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Es war kein langer Marsch, den wir zurückzulegen hatten, wofür wir alle äußerst dankbar waren, denn die Sonne sandte uns ihre Strahlen mit brutaler Vehemenz entgegen und machte unsere Schädel wachsweich.

Stumm gingen wir nebeneinander. Diesen Luxus konnten wir uns gönnen, denn ein vorbeifahrendes Auto hatten wir bislang noch nicht gesehen.

Die Frau schlurfte geisterhaft durch meinen Kopf. Ausgeschlossen, dass ich sie mir eingebildet hatte, daran glaubte ich nicht für eine Sekunde. Ich erinnerte mich an meine Begegnung mit Werner Kalfanie. Ein simples Händeschütteln zur Begrüßung hatte genügt, um mir sein viele Jahre zurückliegendes Verbrechen vor Augen zu führen. Plötzlich stand sein Mordopfer, Sandra Weingart, vor mir und führte mich zu ihrem Grab. (Siehe Phenomena Band 4). War vorhin so etwas Ähnliches geschehen? War dies etwa auch ohne vorherigen Körperkontakt möglich? Ich schluckte, diese Möglichkeit bedrückte mich. Was war, wenn ich eines Tages umgeben war von einer Armee aus Geistwesen, die Absolution oder Rache von mir einforderten. Das war, dachte ich sarkastisch, der schnellste Weg ins Irrenhaus.

Allerdings war nichts dergleichen vorhin geschehen. Die Frau tauchte auf und verschwand wenige Sekunden später, ohne dass sie mir ihre Aufwartung gemacht hatte. Ich erinnerte mich an meine eigenen, nicht ganz ernsthaft gemeinten Worte von vorhin, dass der Ort unseren Besuch verhindern wollte. Die Frage, wie so etwas möglich sein konnte, stellte ich mir nicht, denn das hieße zu akzeptieren, dass diese Stadt mehr war als totes Gestein und ödes Ackerland.

Es war nicht so, dass das Licht dunkler wurde oder plötzlich keine Vögel mehr zwitscherten, nachdem wir das Ortseingangsschild passierten, es geschah nichts dergleichen, aber dennoch fühlte ich eine gewisse Spannung, als sei die Luft mit Elektrizität aufgeladen. Womöglich nur Einbildung, was kein Wunder wäre nach dem Unfall, aber dennoch wollte ich auf der Hut sein.

Im Hintergrund sahen wir eine kleine Ansammlung von Häusern, die dichtgedrängt in einer leicht abschüssigen Senke standen, rundherum war die Gegend bewuchert mit Wäldern und Weideflächen. Auch landwirtschaftlich genutzte Flächen sahen wir zuhauf. Im Ortskern sah ich eine Kirche aufragen, es war das höchste Gebäude Briststedts. Aus der Ferne wirkte der Ort wie tausende andere auch.

Wir näherten uns dem kleinen Hof. Zwar sahen wie niemanden, jedoch flatterte an einer langen Leine bunte Wäsche, vereinzelt blitzten die Fenster im Sonnenschein. Ein alter BMW stand im Hof. Jemand schien also zu Hause zu sein.

Auch auf der anderen Straßenseite, noch etwas weiter entfernt, stand ein Haus, zu dem einige Anbauten gehörten. Jedoch befanden sich die Gebäude in einem bedeutend schlechteren Zustand. Selbst aus der Ferne entdeckte ich einige fehlende Dachschindeln. Umrahmt wurde das Grundstück von wuchernden Gräsern. Der Wind wirbelte eine Staubwolke auf.

»Wirkt nicht sehr einladend«, murmelte Stefan und deutete mit dem Kinn auf das entfernt liegende Grundstück.

»Wirklich nicht.«, stimmte Lita ihm zu. »Das sind bestimmt die Außenseiter hier im Ort. Jede Wette, dass dort keine Frau wohnt.«

Ich suchte nach einer scharfen Entgegnung, jedoch fiel mir keine ein; vermutlich, so dachte ich, hatte Lita recht mit ihrer Behauptung.

Stefan schaute zum Himmel, der sich mit einem solch tiefen Blau über uns spannte, dass dies selbst für ein Postkartenmotiv zu übertrieben gewirkt hätte. Der schwache Wind kühlte die heiß-trockene Luft kaum ab. Er wischte sich mit einer übertriebenen Geste über die Stirn.

Lita fuchtelte einige Fliegen fort, die in ihrer Nähe summten. Auch um mich schwirrten sie herum und weckten üble Assoziationen zu unserem letzten Fall. (Siehe Phenomena Band 6)

»Gehen wir erst einmal zum Haus«, meinte ich. Ich spürte den Schweiß am Rücken hinunterrinnen und freute mich darauf, für einige Minuten im Schatten zu verschnaufen.

»Gute Idee«, meinte Lita. Ihr machte die Hitze scheinbar weniger zu schaffen als Stefan oder mir. Sie schirmte ihre Stirn mit der Hand ab. »Das Haus dort drüben gefällt mir wirklich nicht. Das sieht mir nach gesundem Ackerboden aus, aber alles liegt brach und wirkt im Gegenteil sogar verwildert. Und ich sehe auch kein weidendes Vieh. Wovon leben die Leute dort?«

»Ja, das ist eine gute Frage«, murmelte Stefan. »Aber möglicherweise ist der Hof gar nicht mehr bewohnt, vielleicht steht er zum Verkauf.« Er wollte noch mehr sagen, jedoch sahen wir in dieser Sekunde einen Mann aus einem Seiteneingang treten und zum Haupthaus gehen. Der Hof lag zu weit entfernt, um weitere Details erkennen zu können, doch selbst über diese große Distanz hinweg wirkte der Mann auf unerklärliche Weise unheimlich. Ich nahm an, dass wir alle diese Ausstrahlung spürten. Er verschwand im Haus, ohne einen Blick in unsere Richtung zu werfen.

Ich fühlte mich seltsam benommen, was durchaus an der Hitze liegen mochte. Ich massierte meine Schläfen, um diesem Schwebezustand zu entrinnen. Wir hatten nicht daran gedacht, Mineralwasser mitzunehmen, was ich nun bedauerte. »Gehen wir weiter. Wir sollten aus dieser Gluthitze rauskommen.« Ich klatschte in die Hände und ging voran. »Vielleicht bekommen wir dort ein kühles Bier.«

»Alkohol im Dienst? Das geht aber nicht«, protestierte Lita.

»Spielverderberin«, murrte Stefan.

»Aber das weißt du doch.« Sie warf ihm einen zwinkernden Blick zu.

Wir gingen stumm weiter, zum Reden hatte niemand mehr die rechte Energie.

»Endlich«, schnaufte Stefan. Sein Gesicht war gerötet, und Schweiß rann ihm von der Stirn. Wir gingen durch eine breite asphaltierte Einfahrt und stöhnten erleichtert auf, als wir im Schatten einer großen Buche standen. Das Grundstück war zum Teil durch hüfthohe Mauern oder durch Hecken eingesäumt. Niemand war zu sehen, doch wir hörten Stimmen aus dem Hauptgebäude. Ich warf einen Blick auf die flatternde Wäsche, die auf eine mehrköpfige Familie schließen ließ. Neben dem großen Haus und dem Nebengebäude sah ich weitere Anbauten unterschiedlicher Größe. Einige standen offen, doch viel konnte ich von meiner Position nicht erkennen. Der Wind fing sich in den Ecken und Luken der Gebäude und erzeugte eine düstere Melodie, die dem Tod ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hätte. Sand und Staub erhoben sich zu einem kurzen Tanz.

Der BMW, ein alter 5er, der auf der Fahrerseite einige Beulen aufwies, war mit einer Staubschicht überzogen.

Mein Blick fiel auf eine kleine Ansammlung von Spielzeug, das vermutlich einem Jungen gehörte. Auch ein Kinderfahrrad sah ich, das verlassen am Boden lag. Der Anblick erleichterte mich. Wer Kinder hatte, gehörte, so hoffte ich, zu der zugänglichen Art von Menschen.

Der Wind nahm an Stärke zu, kleine Staubpartikel wehten uns ins Gesicht, und wir mussten unsere Augen schützen. Stefan schimpfte leise vor sich hin und wandte sein Gesicht ab.

Sein Monolog hielt einige Sekunden an, bis Lita ihn anblaffte: »Könntest du damit bitte aufhören?« Finster blickte sie ihn an.

Verdutzt schwieg Stefan und zuckte mit den Schultern.

»Gehen wir näher zum Haus, vielleicht bemerkt man uns dann«, sagte ich. Wir setzten uns in Bewegung und näherten uns dem Haus. Dabei entdeckten wir einen großen, im Schatten liegenden Verschlag, in dem sich Dutzende Kaninchen tummelten, die augenscheinlich wohlgenährt waren.

»Süß«, meinte Lita betont fröhlich, um die ein wenig gereizte Stimmung aufzuhellen, und ging näher an den Verschlag heran. Als die Tiere ihre Bewunderin bemerkten, drängten sie sich panisch in die hinterste Ecke ihres Heims.

»Sie hingegen scheinen dich gar nicht so süß zu finden«, bemerkte ich mit einem breiten Grinsen auf meinen Lippen, was Lita mit einem bösen Blick quittierte.

»Sie sind ein wenig menschenscheu«, sagte eine Stimme seitlich von uns. Als wir unsere Köpfe wandten, sahen wir eine Frau, die aus der Haustür getreten war. Neben ihr stand ein Junge, der kaum acht Jahre alt war und uns aus großen Augen scheu anschaute. Am Hinterkopf stand ein Büschel seines blonden Haars ab, was wie eine Feder am Kopf eines Indianers wirkte.

Lita lächelte, als sie das sah, und trat näher. »Guten Tag«, sagte sie. »Ich hoffe, wir stören Sie nicht. Wir sind auf der Durchreise, doch leider hatten wir einen Unfall, und da wollten wir zunächst einmal in den Ort gehen. Dabei fiel uns Ihr Haus auf.« Sie stellte sich und uns vor.

»Sie stören nicht«, entgegnete die Frau und nickte uns freundlich zu. Ihre Augen leuchteten, was jedoch auch am Sonnenschein liegen mochte. »Sie sind herzlich willkommen. Treten Sie ein.« Danach warf sie dem schweißüberströmten Stefan einen Blick zu. »Es sei denn, Sie möchten sich erst frisch machen. Das können Sie im Haus erledigen oder auch ganz pragmatisch dort hinten am Brunnen. Das Wasser ist klar und erfrischend. Man kann es auch bedenkenlos trinken. Bedienen Sie sich nur.«

»Das würde ich gern tun«, sagte Stefan und lächelte dankbar. »Und ihr?« Er blickte uns an. »Kommt ihr mit?«

Lita und ich verständigten uns mit einem kurzen Kopfnicken. »Eine Erfrischung stünde uns allen gut zu Gesicht«, sagte Lita zu der Frau, die eine auffordernde Geste machte und meiner britischen Kollegin ein zuvorkommendes Lächeln schenkte.

»Nur zu, nur zu. Danach kommen Sie bitte ins Haus.«

Wir gingen zum Brunnen, auf dessen Umrandung aus Stein ein Blecheimer stand.

»Wie im Mittelalter«, staunte ich. Ich blickte in die Tiefe, sah das unbewegte Wasser und spürte den kalten Lufthauch, der mir von unten ins Gesicht wehte. Dann ließ ich den Eimer, an dessen Griff ein Seil geknotet war, hinab. Der Eimer schwang hin und her und stieß immer wieder gegen die Mauer des Brunnens. Schließlich hörten wir, wie er klatschend die Wasserlinie erreichte. Nachdem der Eimer gefüllt war, hievte ich ihn wieder hinauf. Das Wasser glitzerte verführerisch klar im Schein der Sonne. Notdürftig wuschen wir uns den Schweiß und den Staub aus unseren Gesichtern und Nacken und genossen das kalte Wasser.

»Es schmeckt ausgezeichnet«, sagte Stefan, der mit zwei Händen Flüssigkeit aus dem Eimer schöpfte. »Besser als jedes Mineralwasser.«

»Ich weiß nicht, ob das so klug war«, versetzte Lita. »Es könnten Bakterien drin sein.«

Stefan zuckte mit den Schultern. »Aber die Frau sagte doch …«

»Man beobachtet uns«, unterbrach ich ihn und deutete unmerklich mit dem Gesicht zu dem Haupthaus hinüber. »Die Gardine hinter dem zweiten Fenster neben der Tür hat sich bewegt.«

»Die Leute haben ein Recht, misstrauisch zu sein«, sagte Lita. »Sie werden nicht allzu oft Besuch bekommen. Ich fand es schon erstaunlich, dass die Frau uns so ohne Weiteres eingeladen hat. In der Großstadt wäre uns das nicht passiert.«

»Dann sollten wir sie nicht zu lange warten lassen und die perfekten Gäste mimen«, meinte ich und ging auf das Haus zu.

Stadt des Unheils: Phenomena 7

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