ... in diesem Moment hatte ich so ein Gefühl wie ... kennen Sie das? Als wenn die Welt für einen Moment aufgehört hätte sich zu drehen. Mein Gott! Wie konnte ich den Kerl vergessen, Sir? Es ist wohl alles ein bisschen viel für mich, es ist so schrecklich!« Marias Augen waren vor Entsetzen ganz groß geworden und sie hatte sich mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen, dass es leise, aber unüberhörbar geklatscht hatte.

»Sehr gut. Können Sie ihn beschreiben, Mrs. Gonzales, äh ... Maria?« Mikes Stimme war ganz ruhig gewesen. »Jede noch so kleine Einzelheit ist wichtig.«

»Nein ... es ging ja schnell ... oder ... warten Sie, es gibt doch etwas, nur eine Einzelheit, an die ich mich erinnere, und die ist nicht klein, ich sehe sie gerade förmlich vor mir. Eine Raubvogelnase, ja, eine ziemlich große, gebogene Nase. Irgendwie passte sie nicht zu dem Typ, das dachte ich noch. Und, ja, Augen wie aus Stahl, er hatte einen Blick wie aus Eis. Aber dann war er auch schon weg und ich musste meine Sachen einpacken, weil von hinten wieder gedrängelt wurde.« Maria hatte laut geseufzt. »Mehr weiß ich nicht, es tut mir so leid, wenn ich geahnt hätte, dass das der Entführer der Kleinen ist, glauben Sie mir, ich hätte ihn nicht einfach gehen lassen«, hatte sie gejammert.

»Bringen Sie uns die Kinder zurück, Mr. Stunks, ich flehe Sie an.«

»Nun mal langsam mit den Pferden, Maria, wir wissen weder, ob das der Entführer war, noch ob er den Brief in ihre Tasche getan hat. Es ist eine reine Vermutung, dass es dieser Mann war. Sind Sie sich sicher, dass Sie ansonsten mit niemandem Kontakt hatten? Bitte denken Sie noch einmal genau nach, das mit der Rempelei ist Ihnen ja auch nicht gleich eingefallen.«

Mike hatte innerlich dem Schicksal gedankt, dass Maria im Supermarkt nicht eingegriffen hatte. Nicht weil ihm der Überbringer des Briefes leid getan hätte, sondern weil er sich sicher gewesen war, dass es sich bei den Entführern um mindestens zwei Personen gehandelt hatte. Jemand musste das Auto gefahren haben, mit dem die Kinder abgeholt wurden, ein anderer hatte sicherstellen müssen, dass der richtige Chauffeur, der vielleicht ausgerechnet an diesem Tage früher dran war, lange genug beschäftigt war und eventuell nochmals aufgehalten werden konnte. Mit dieser Vermutung hatte Mike allerdings falsch gelegen.

»Nein«, hatte Maria stirnrunzelnd nach einer weiteren kurzen Pause gemeint, »ich bin nach dem Einkaufen direkt nach Hause gegangen, da war nichts mehr.«

»Na, jedenfalls danke ich Ihnen, Maria, Sie haben uns sehr geholfen.« Das hatte er zwar nicht wirklich so gemeint, hatte sich aber für den Fall, dass Maria eventuell doch noch etwas einfiele, eine Hintertür offen lassen wollen.

Mike Stunks hatte gesehen, dass in dem Moment nicht mehr aus der Frau herauszuholen war, und deshalb hatte er sich als Nächstes dem Umschlag gewidmet. Es war mit den Siskos ausgemacht worden, dass alles, was an Post eventuell ins Haus kam, zunächst von ihm untersucht werden würde. Mike hatte

nicht einen Moment daran geglaubt, dass eventuelle Forderungen auf dem sonst üblichen elektronischen Weg eintreffen würden, dazu waren sie zu leicht zurückzuverfolgen.

Die Entführer hatten bereits gezeigt, dass sie nicht auf den Kopf gefallen waren. Man würde ganz sicher auch keinen der staatlich geprüften Kurierdienste beauftragen, die auf schnellstem Weg kleinere Warensendungen oder wichtige Dokumente, die man nicht elektronisch übermitteln konnte, ihrem Empfänger zukommen ließen. Mit dieser Vermutung hatte er recht behalten.

Er hatte sich nach dem Verhör der Haushälterin in seinen Gästebereich zurückgezogen, in dem er ein kleines Labor aufgebaut hatte. Die Untersuchung auf Fingerabdrücke hatte nichts erbracht, worüber er auch nicht sonderlich erstaunt gewesen war.

Wer eine solche Entführung plant und durchführt, der tatscht nicht auf seinem Erpresserbrief herum, war ihm durch den Kopf gegangen. Er hatte das Kuvert dennoch fast so behutsam geöffnet wie ein Chirurg eine Herzkammer, weil er alles vorsichtshalber noch im großen Labor der NSPO hatte untersuchen lassen wollen.

Er hatte seine dünnen weißen Stoffhandschuhe getragen, die er routinemäßig immer dabeihatte. Man konnte letzten Endes nie vollkommen sicher sein. Er hatte in seiner kriminalistischen Laufbahn schon ›Pferde vor der Apotheke kotzen sehen‹, wie er gerade erst vor ein paar Tagen einem jungen Kollegen erklärt hatte, und zwar mehr als nur einmal.

Außerdem hatte man ihm an der Hochschule für Kriminalwissenschaften beigebracht, dass die meisten Verbrecher irgendwann, und sei es auch erst nach der Tat, einen Fehler machen – auch diejenigen, oder insbesondere diejenigen, die sich für besonders clever hielten. Dieses Sich-für-besonders-clever-Halten war genau ihr Schwachpunkt, ihre Hybris, die sie zu Fall brachte.

Adressiert war der Umschlag gewesen an ›Die Firmenleitung von Sisko ESS, zu Händen Herrn Herb Sisko, streng vertraulich‹. Mike hatte sich, wie ausgemacht, von dem Zusatz ›streng vertraulich‹ nicht beeindrucken lassen und zwei bedruckte DIN A4 Papierbögen aus dem Umschlag herausgezogen.

Dann hatte er in einem der schweren, komfortablen Ledersessel Platz genommen – Sessel, die denjenigen, der sich ihnen anvertraute, zu verschlucken schienen. Auch wenn Informatik in der Schule nicht zu seinen Lieblingsfächern gehört hatte und er diese Sprache nicht gut beherrschte, hatte er sofort gesehen, dass es sich bei der Menge an Nullen und Einsen, mit denen eines der Blätter beschrieben war, um ein Computerprogramm handelte.

Das zweite Blatt hatte Folgendes zum Inhalt – und für diese Sprache war er Experte:

»Wenn Ihnen Ihre Kinder am Herzen liegen, und davon gehen wir aus, bitten wir Sie, die nächste Produktion des ICD, die in einem Vierteljahr fertig sein soll, mit beiliegenden Programm zu versehen.«

»›Bitten wir Sie!‹... Sarkasmus gepaart mit Gewalt ist eine gefährliche Kombination ... ›ein Vierteljahr‹, die sind gut informiert«, hatte Mike kopfschüttelnd gemurmelt, bevor er weitergelesen hatte.

»Wir haben den Kleinen inzwischen den Prototyp implantiert. Sollten Sie unseren Forderungen nicht nachkommen – und wir können Ihnen versichern, dass wir die Möglichkeit haben, das zu überprüfen –, werden wir ein kleines Programm unserer Version des ICD im Körper Ihrer Kinder aktivieren. Sie können sich nicht vorstellen, wie unangenehm das sein wird.

Der Tod wäre in diesem Falle das kleinere Übel. Kommen Sie unseren Forderungen nach, werden Ihre Kinder ein ganz normales Leben führen, so als ob nichts passiert wäre. Was allerdings geschieht, wenn Sie zu irgendeinem späteren Zeitpunkt die Baupläne des ICD wieder ändern sollten oder Informationen über den Inhalt dieses Schreibens an die Öffentlichkeit dringen, überlassen wir Ihrer Fantasie. Das Gleiche gilt selbstverständlich für den Fall, dass Sie die ICDs Ihrer Söhne wieder austauschen oder den Versuch unternehmen sollten, sie anderweitig zu manipulieren. Seien Sie versichert, dass wir das bemerken würden. Sie werden verstehen, dass wir diesen Brief nicht unterzeichnen können, was bei Ihnen aber bitte keinen Zweifel an unserer Ernsthaftigkeit aufkommen lassen möge. P.S.: Wir werden es bei diesem einen Schreiben belassen. Betrachten Sie es bitte als einmalige Chance. Sie haben das Schicksal Ihrer Söhne in der Hand.«

Herb Sisko war eine Stunde später beim Lesen des Briefes noch blasser geworden, als er ohnehin schon gewesen war, und hatte ihn auf den kleinen, mit einem Schachmuster verzierten Tisch neben seinem Sessel gelegt. Mike Stunks hatte zunächst nur still dagesessen, war dann aufgestanden und im Raum hin- und hergegangen, wie er es gerne tat, wenn er nachdenken musste. Dabei war er in Gedanken bei möglichen Motiven und Täterprofilen gewesen. Er hasste es, im Dunkeln zu tappen, aber hier hatte er ein kleines Licht am Horizont gesehen, denn man hatte etwas in der Hand, wenn auch nur aus Papier. Die beiden Männer hatten sich in der Bibliothek des Hauses aufgehalten und Herb Sisko hatte gewiss einen oder zwei Brandys zu viel getrunken – wie an jedem Abend der letzten beiden Wochen. Trotzdem hatte er kaum Schlaf gefunden und nach diesem Brief würde sich sein Zustand sicher nicht verbessern, wie Mike vermutet hatte.

Die Zwillinge Steve und Kay waren die Erfüllung seiner Wünsche gewesen. Die erste Ehe Herb Siskos war, trotz modernster Medizintechnik, kinderlos geblieben und wohl auch deswegen in die Brüche gegangen. Er wäre vor Freude und Stolz fast geplatzt, als seine zweite Frau Lara auf ganz natürlichem Wege, nur zwölf Monate nach der Hochzeit, die Kinder zur Welt gebracht hatte. Mit den Söhnen war die Nachfolge gesichert.

»Wer kann so was?«, hatte Mike Stunks gefragt. »Ich meine, wer hat die technischen Möglichkeiten, einen solchen Chip herzustellen?«

»Ich weiß es nicht«, war die müde Antwort gewesen, »wir haben zwar viele Verrückte in diesem Land, die es behaupten könnten, aber diese Programme sind außerordentlich kompliziert. Ich werde das hier sofort selbst untersuchen. Ich muss unbedingt wissen, wie wir den ICD verändern sollen. Ich habe schon viele Binärcodes gesehen, die meisten habe ich selbst geschrieben, aber diese Halunken haben einen komplementären BCD-Code verwendet ... egal, was es ist, wir werden es machen. Ich will meine Kinder wiederhaben ... Was immer diese Verbrecher auch programmiert haben wollen ... von mir wird niemand etwas erfahren. Meine Söhne sind mir wichtiger als alles andere auf der Welt.«

»Haben Sie Feinde, Mr. Sisko?« Er hatte in diesem Moment nicht darauf eingehen wollen, dass die NSPO es sicher nicht durchgehen lassen würde, dass Herb Sisko solch eine Sache für sich behielt, vor allem, wenn sie, wie man vermuten musste, nicht harmlos war. Mike würde alles sehr genau prüfen.

»Nein, aber das haben mich Ihre Kollegen schon tausendmal gefragt, ich habe keine Feinde, Mr. Stunks.« Herb Sisko hatte Mike aus müden Augen angeblickt und ihn für einen kurzen Moment an Blessie, seinen Cocker Spaniel erinnert, den er als Junge gehabt und über alles in der Welt geliebt hatte.

»Was ist mit Konkurrenten, Mr. Sisko?«

»Nein, die Claims sind abgesteckt, Mr. Stunks«, Sisko hatte abgewinkt. »Was den ICD anbetrifft, hatte unsere Firma damals nur zwei wirklich ernst zu nehmende Mitbewerber, als die Regierung den Auftrag für den Chip vergab. Natürlich wollten wir ihn alle haben. Das ist ein dicker Brocken und sichert einem die Zukunft. BOSST war mit dran und eine kleinere Firma, die es schon lange nicht mehr gibt, Fuertos LCD. Es hatte wohl damals ziemlichen Wirbel gegeben, wie mir mein Großvater erzählt hat. Aber das ist hundert Jahre her ... Schnee von gestern. Nein, wir haben weder Feinde noch Konkurrenten. Und, um Ihnen Arbeit zu ersparen, Mr. Stunks, Mal Fisher, der Vorstandsvorsitzende von BOSST, ist der Patenonkel von Steve, was ja wohl Beweis genug sein dürfte.«

»Und wie viele Personen wissen davon, dass eine neue Produktionsreihe des ICD in Kürze ausgeliefert wird?«, hatte Mike gefragt ohne sein Gehen zu unterbrechen. Dass Patenonkelsein kein Freifahrtschein war, behielt er für sich.

Herb Siskos Maß an Aufregungen war bereits mehr als voll, man musste es nicht noch zum Überlaufen bringen. »Das Datum wird nicht gerade in den Nachrichten gekommen sein, Mr. Sisko.«

»Nein, natürlich nicht. Davon wissen, außer den entsprechenden Regierungsstellen, nur die Geschäftsleitung, also ich ... und meine beiden Vorstandskollegen, Mr. Sahib und Mrs. Labarte, naja ... und natürlich die Leute, die den Chip programmieren. Aber für die lege ich meine Hand ins Feuer, Mr. Stunks.«

»Na, nichts für ungut, Mr. Sisko, aber Sie wären nicht der Erste, der sich dabei verbrennt.«

Von dem echten Erpresserbrief hatte Mike Stunks Eva Ferrer natürlich nichts erzählt. Nur drei Personen bei Sisko ESS und Mike Stunks kannten dessen Inhalt. Für die großen Anteil nehmende Öffentlichkeit, die erleichtert aufgeatmet hatte, als die Zwillinge wohlbehalten drei Tage nach Auslieferung der neuen ICD-Produktion wieder bei ihren überglücklichen Eltern waren, hatte es die Version eines enorm hohen Lösegeldes gegeben. Einen Täter hatte man den Medien auch präsentieren können, wenn auch dieser sich der irdischen Gerichtsbarkeit bereits mithilfe eines starken Stricks entzogen gehabt hatte.

So blieb der Hergang der Entführung weiterhin im Dunkeln, denn auch aus den Kindern, die man allerdings auf Bitten der Siskos nur kurz befragt hatte, war nicht mehr herauszubekommen gewesen, als dass sie mit einem meist schweigsamen Maskenmann, der aber gut kochen konnte, Spiele gespielt hätten und fast immer gewonnen hatten. Wie eine sehr aufgeregte Maria Gonzales im Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin festgestellt hatte, hatte es sich bei dem Mann allerdings nicht um denjenigen gehandelt, der sie im Supermarkt angerempelt gehabt hatte, da war sie sich völlig sicher gewesen.

»Der hat ja eine Stupsnase, der war das ganz bestimmt nicht«, hatte sie nur gesagt und hatte den unwirtlichen Ort so schnell wieder verlassen, als wäre jede weitere Sekunde Aufenthalt ansteckend. Im Laufe der nächsten Monate war die Familie Sisko weitgehend zu ihrem normalen Leben zurückgekehrt.

Die Kinder besuchten wieder die Schule, jetzt mit zwei Leibwächtern und einem neuen Chauffeur.

Eva Ferrer stand auf und stellte das Kaffeegeschirr neben die Spüle.

»Paul«, sagte sie zu ihrem Mann, » ruh´ dich heute mal aus, bleib´ zu Hause, wenn du schon nicht auf den Golfplatz willst. Ich werde Manu bitten, uns etwas Leckeres zu kochen. Um acht gibt es Essen.«

»Hat sie heute nicht ihren freien Tag?«, fragte Paul Ferrer.

»Ach nein, der ist ja erst morgen, nicht wahr?«, korrigierte er sich. »Ja, das ist eine gute Idee, essen wir heute zu Hause. Ich habe mir etwas Schriftkram mitgebracht, den ich noch erledigen möchte ... nur wenig, versprochen ... und Mike Stunks werde ich anrufen.«

Um Punkt acht saßen die Ferrers an ihrem wie immer liebevoll gedeckten Tisch. Manu hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Nach zwanzig Jahren als Haushälterin bei den Ferrers kannte sie den Geschmack des Senators, den sie sehr verehrte, in- und auswendig. Heute gab es eines seiner Lieblingsgerichte, Curryhuhn. Dazu tranken die beiden einen leichten Weißwein. Manu hatte sich wieder in ihr hübsches Apartment zurückgezogen, das sich im Anbau des Hauses befand, und schaute sich im Fernsehen eine ihrer Lieblingstalkshows an. Später am Abend würde sie noch einmal hinübergehen und aufräumen, denn in der Nacht vor Vollmond konnte sie sowieso kaum schlafen und wurde höchstens von ihren Erinnerungen gequält.

Am nächsten Morgen wollte sie schon früh in die Stadt fahren, um einige Geschenke für ihren Jimmy zu kaufen, der bald Geburtstag hatte. Dreiundzwanzig Jahre wurde er und er war ihr Ein und Alles. Sie war so stolz gewesen, als er vor Kurzem einen Ausbildungsplatz in einem der besten Hotels der Stadt, direkt am Ufer des Potomac, bekommen hatte. Er hatte zwar mit Leichtigkeit seinen Schulabschluss gemacht, war dann aber orientierungslos gewesen, was seine Berufswahl anbetraf. Zuerst hatte er es in einer Computerfirma versucht, weil Mathematik und Informatik zu seinen Lieblingsfächern gehört hatten. Dort hatte er allerdings sehr schnell erkannt, dass ihm die Materie zu trocken war. Danach hatte er sich mit einigen Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und seine Mutter, die sich immer besorgter gezeigt hatte, damit getröstet, dass dies lediglich seiner Berufsfindung diene. Ihm war inzwischen klar geworden, dass er ›irgendwas mit Menschen‹ machen wollte. Auf die Idee, es doch im Hotelfach zu versuchen, hatte ihn dann Eva Ferrer gebracht. Jim liebte seine Mutter, aber ihre ständigen Fragen nach seiner beruflichen Zukunft nervten ihn.

Und wenn sie ihn nicht danach fragte, so tischte sie ihm ihr zweites Lieblingsthema auf: Ehefrau und Enkelkinder.

»Mama«, wand er sich dann stets heraus, »du sagst doch selbst immer, dass ein Mann in der Lage sein muss, seiner Frau etwas zu bieten. Also erst der Beruf, dann die Familie. Pass auf, du wirst noch früh genug Großmutter, du bist doch gerade mal knapp über vierzig.«

Dann lachten beide und er hatte bis zum nächsten Mal seine Ruhe. Das waren nicht die einzigen Momente, in denen er sich einen Vater wünschte.

Nach dem Gespräch mit Tante Eva, wie er sie seit seinem vierten Lebensjahr nannte, hatte er sich in mehreren Hotels, von denen es eine Menge gab, beworben und schließlich hatte er einen Ausbildungsplatz im Vision Inn erhalten. Er war sehr froh darüber, denn eigentlich hatte er das Alter eines Auszubildenden schon überschritten. Dass der Chef dieses Luxushotels ein Freund der Ferrers war, wusste er nicht.

Es hatte gleich zu Beginn ganz danach ausgesehen, als könne er es mit seiner freundlichen und verbindlichen Art wirklich zu etwas bringen. Man hatte ihm gesagt, dass er als Praktikant erst einmal alle Stationen des Hotelbetriebs durchlaufen müsse, angefangen von der Küche und der Patisserie über den Zimmerservice, die Bar, die Restaurants bis zur Rezeption des Vision Inn. Auf die Küche hatte er sich besonders gefreut, denn für das Kochen hatte er sich schon als kleiner Junge interessiert. Oft war er seiner Mutter dabei zur Hand gegangen. Die Ausbildung selbst, wenn er sich dann dafür entscheiden sollte, und man ihn auch nähme, würde vier Jahre dauern. Danach war immer noch Zeit, eine Familie zugründen, wie er fand.

Die Personalabteilung des Vision Inn war ihm behilflich gewesen, eine kleine, bescheidene Wohnung in der Nähe seines neuen Arbeitsplatzes zu finden, sodass Manu ihr Apartment jetzt manchmal sehr groß vorkam. Sie hatte nur Jimmy, der seinen Vater nicht kannte. Eigentlich hieß er Jim, aber für sie war und blieb er ihr Jimmy. Manu war sich selbst nicht hundertprozentig sicher, welcher der beiden einzigen Männer, mit denen sie in ihrem Leben zusammen gewesen war, Jims Vater war. Aber wenn sie ganz ehrlich zu sich war, und das fiel ihr in diesem Fall schwer, weil es ihr überhaupt nicht gefiel, erkannte sie ihn in Jimmys Augen. Fast täglich schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Rest der Gene von ihr stammten.

Ihrem Sohn hatte sie auf dessen Fragen nach seinem Erzeuger, die in den letzten Jahren seltener geworden waren, immer nur erzählt, sein Vater sei kurz nach seiner Geburt gestorben. Und da ihr dabei jedes Mal Tränen in den Augen standen, hatte Jimmy auch nicht weiter nachgebohrt.

Zwei Männer waren in all den Jahren ihres Lebens die einzigen Beziehungen geblieben. Seit dem schrecklichen Ereignis vor fast vierundzwanzig Jahren und dem einige Monate darauf folgenden Selbstmord ihres zweiten Freundes, der den Rest seines Lebens nicht in einem Rollstuhl verbringen wollte, hatte sie sich an keinen Mann mehr gebunden.

Manchmal, wenn sie wieder einmal nicht schlafen konnte, hatte sie festgestellt, dass der Schock immer noch tief in ihrer Seele saß.

* * *

Die Siegel von Tench'alin

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