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Kapitel 3

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Nach Vincents Flucht war Scotty Valeren zum Rathaus aufgebrochen, um sich dort möglichst unauffällig umzuhören. Er wollte nicht noch mehr Staub aufwirbeln. Wenn sich auch nur eine seiner Befürchtungen bewahrheitete, lag schon genug in der Luft. Unterwegs pfiffen es die Spatzen bereits von den Dächern, dass der künftige Herr von Raitjenland des Mordversuchs an der Seherin Brigit verdächtigt wurde und sich durch seine überstürzte Flucht selbst schwer belastet hatte. Seine Verfolger, Jobol und Jeroen, die ihm mit ihren Hunden so dicht auf den Fersen gewesen waren, hatten in seinem Zimmer lediglich das noch warme Bett vorgefunden und später einen verdutzten Jared Swensson zurückgelassen, der verzweifelt nach einer Erklärung für das plötzliche Verschwinden seines Sohnes gesucht hatte. Ihm war angst und bange geworden bei dem Gedanken, seiner Frau sagen zu müssen, was man ihrem über alles geliebten Sohn zutraute. Die Nachricht hatte sie dann wohl doch schneller erreicht, als ihm lieb sein konnte, denn plötzlich hatte Elisabeth, noch im Morgenmantel, kreidebleich und um Jahre gealtert in der Tür gestanden. Sie hatte sich mit einer Hand schwer auf die Klinke gestützt, so als wenn sie jeden Moment zusammenbrechen würde, und hatte mit Tränen in den Augen und mit gebrochener Stimme, die Jared augenblicklich einen Schauer über den Rücken jagte, geflüstert: »Wir werden unseren Sohn nie mehr wiedersehen, Jared, nie, nie mehr.«

Das sollten für lange Zeit ihre letzten Worte gewesen sein, die sie überhaupt zu irgendjemandem sprach. Mit einem tiefen Schluchzen hatte sie sich umgedreht und war mit schleppendem Gang in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Die Tür hatte sie mit einem lauten Klicken hinter sich abgeschlossen. Dieses Geräusch war ein einziger Vorwurf gewesen und dieser hatte den Herrn von Raitjenland bis tief ins Mark getroffen.

Nachdem Elisabeth die Küche verlassen hatte, hatte Jared sich an den schweren Eichentisch gesetzt, sein Gesicht in die Hände gestützt und hemmungslos geweint. Auch wenn er die Visionen seiner Frau immer als weibliche Spinnereien abgetan hatte, hatte er jetzt instinktiv gespürt, dass sie dieses Mal recht haben könnte. Und er hatte jetzt selbst eine Vorahnung: Die letzten Minuten würden das Leben auf der Farm für immer verändert haben.

Wie oft hatten sie sich wegen der Erziehung ihres einzigen Sohnes gestritten! Jared hatte seiner Frau mehr als einmal vorgeworfen, Vincent zu verhätscheln, wenn sie sich wieder schützend vor ihren Sohn gestellt hatte, und sie dann Gegenvorwürfe an ihn gerichtet, dass er den Jungen zu hart anpacke und viel zu viel von ihm verlange. Ihre Gespräche über Vincent waren immer ähnlich verlaufen.

»Zu hart?«, hatte er dann zum Beispiel erwidert. »Glaubst du, diese Farm kann er einmal führen, wenn er nicht früh genug mit den Realitäten dieses Betriebes vertraut gemacht wird? Ich lasse ihm doch wirklich alle Freiheiten, er kann sich nicht beklagen. Lesen wir ihm nicht jeden Wunsch von den Augen ab? Dafür könnte er sich wirklich hin und wieder erkenntlich zeigen. Sogar seinen Freund Scotty kann man im elterlichen Betrieb öfter antreffen als unseren Sohn hier auf der Farm.«

»Du und deine sogenannten Realitäten, es gibt auch noch anderes im Leben, was er erfahren soll und worauf es eben auch ankommt. Es gibt mehr als immer nur die Arbeit.«

»Ach ja? Aber wir leben doch ganz gut von dieser Arbeit – oder etwa nicht? Man bekommt im Leben nichts geschenkt«, konterte er dann gereizt. Und so gab ein Wort das andere.

Innerlich verfluchte er sich jedes Mal dafür, denn er liebte seine Frau sehr. Dass man im Leben nichts geschenkt bekam, wusste sie genauso gut wie er. Elisabeth, er nannte seine Frau zärtlich Liz, war schließlich die Tochter des reichen Getreidefarmers Wayne Goddard, der mit Jareds Vater die gleiche Leidenschaft teilte, nämlich die Pferdezucht, und mit ihm auch in geschäftlicher Verbindung stand. Auf den Hengstparaden waren sie bei den Versteigerungen manches Mal auch schon Konkurrenten gewesen. Jared hatte seine Frau auf einem Heubodenfest in Onden kennengelernt, als er dreiundzwanzig Jahre alt war, und sich gleich in sie verliebt. Da dies auf Gegenseitigkeit beruhte und auch die Eltern die Verbindung befürwortet hatten, heiratete das junge Paar bereits nach einem halben Jahr. Der ersehnte Nachwuchs war allerdings lange ausgeblieben und erst, als die beiden sich schon schmerzlich damit abgefunden hatten, ohne Erben zu bleiben, war Vincent doch noch geboren und sogar von einem der Großväter als Geschenk Gottes bezeichnet worden.

Die ersten Jahre in Vincents Leben waren problemlos verlaufen und die Großeltern Swensson und Goddard schienen eine Art Wettkampf im Verwöhnen auszutragen, der manchmal merkwürdige Blüten trieb. Im Alter von zwei Jahren besaß Vincent bereits zwei Ponys, ein braun-weiß geschecktes von den Swenssons und ein schwarzes mit einer weißen Blesse auf der Stirn von den Goddards. Immerhin war aus Vincent ein guter Reiter geworden und in den Regalen seines Zimmers standen zahlreiche Pokale, die er auf Turnieren gewonnen hatte. Da Vincent auf Raitjenland aufwuchs, war es selbstverständlich, dass er alle Feiertage und später auch seine Schulferien auf der Goddardschen Farm verbrachte. Jared hatte seinen eigenen Vater nicht wiedererkannt, denn er selbst war von diesem nie verwöhnt worden. So betrachtete er das Ganze eher skeptisch, weil er befürchtete, dass sein Sohn, den er liebte, zu sehr verweichlichen würde.

In der Pubertät dann hatte der Spross von Raitjenland Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die erst selten, dann immer öfter zu Beschwerden der Lehrer oder anderer Leute führten, und auch seine Besuche auf der Goddardschen Farm nahmen ab. Vincent hing lieber mit seinen Freunden ab, das war wesentlich lustiger, als bei Großeltern den braven Enkel zu spielen.

Immer hatten sich Elisabeth und Jared nur wegen Vincent gestritten, wobei es beide ja nur gut meinten. Jared wäre seiner Frau am liebsten nachgeeilt, hätte sie in den Arm genommen und mit ihr gemeinsam geweint. Aber sein Trotz oder sein Stolz – er wusste es selber nicht – oder vielleicht beides, hatten ihn am Küchentisch festgehalten.

Zehn Minuten später war er mit einem festen Entschluss aufgestanden, wobei er fast den Stuhl umgeworfen hätte. Dann hatte er die Sachen zusammengepackt, die er sonst für einen längeren Jagdausflug mitnahm, hatte draußen seinen besten Jagdhund zu sich gerufen und die Farm verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Rest der Hundemeute hatte beleidigt hinter ihnen her geheult.

Auf dem Küchentisch würde seine Frau später einen Zettel vorfinden und lesen: »Ich werde unseren Jungen suchen und zurückbringen. Vorher komme ich nicht zurück. Es tut mir so leid. Ich liebe dich. Jared«

Wie ein Lauffeuer war die Nachricht von Vincents vermeintlicher Tat bis in den letzten Winkel von Winsget gedrungen. Manch einer, dem Scotty begegnete, schaute ihn an, als hätte er selber den Anschlag auf die Seherin verübt. Jeder wusste natürlich, dass Vincent sein bester Freund war, und aus den Augen einiger Mitbürger sprach unverhohlene Schadenfreude. Endlich hatten die reichen Jungs auch mal ein Problem, konnte ja auf die Dauer nicht gut gehen, mochte manch einer von ihnen denken.

Am liebsten hätte er den Leuten zugerufen: Hey, ich bin zwar mit Vincent befreundet, aber deswegen bin ich noch lange nicht für das verantwortlich, was er vielleicht getan hat, oder habt ihr etwa schon Beweise?

Ihn kotzte das Spießertum in seinem Heimatort an und er hatte auch aus diesem Grund schon oft seinem Vater vorgeschlagen, in eine der größeren Städte im Süden zu ziehen, in denen sie ebenfalls Geschäfte hatten. Aber der Vater hatte von einem Ortswechsel nie etwas wissen wollen.

»Hier sind unsere Wurzeln, Scotty, und hier bleiben wir. Winsget ist der Stammsitz unseres Unternehmens. Du wirst eines Tages deiner Reiselust frönen können, wenn du deinen Antrittsbesuch bei unseren Filialen machst, und die Reise wird länger dauern, als dir vielleicht lieb ist. Deine Freunde kannst du nämlich nicht mitnehmen«, hatte er ihm dann mit einem Augenzwinkern geantwortet. Dieses Augenzwinkern und die Art, wie sein Vater ihm das gesagt hatte, hatten ihm gezeigt, dass er ihn liebte und es gut meinte.

Scotty hatte es längst gedämmert, dass an dem Gerücht, das in Winsget die Runde machte, sehr viel dran war. Er hatte Vincent vor dessen sehr hastigem Aufbruch die halbe Speisekammer seines Elternhauses in den Rucksack gestopft und ihm versprochen nachzukommen, wenn der erste Sturm sich gelegt haben würde. Vincent war überhaupt nicht gelassen gewesen.

Vielmehr hatte im Blick des Freundes etwas gelegen, was er dort noch nie vorher gesehen hatte und deshalb auch nicht hatte einordnen können. Jetzt konnte er es. Es war Panik gewesen, reine Panik.

Sie hatten sich noch hastig an ihrem alten Platz an den oberen Wasserfällen der Agillen verabredet, bevor sich Vincent dann mit seinem Rucksack durch die Hintergärten davongeschlichen hatte. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr waren sie fast jeden Sommer für ein bis zwei Wochen mit ihren Freunden zum Baden und Jagen in das Gebirge gegangen, das von Gorg, einem majestätischen, aber erloschenen Vulkan, beherrscht wurde. In der wilden Berglandschaft hatten sie sich austoben können. Fernab von der Kontrolle durch Eltern oder Nachbarn.

Nicht, dass sie etwas Verbotenes getan hätten, das war dort gar nicht möglich, aber es tat einfach gut, wenigstens einmal im Jahr nur so in den Tag hineinzuleben und in zahlreichen Abenteuern seine erwachende Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Außerdem bestand dort nie die Gefahr, von einem der Väter, die in ihrer Jugend das Gleiche getan hatten, zur Arbeit gerufen zu werden. Das galt für ihn ebenso wie für Vincent.

Die Familie Valeren betrieb seit vielen Generationen in Winsget eine Tuchweberei mit einem großen angeschlossenen Verkaufsgeschäft und dieser Betrieb gehörte zu dem Ort wie die Mühle zum Bach. Es gab in jeder Winsgeter Familie mindestens eine Person, die in der Weberei oder dem Geschäft arbeitete. Die Produkte der Firma wurden weit über die Grenzen des Landes hinaus verkauft. Der Ort hatte den Valerens sehr viel zu verdanken. Scotty hatte das Glück gehabt, mit drei älteren Schwestern und vielen Angestellten die Arbeit teilen zu können, wenn man von Arbeitsteilung überhaupt sprechen konnte. Er war der jüngste Spross der Familie und vor allem sein Vater setzte all seine Hoffnungen in ihn. An einem weinseligen Stammtischabend war diesem einmal die Bemerkung herausgerutscht, dass er auch noch öfter geübt hätte, aber es wären nur vier Versuche nötig gewesen. Irgendjemand, vielleicht die Bedienung, hatte Scottys Mutter dies zugetragen und das hatte zu einem mehrwöchigen eisigen Schweigen zwischen seinen Eltern geführt. Unter Zuhilfenahme eines großen Straußes roter Rosen und eines ehrlich gemeinten reumütigen Blickes hatte es schließlich beendet werden können.

Nach dem Willen seines Vaters sollte Scotty einmal das Familienunternehmen leiten, eine tüchtige Frau aus gutem Hause heiraten, Kinder bekommen – möglichst Söhne – und so den Fortbestand der Valerens sichern.

Seine Mutter und seine Schwestern hatten ihn verhätschelt, vor allem weil er zart gebaut war und als Kind oft gekränkelt hatte. Aber inzwischen war aus ihm ein zäher, ausdauernder und ausgesprochen intelligenter junger Mann geworden. Dies machte ihn bei seinen Freunden beliebt, die ihn fast alle um mehr als einen Kopf überragten. Mit seiner pfiffigen Schlagfertigkeit hatte er der Clique aus mancher Patsche geholfen, besonders wenn schlagende Argumente oder die Beziehungen eines Vaters nicht mehr weitergeholfen hatten. Er selber konnte sich des Schutzes seiner stärkeren Freunde sicher sein, vor allem aber der Tatsache, dass er der Sohn von Harie Valeren war. Wenn Scotty allerdings an die Zukunftspläne seines Vaters dachte, wurde ihm jedes Mal flau in der Magengegend.

Der Firmengründer und Scottys Namensgeber Scott Valeren, dessen strenges Konterfei aus einem schwarzem Rahmen, der im Eingang der Weberei hing, auf die Kunden und Mitarbeiter herunterblickte, hatte vor 700 Jahren die Seidenweberei nach Flaaland gebracht und Winsget zu seinem Hauptsitz auserkoren. Warum es ausgerechnet Winsget gewesen war, war sein Geheimnis geblieben. Bald schon hatte er mit der künstlichen Aufzucht der Raupe des Seidenspinners begonnen, was die Firma weitgehend von Importen unabhängig gemacht hatte. Später war man sogar in der Lage gewesen, selber Rohseide zu exportieren.

Neben dem Bild des ehrwürdigen Firmengründers hing eine Tafel, deren kunstvoll gestalteten Inhalt Scotty auswendig herbeten konnte und der von der Geschichte der Seide kündete.

Als die Gemahlin des Kaisers Huang Di, Lei Zu, an jenem ›glücklichen Tag‹ spazieren ging, sah sie zwischen Maulbeerzweigen hängende, sanft leuchtende Gebilde. Wohl dem Baum entwachsene! Doch nein, eines der Früchtchen dehnte plötzlich seine Eigestalt und ein mehlweißer Schmetterling, bräunlich gestreift, schwirrte hervor. Nicht Obst war es gewesen, vielmehr das abgelegte Kleid des Schwärmers.

Lei Zu, mit dem weiblichen Interesse für Mode und Bekleidung, betastete dieses verblüffende Gewand von zauberhafter Weiche. Mit geschickten Fingern gelang es der Kaiserin bald, den Anfang des Fadens zu erfühlen. Leuchtend, glatt und klar ließ er sich vom Kokon herunterspulen. In ihm hatte sie das herrlichste Naturgespinst auf Erden entdeckt.

Jeder in der Familie wusste, dass sie in diesem Teil der Welt die Seide zwei Mönchen zu verdanken hatten, die in ihren hohlen Wanderstöcken sowohl Samen des Maulbeerbaumes als auch Eier des Seidenspinners aus dem damaligen China herausgeschmuggelt und damit das Monopol des damals größten Landes der Erde beendet hatten. Seide war in frühen Zeiten so begehrt und teuer gewesen, dass der römische Kaiser Tiberius seinem überschuldeten Volk das Tragen von Seide verbieten musste. Ein Pfund Seide hatte damals ein Pfund Gold gekostet. Und als Scottys Vorfahren noch in Fellen herumgelaufen waren, hatten sich die chinesischen Edelleute bereits in dem wertvollen Stoff gekleidet.

Die Weberei Valeren hatte fünfzehn Filialen, die über das ganze Land verteilt waren, und bis weit in den Süden reichten.

Winsget aber war das Herz der Seide, während die Flachs- und Wollwebereien der Firma Valeren, die alle von Verwandten geführt wurden, in anderen Orten ansässig waren.

Scotty war sich inzwischen überhaupt nicht mehr sicher, ob er einmal das Geschäft übernehmen wollte, wie es die Tradition forderte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte er noch nicht daran gezweifelt, er war ja sozusagen in Seide aufgewachsen und seine Spielplätze waren die Werkstätten und Geschäftsräume der Firma gewesen. Als er gerade drei Jahre alt gewesen war, wäre er fast in einen der kochend heißen Wassertröge gefallen, in denen die Arbeiterinnen die Larven in ihren wertvollen Kokons abtöteten, um dann die kostbaren Fäden zu gewinnen, die eine Länge von bis zu zweitausend Metern haben konnten. Es war nur dem reaktionsschnellen Zupacken einer Arbeiterin zu verdanken gewesen, dass Scotty lebte. Dafür hatte sie von Scottys Vater eine lebenslange Rente und vom Bürgermeister eine Urkunde sowie eine Ehrenmedaille erhalten.

Klara, die älteste seiner Schwestern, eignete sich seiner Meinung nach viel besser für das Webergeschäft. Sie kannte sich nicht nur in den Stoffen und Arten der Gestaltung bestens aus, sondern sie war auch ein Zahlengenie. In der Buchführung machte ihr niemand etwas vor. Während seine anderen Schwestern längst verheiratet waren und Kinder hatten, war Klara mit dem Geschäft verheiratet, wie sogar ihr Vater des Öfteren anmerkte.

Scottys heimliche Liebe, die er mit dreizehn Jahren entdeckt hatte, galt der Biologie und in seinen Träumen sah er sich auf einer Forschungsstation in einem unbekannten Land, und zwar sicher nicht auf einer, die sich mit Schmetterlingen, Faltern oder Raupen beschäftigte. Da Tradition in seiner Familie einen sehr hohen Stellenwert besaß, war ihm durchaus bewusst, dass er einen nicht unerheblichen Kampf würde austragen müssen, wenn er seiner heimlichen Berufung folgen wollte. Das letzte Quäntchen an Mut für diesen Kampf fehlte ihm jedoch noch.

Von dem um ein Jahr älteren Vincent war Scotty fasziniert.

Er bewunderte dessen lässige Art, die von anderen oft für Arroganz gehalten wurde. Scotty wusste, dass Vincent sich dadurch nur schützte. In Wirklichkeit war er nämlich sehr verletzlich, was er vor allem seinem Vater Jared nie gezeigt hätte, der seit seinem sechsten Lebensjahr unablässig bemüht war, aus ihm einen ›ganzen Mann‹ zu machen. Vielleicht hatte seine Mutter ihn zu sehr verwöhnt. Vincent würde als einziger Sohn einmal eine Farm übernehmen, die die größte im Umkreis von zweihundert Meilen war. Er konnte verstehen, dass sein Freund diesen Moment nicht gerade herbeisehnte und das Leben noch möglichst unbeschwert genießen wollte. Die Gesundheit Jareds verhieß ihm dabei gute Aussichten. Jeder wusste, was es bedeutete, eine Farm dieser Größenordnung zu leiten.

Vincent war frech und hatte keine Angst vor Autoritäten. Vor allem aber war er ein Lästermaul und es gab kaum jemanden im Ort, der von ihm nicht irgendwann schon einmal durch den Kakao gezogen worden war. Dass er nicht bei Saskia landen konnte, hatte Vincent schwer getroffen, wie schwer, das wusste nur Scotty, der eben auch hinter die lässige Fassade seines Freundes blicken konnte. Vielleicht hatte diese Mordattacke etwas mit Saskia zu tun, obwohl Scotty jetzt noch keine Verbindung zu der Seherin Brigit herstellen konnte. Er musste Saskia aufsuchen und mit ihr reden, und zwar möglichst bald.

Was die beiden jungen Männer am meisten verband, war ihre Leidenschaft für die Jagd und die Natur. Dabei ergänzten sie sich in einer geradezu perfekten Art und Weise. Scotty war sicher der beste Fährtenleser weit und breit, während Vincent ein hervorragender Schütze war. Diese Fähigkeiten, die sie auf den großen Treibjagden regelmäßig in den Dienst der Gemeinschaft stellten, hatten ihnen die Anerkennung der älteren Männer eingebracht, die im Gegenzug ein Auge zudrückten, wenn sie mit ihrer Clique wieder irgendetwas angestellt hatten.

Er fragte sich auf dem Weg zum Bürgermeisteramt, was wohl Vincent mit Brigit zu tun gehabt haben könnte. War er etwa doch bei ihr gewesen und hatte von ihr etwas Unangenehmes erfahren? Aber welche Mitteilung konnte eine einigermaßen plausible Erklärung für einen Mordversuch sein? Scotty schüttelte diese Gedanken gleich wieder ab – sie würden doch nirgendwohin führen. Sie hatten die Seherin nie wirklich ernst genommen, sondern sie sogar unter sich als ›durchgeknallte Hexe‹ bezeichnet. Oft genug hatten sie sich über sie lustig gemacht, besonders dann, wenn wieder irgendjemand in ihrem Beisein deren seherische Fähigkeiten gelobt hatte.

»Alles Unsinn«, hatten sie dann zum Beispiel gerufen, »ihr glaubt auch jeden Scheiß, den euch jemand aus einer Kristallkugel liest! Reine Verarschung ist das! Unglaublich, womit man alles Geschäfte machen kann. Ist doch klar, dass genau das eintritt, was sie euch voraussagt. Es geschieht, weil ihr es glaubt, nicht weil sie es weiß. Kommt Freunde, lasst uns auf die Dummheit trinken. Immerhin kann jeder mit seiner Kohle machen, was er will, hahaha.« Unter schallendem Gelächter hatten sie dann noch die eine oder andere, in ihren Augen witzige oder geistreiche Bemerkung fallen lassen, bevor sie sich dann wieder ihren Lieblingsthemen, Frauen und Jagd, widmeten, die besonders zu vorgerückter Stunde zu einem einzigen Thema verschmolzen und einem Autor fantastischer Literatur sicher alle Ehre gemacht hätten.

Was weder Scotty noch irgendjemand sonst aus Winsget, Onden oder Seringat zu diesem Zeitpunkt wusste, war, dass sein Freund Vincent nie die Farm seines Vaters übernehmen würde, nie wieder jagen würde und nie mehr irgendwelche Bemerkungen, weder witzige noch geistreiche, über andere Leute machen würde. Nicht, weil er sich über Nacht geändert hätte, sondern weil er tot war. Wären die Umstände seines Todes bekannt geworden, hätte es wohl auch dem Hartgesottensten einen Schauer über den Rücken gejagt.

Nachdem Scotty im Büro des Bürgermeisters auch nicht mehr erfahren hatte, war er mit einem festen Entschluss nach Hause zurückgekehrt. Er war gerade dabei, ein paar Sachen zu packen, als seine Mutter plötzlich im Zimmer stand. Er hatte sie gar nicht kommen gehört.

»Warum packst du, Scotty«, fragte sie ihren Sohn besorgt, »was hast du vor?«

»Ich muss Vincent suchen, Mutter, ich muss mit ihm reden und ihn dazu bringen, sich der Sache hier zu stellen, er macht mit seiner Flucht alles nur noch schlimmer. Ewig kann er sich sowieso nicht verstecken, sie werden ihn früher oder später finden. Ich glaube, er hat einfach den Kopf verloren, er war panisch.«

»Lass dich bitte von ihm nicht wieder in irgendeine seiner Geschichten reinziehen, Scotty, ich habe dir immer gesagt, dass Vincent kein guter Umgang für dich ist, und wie es aussieht, habe ich recht behalten.«

»Du hast ihn also auch schon vorverurteilt, Mutter, so wie alle anderen.« Ohne aufzuschauen, packte Scotty weiter seinen Rucksack.

»Nein, ich habe ihn nicht verurteilt, aber er hatte immer nur Flausen im Kopf, es ging ihm immer nur um sich selbst. Hat er sich auch nur einmal um dich gekümmert, wenn es dir schlecht ging? Ich habe einfach kein gutes Gefühl, wenn du ihn jetzt suchen gehst. Wo willst du ihn überhaupt finden, er kann überall sein.«

»Mach dir mal keine Sorgen, als Freund bin ich es ihm einfach schuldig, ich muss ihn finden, bevor die Suchtrupps kommen.«

»Du musst wissen, was du tust mein Sohn. Du bist schließlich alt genug«, seufzte seine Mutter und verließ resigniert den Raum.

Ein halbe Stunde später war Scotty auf dem Weg in die Agillen. Er hatte sich nicht von seinen Eltern verabschiedet, weil er eine weitere Diskussion vermeiden wollte. Außerdem war er sich sicher, dass er bald zurück sein würde.

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Die Siegel von Tench'alin

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