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Zwei Tage später entdeckte Kevin Bassmann den Artikel im Lokalteil der Bild-Zeitung. Die Frau war nicht tot, doch ihm schien, als sei ihr Schicksal wesentlich schlimmer. Sie lag im Koma, darüber hinaus würde sie vermutlich, wie es in dem kurzen und neutral verfassten Artikel zu lesen war, gelähmt bleiben. So weit hätte es nicht kommen müssen, wie ein Polizeisprecher zitiert wurde, wenn rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet worden wären. Die Frau hieß Jandira Sousa und stammte, genau wie Kevin vermutet hatte, aus Brasilien. Im letzten Absatz stießen Kevins Augen, die von Zeile zu Zeile hasteten, auf die Information, vor der er sich am meisten gefürchtet hatte. Wieder wurde der Polizeisprecher zitiert: Die Täter waren von den Kameras erfasst worden. Man sei zuversichtlich, in Kürze die ersten Erfolge vermelden zu können.

Bassmann sank in sich zusammen. Für mehrere Minuten war er unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. In seinem Kopf herrschte völlige Stille, nur zwischen seinen Ohren hörte er ein wasserfallartiges Rauschen.

Irgendwann zuckte er zusammen, weil er in seiner gekrümmten Haltung Schmerzen im Rücken bekam.

Vitali hatte sie ins Unheil gestürzt. Er und nur er war Schuld an dieser Misere. Er hatte nicht nur die Frau – Kevin schaute in die Zeitung, um sich den Namen wieder in Erinnerung zu rufen: Jandira – erledigt, sondern auch ihn und Georg.

Ein vager Plan an Flucht schoss ihm durch den Kopf, doch er verabschiedete sich sofort wieder von ihm. Wohin sollte er fliehen? Er hatte kaum Geld und besaß nicht genügend Fantasie, sich welches zu besorgen. Sich stellen und seine Freunde verraten? Dadurch bekäme er gewiss eine ermäßigte Strafe. Dennoch bliebe ihm eine Gefängnisstrafe vermutlich nicht erspart. Er wollte nicht in den Knast, auf gar keinen Fall! Draußen war es schlimm, doch dort musste es noch viel schlimmer sein. Er schloss die Augen und sah im Geiste Sträflinge, die einen Neuankömmling wie ihn bei der erstbesten Gelegenheit vergewaltigten. Sie würden sich an seinen Schreien ergötzen, seine Bettelei zum Anlass nehmen, ihn nochmals zu nehmen. Und die Wärter? Die würden grinsend danebenstehen und Wetten abschließen, wann er zusammenbrach.

Niemals!, schwor er sich, niemals gehe ich in den Knast. Eher bring ich mich um.

Eher bring ich mich um. Die Konsequenz des Schwurs hallte in ihm nach. Ihm wurde klar, dass sein Leben, wenn er ihn einlöste, in Tagen oder schon in Stunden vorüber sein könnte.

Er dachte an Claudia, die im Moment in Nürnberg weilte, weil es in ihrer Familie einen Trauerfall gab. Morgen schon wollte sie zurückkehren. Kevin hoffte, dass sie zuerst in ihre Wohnung ging und über das Wochenende auch dort verweilte. Sie kannten sich seit über fünf Jahren. Streits kamen häufiger vor als Bekundungen ihrer Liebe. Claudia Geretz war acht Jahre älter als Bassmann, jedoch immer noch auf der Suche; nach sich selbst, nach einem Mann, dem sie vertrauen konnte. Sie war, dachte er, mindestens so verloren wie er. Er hatte nur dann das Gefühl, sie zu brauchen, wenn sie abwesend war, und sie empfand umgekehrt vermutlich ganz genauso.

So wie jetzt. Im Moment konnte er sich gut vorstellen, ihr alles zu gestehen, doch er wusste, er würde kein verstocktes Wort über die Lippen bringen, sobald sie neben ihm auf der Couch saß und mit ihrer herrischen, ungeduldigen Stimme verlangte: »Red schon!«

Er schluchzte und ballte die Hände zu Fäusten. In seinem Blick stand Verzweiflung und tiefe Resignation. Er schreckte auf, als er bemerkte, dass eine einzelne Träne aus seinem rechten Auge lief. Zögernd wischte er sie mit seinem Zeigefinger auf und betrachtete sie eingehend. Er hätte kaum zu sagen vermocht, wie das ging: Tränen zu vergießen. Er war zu abgestumpft für solcherart Vorgänge, zu sehr Stein geworden.

Mit einer unwirschen Bewegung wischte er den Zeigefinger an seiner Hose trocken. Weitere Tränen wollten nicht kommen, nur dieses eine traurige Exemplar hatte den Mut besessen, sich zu zeigen.

Ob er seine Freunde informieren sollte? Er hatte sie seit Dienstag – dem Tag des Unheils – nicht mehr gesehen, nur einmal mit Georg telefoniert. Dieser hatte Kevin beschworen, nicht die Nerven zu verlieren. Sie mussten zusammenhalten, sie waren doch Freunde.

Es wird nichts passieren, wenn wir keinen Fehler machen!

Gespensterhaft vernahm Bassmann die Stimme seines Freundes. Dann hätten wir an die Kameras denken sollen, dachte er. Dann hätten wir das alles besser nicht machen sollen!

Kevin vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine Gedanken kreisten fortwährend um diese Geschichte. Selbst nachts, so schien, spulte er in seinen Träumen die Geschehnisse in einer Endlosschleife ab.

Er hatte sich für den Rest der Woche krankgemeldet. Er wusste, das war aus vielerlei Hinsicht eine schlechte Entscheidung, da sein Arbeitgeber betriebsbedingte Kündigungen angedroht hatte, und der unverblümte Kommentar seines Vorgesetzten lautete, dass jemand, der wegen Wehwehchen und Kinkerlitzchen zu Hause blieb, nicht erwarten könne, bei der Entlassungswelle wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Doch Kevin konnte sich nicht vorstellen, überhaupt jemals wieder einen Job anzunehmen. Seine Nerven waren seit vorgestern so schwach wie ein angesengter Bindfaden.

Noch schlimmer hingegen war die Tatsache, dass er seine Gedanken nicht im Griff hatte. Wenn er aß, döste, schiss oder einkaufte, hatte er stets dieses vor Angst verstörte Gesicht der Frau vor Augen. Und ständig begleitete ihn wie ein wahnsinnig gewordener Schatten die Befürchtung, dass alle Leute, die ihn sahen, mit dem Finger auf ihn deuteten und riefen: »Da ist der Mörder des Mädchens!« Was konnte er Besseres tun, als sich in seiner Wohnung zu verkriechen.

Es tat ihm so unendlich leid, was mit Jandira Sousa geschehen war, was sie ihr angetan hatten, aus einer üblen Laune, aus Frust heraus. Einfach so.

Bassmann überlegte, ob er Kontakt mit der Familie des Mädchens aufnehmen sollte, doch diese Idee ließ er schnell wieder los. Er wusste noch nicht einmal, ob das Opfer Familie in Deutschland hatte. Was hätte er der Mutter, dem Bruder schon sagen sollen? Wollte er um Verzeihung bitten für das Geschehene? Kevin stieß einen Laut aus, der an ein Lachen erinnerte.

Sein Kopf begann zu schmerzen. Er ging, wie auch schon am Vortag, früh zu Bett.

Nicht weil er müde war, sondern weil er Rettung vor seinen Grübeleien suchte.

Das Grauen schleicht durch München: Phenomena 6

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