Читать книгу Das Grauen schleicht durch München: Phenomena 6 - Klaus Frank - Страница 10
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ОглавлениеEr war tot und doch nicht tot. In ihm glomm unstet ein Bewusstsein, aber es schien nicht sein eigenes zu sein. Es kam Lannertz so vor, als wechsle er von einem Alptraum zu nächsten. Dies war nicht das Jenseits, sondern immer noch die Erde, auf welcher er umherwandelte. Er konnte sich an kein Licht erinnern, das ihn lockte, hinter dem ewige Verheißung wartete, es gab keine Stimme, die ihn begrüßte und ihm seinen Platz auf der Wolke zeigte. Hier gab es lediglich Schmerzen und Mühen, unendlicher Zorn und Angst. Und dieses Gefühl, ausgenutzt zu werden.
Was war nur geschehen? Lannertz konnte sich an sein würdeloses Ende sehr gut erinnern; diese Erinnerung war ganz besonders präsent, als habe jemand ihm davon eine Überdosis injiziert.
Er konnte auch jetzt noch den Wind spüren, der durch das geöffnete Fenster drang, das schläfrige Summen der Fliegen hören, er konnte seinen ungewaschenen Körper riechen. Dann das Erklimmen der Fensterbank, das sekundenlange Verharren in affenartiger Haltung, dann der kleine Schritt mit dem rechten Bein ins Nichts, wodurch sein gesamter Körper ins Kippen geriet.
Er erinnerte sich, dass im letzten Sekundenbruchteil vor dem Aufprall Angst in ihm erwacht war, doch zu mehr als einem panischen Zappeln mit den Beinen war es nicht gekommen. Lannertz starb stumm wie ein Fisch, während sein Blut einen roten Kranz um seinen Schädel zeichnete.
Und dann kam das Erwachen. In einem kühlen Raum hatte er sich wiedergefunden, würdelos auf einer Bahre liegend wie Abfall. Es roch nach Desinfektionsmitteln und irgendwie nach bitterer Medizin. Dahinter schimmerte der Duft des Todes durch. Er befand sich nicht allein in dem Raum; neben ihm lag eine Frau. Sie war alt und fett; das wusste er, obwohl er nichts sehen konnte. In seinem jetzigen Zustand standen ihm offenbar Sinne zur Verfügung, die einem lebenden Menschen verwehrt blieben.
Er strich mit einer Hand über den kalten Körper der Frau, dann ließ er sie hinter sich zurück. Es war so einfach, in völliger Dunkelheit zielstrebig zur Tür zu schlurfen, diese aus den Angeln zu reißen und durch den beleuchteten Gang zur nächsten Tür zu gehen, hinter der die Freiheit wartete.
Sein Erwachen diente nur einem Zweck, das wusste Lannertz. Schon mit dem Augen aufschlagen erfassten seine untoten Sinne das Ziel: Rache. Rache an jenen zu üben, die für das Drama in der Tankstelle in Riemerling verantwortlich waren. Simple, blutige Rache. Es mussten keine Fragen gestellt oder Antworten erbeten werden. Die Währung, in der gezahlt wurde, hieß Blut und Vergeltung.
Was immer es war, das ihn antrieb, ihn denken und sehen ließ: Es kam von außen, er wurde von einer Quelle gespeist, die sich ihm nicht zu erkennen gab, und er folgte ihrem Raunen klaglos. Er hatte diesbezüglich auch keine Wahl. Er wäre gerne auf der Bahre liegen geblieben, bis man ihn am nächsten Morgen abgeholt und aufgeschnitten hätte.
Viel Zeit blieb ihm nicht, seine Aufgabe zu erfüllen, das wusste er. Sobald das Fleisch anfing, in fauligen Fetzen von seinem Körper zu fallen, und die mürben Muskeln bei den geringsten Anstrengungen rissen, war er am Ende. Schon die zahllosen Fliegen, die ihn am Tag umschwärmt hatten, waren ein Problem. Sie legten ihre Eier unter seiner Kleidung oder in geschützten Körperöffnungen und in allen Hautfalten, in welche die Biester zu schlüpfen vermochten. Auch Vögel waren im Laufe des Tages, während er regungslos verharrte, zu ihm gestoßen und hatten Stellen erforscht, an denen sich zu picken lohnte, in der Hauptsache im Nacken und im Gesicht.
Aus diesen Gründen war Eile geboten, denn er wusste, die Natur würde sich nicht um Zurückhaltung bitten lassen, sondern sich schamlos nehmen, was ihr zustand.
Hinzu kam, dass Lannertz nur in den Nächten aktiv werden konnte, während er die Tage in einem Versteck ausharrte. Unbeteiligte sollten nicht Teil der Rache werden, solange sie den Plan nicht gefährdeten. Die fremden Befehle, die in seinem Kopf summten, waren eindeutig. Er mochte ein Monster sein, doch eines, für das Rücksicht der oberste Grundsatz war.
Es war 21 Uhr am Abend, noch nicht die rechte Zeit, seinen Auftrag zu erfüllen. Lannertz versteckte sich seit Stunden in einem kleinen Waldstück im Norden Neuperlachs, wo Bassmann und Borger wohnten. Es herrschte beinah völlige Dunkelheit, doch auf den Straßen gab es noch zu viel Verkehr.
Er stand ohne jede Regung im Schutz einiger Bäume, die von Büschen gesäumt wurden. Den ganzen Tag hatte er die Stimmen von Spaziergängern vernommen, doch niemand war ihm so nahegekommen, dass die Gefahr einer Entdeckung drohte. Er hatte sein Versteck gut gewählt.
Eine Spinne hatte zwischen Stirn und Hemdkragen ein Netz gewoben; jetzt, da es dunkel wurde, schlüpfte sie unter seine Kleidung und wartete geduldig auf den nächsten Tag.
Da hörte er das Bellen eines Hundes. Noch fern, aber dennoch gut vernehmbar, ganz sicher in dem Waldstück, in welchem er seit Stunden unbemerkt verharrte.
Eine Stimme wurde laut, die dem Hund das Bellen verbot. Dann ein Lob, als es tatsächlich so geschah, und das Lachen einer zweiten Person war zu hören. Die Spaziergänger näherten sich. Lannertz änderte seine Körperhaltung nicht um eine Winzigkeit, aber seine untoten Sinne sondierten die Lage. Sein Schädel, der überzogen war von verkrustetem Blut, drehte sich leicht von einer Seite zur anderen. Dies ging nur ruckartig wie bei einer defekten Maschine. Durch den Sturz hatte er sich etliche Knochenbrüche zugezogen, die ihn an einer Vielzahl von reibungslosen Bewegungsabläufen hinderten. Auch sein rechtes Knie hatte Schaden genommen; bei jedem Schritt knirschte es vernehmlich, wenn Knochensplitter aneinander rieben. Doch der Tod und sein Wiedererwachen waren gütige Verbündete und ersparten ihm jeglichen Schmerz. Dankbarkeit empfand er nicht; wenn überhaupt, dann summte ein leises Gefühl von Zufriedenheit in seinem erkalteten Körper.
Die Stimmen näherten sich nicht, erkannte er, der bellende Hund jedoch schon. Er hatte offenbar Witterung aufgenommen. Zu Lebzeiten hätte Georg Lannertz den Mund verzogen und einen Fluch gemurmelt; jetzt verharrte er reglos im Dunkel und wartete.
Ein Rascheln im Gebüsch, ein Hecheln ganz in der Nähe. Über ihm flog ein aufgescheuchter Vogel davon. Lannertz erkannte ein braunes Fellbündel vor sich, kaum kniehoch, das ihn mit funkelnden Augen anstarrte und ihm das Gebiss zeigte.
Sein Ziel, nicht aufzufallen, drohte zu scheitern. Der kläffende Köter konnte alles zunichtemachen.
Der Hund wurde gerufen, aber der dachte nicht daran, dem Befehl zu folgen. Er ließ die Beute keine Sekunde aus den Augen. Er wurde mutiger und näherte sich dem Unheimlichen, der verheißungsvoll nach Blut und Tod roch. Einmal kam er ihm so nah, dass er nach dem Hosenbein schnappte, doch in der nächsten Sekunde sprang er wieder zurück.
Der erloschene Blick des Toten folgte dem Hund mit jeder seiner Bewegungen. Und wieder fasste der Köter den Mut, nach seinem rechten Bein zu schnappen. Die Beute gehörte ihm, sie wehrte sich nicht, sie war ihm unterlegen. All dies schwang in seinem kehligen Knurren mit, während er am Hosenbein und dem Fleisch, das darunter lag, riss und zerrte.
Lannertz ließ den Hund für einige Sekunden in seinem Glauben, dann schwang sein linkes Bein vor, so schnell, dass der rasende Hund das Unheil erst im letzten Moment bemerkte. Der Fuß traf den Schädel des Tieres, das fortgeschleudert wurde. Sein Fall wurde jedoch vom dichten Gebüsch gebremst. Verkeilt in dornigen Zweigen strampelte der Hund mit allen Vieren und versuchte, sich aus seiner Lage zu befreien, doch die Dornen hatten sich in seinem kurzen Fell vergraben und ließen ihn nicht frei.
Genauso schnell wie sein Bein war nun die Hand des Untoten, die den Hund trotz der Dunkelheit zielsicher am dichten Nackenfell griff und ihn roh aus den dornigen Ranken riss. Ein beträchtlicher Teil der Haare blieb im Gebüsch zurück. Das Tier, nun ängstlich, knurrte und winselte, doch es stieß auf taube Ohren. Der Duft, der von dem Unheimlichen ausging – fleischig, blutig - betäubte beinah die empfindliche Nase des Hundes.
Er hing hilflos in dem Griff, aus eigener Kraft konnte er sich nicht befreien. Er konnte lediglich ein drohendes Knurren ausstoßen und sein imposantes Gebiss zeigen.
Er hörte die Stimme seines Herrchens, das nach ihm rief. Ein leises Winseln drang aus seiner Schnauze, es klang verloren, es klang nach Abschied.
Lannertz klemmte sich den Hund unter einen Arm, dann packte er mit beiden Händen seinen Schädel und drehte ihn in eine Richtung nach oben. Er spürte den Widerstand – Bänder und Sehnen, die sich aufdrehten und rissen –, der Hund strampelte hilflos mit den Pfoten, seine Blase entleerte sich. Dann sprangen die Wirbel entzwei, Knochen brachen mit dem Geräusch trockener Zweige. Schließlich hing das Tier schlaff und still in seinen Armen, nur ein letzter Schnaufer entfuhr ihm noch.
Lannertz ließ den Kadaver fallen wie ein nutzloses Spielzeug.
Ohne Hast entfernte er sich aus seinem Versteck und schlug sich tiefer durch das Dickicht, die Stimmen blieben bald hinter ihm zurück. Nach einigen Minuten – es war nun völlig finster – blieb er neben einem Baum stehen. Dort verharrte er mehrere Stunden völlig reglos und wartete auf den rechten Zeitpunkt.