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Georg Lannertz hatte denselben Kenntnisstand wie sein Freund Bassmann, jedoch weniger Gewissensbisse. Letztlich, so überlegte er, war die Kleine nicht völlig unschuldig an ihrem Schicksal. Sie hätte einfach Geld und Zigaretten in den Rucksack packen müssen, ohne großes Gerede. Kein Herumzicken, kein Feilschen! Doch dieses weibische Herumgeseiche hatte letztlich Vitalis Zeigefinger, der am Abzug lag, zucken lassen, und schon war es um sie geschehen.

Es hätte nicht so kommen müssen, sagte er sich immer wieder, und er spürte, wie beruhigend dieser Gedanke war, beinah so wie die Streicheleinheit einer liebenden Mutter. Es hätte nicht so kommen müssen.

So ein Überfall, richtig geplant und ausgeführt, war eine läppische Kleinigkeit. Eine Tankstelle war nicht Fort Knox. Rein, mit viel Gebrüll den Menschen hinter der Kasse einschüchtern, und wieder raus. Rein, raus! Dass Vitali die Nerven verloren hatte, war ein Detail, mit dem Georg sich in den letzten Tagen kaum beschäftigt hatte. Erst im Abstand einiger Stunden gelang es ihm, der Kugel genau die Wichtigkeit einzugestehen, die sie verdiente. Sie hatten mit dem Geschoss einen Menschen gekillt. Die Frau war nicht tot, wusste er, aber ihr derzeitiger Zustand machte keinen großen Unterschied.

Die Kameras bekümmerten ihn. Mindestens ebenso wie der bissige Kommentar des Polizeisprechers: Man sei zuversichtlich!

Seine eigene Zuversicht ging hingegen zum Teufel, sie war unansehnlich wie ein Fleck in seiner Unterhose. Sie mussten langsam damit beginnen, ein Alibi zu erfinden. Es musste eines sein, das jedem Verhör standhalten konnte, selbst dann, wenn ein Bluthund es führte.

Er lebte alleine in einer kleinen Wohnung. Da er selten Besuch empfing, war es ihm gleichgültig, dass jeder Quadratmeter ein unordentliches, staubiges und klebriges Pflaster war. In der kleinen Küche türmte sich das schmutzige Geschirr. Der Mülleimer quoll über, zur Freude der herumsurrenden Fliegen, und das Klo hatte er seit vielen Wochen nicht geputzt.

War schließlich nur sein eigener Dreck, kein Grund also für ihn, Ekel zu empfinden. Es kam, wie immer, auf die Sichtweise an. Die Fliegen fühlten sich leidlich wohl bei ihm. Und waren sie nicht, dachte er mit einem Grinsen, genauso Gottes Geschöpfe wie er?

Er saß auf dem Sofa, das ihm gleichzeitig als Bett diente, und schaute auf den Fernseher.

Er vermochte nicht zu sagen, welchen Film er schaute, da sich ständig seine vorlauten Gedanken in den Vordergrund schoben und seine Aufmerksamkeit beanspruchten, doch plötzlich waren auch sie still. Sie schwiegen wie eingeschüchterte Kinder. Ein Schauer durchfuhr ihn, sein Blick richtete sich auf die Wand hinter dem Fernseher, doch er ging durch sie hindurch, wie es schien. Seine Stirn war gerunzelt, die kleinen Stimmen der Fliegen drangen mit einem Mal aus einer großen Entfernung zu ihm.

Hätte jemand ihn gesehen, wäre dessen Meinung gewesen, einen Betrunkenen vor sich zu haben, der nicht weit vom Delirium entfernt war.

Sein Blick verdunkelte sich, als habe der Schatten einer Hand sich über sein Gesicht gelegt. Er schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus, erhob sich und ging zum Fenster, das feucht vom letzten Regenguss war. Er starrte eine Weile hinaus, dann öffnete er das Fenster. Unangenehm kühle Luft drang in das Zimmer und verwirbelte den tagelang angestauten Mief. Seine Wohnung lag im vierten Stock eines der vielen Hochhäuser in Neuperlach. Er blickte auf eine vernachlässigte Rasenfläche, die von einigen Bäumen gesäumt wurde. Zwischen Haus und Rasen verlief ein Weg, der zu den Fahrradstellplätzen führte.

Langsam, als zelebriere er sein Vorgehen, kletterte Lannertz auf die Fensterbank. Schwankend blieb er in gebückter Haltung dort stehen. Das Grinsen war längst aus seinem Gesicht verschwunden, es zeigte einen Ausdruck höchster Ernsthaftigkeit. Es schien vor Konzentration zu glühen.

Wind peitschte ihm entgegen, er brachte vereinzelte Regentropfen mit, die an seinen Wangen hafteten wie eiskalte Tränen.

Ein leises Geräusch drang aus seinem Mund, weder Schrei noch Wort.

Er schaute nach links und rechts, als wolle er sich vergewissern, dass kein Zeuge ihn bei seinem Tun beobachtete, dann tat er einen Schritt ins Leere und fiel schweigend in die Tiefe. Erst in der Sekunde seines wenig eleganten Sturzes gewann er die Herrschaft über seinen Körper wieder, doch zu mehr als ein kurzes Strampeln mit den Beinen langte es nicht. Er stürzte mit einem endgültigen, harschen Laut auf den asphaltierten Weg, der sich unter seinem reglosen Körper rot färbte.

Das Grauen schleicht durch München: Phenomena 6

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